Der "Islamische Staat" und das Reich des Bösen

Jahresrückblick 2014. Martin Staudinger und Robert Treichler über ein unheiliges Experiment

Drucken

Schriftgröße

Es ist eine Provokation, wenn sich eine Terrorgruppe auf einmal „Staat“ nennt – erst recht, wenn sie vor den Augen der Weltöffentlichkeit tatsächlich einen Staat errichtet. Einen Staat, der dazu dient, nach innen und außen Angst und Schrecken zu verbreiten.

2014 war das Jahr, in dem diese Provokation Realität wurde.
Der „Islamische Staat“ wird gewöhnlich unter Anführungszeichen geschrieben, Redner benutzen die Formulierung „sogenannter ‚Islamischer Staat‘“, und viele Politiker weigern sich, das Wort „Staat“ im Zusammenhang mit der Mordbrigade, die von Ibrahim al-Badri, Kampfname: Abu Bakr al-Baghdadi, angeführt wird, überhaupt in den Mund zu nehmen. „Das ist eine Terrorgruppe und kein Staat“, urteilte etwa der französische Außenminister Laurent Fabius.

Ist es denn so schlimm, wenn Terroristen einen Staat gründen, der ohnehin keine Chance hat, anerkannt zu werden? Schlimmer als eine anders organisierte Zusammenrottung von Terroristen? Die simple Antwort lautet: ja.
Aus diesem Grund ist es von enormer Bedeutung, ob es dem „Islamischen Staat“ gelingen kann, den Islamischen Staat zu etablieren – oder ob er gar schon existiert.
Lange schien es, als sei die dschihadistisch-salafistische Gruppierung nur eine der vielen Terrorbanden, die irgendwo zwischen Nordafrika, der arabischen Halbinsel und dem Nahen Osten ihr Unwesen treiben. Inzwischen weiß man: Der „Islamische Staat“ ist die bedrohlichste Bande von allen. Sie stellt sogar die Al Kaida in den Schatten, und das verdankt sie ihrer völlig neuen Organisationsstruktur.

An der Spitze steht Abu Bakr al-Baghdadi, der sich seit der Ausrufung des Kalifats auch „Kalif Ibrahim“ nennt. Er wähnt sich in direkter Linie der Kalifen, die nach dem Tod des Propheten Mohammed als „Befehlshaber der Gläubigen“ regierten. Unter al-Baghdadi amtieren zwei Stellvertreter, von denen einer für Syrien und einer für den Irak zuständig ist. Im Regierungskabinett sitzen acht Männer, dazu kommt ein Militärrat mit rund einem Dutzend Mitgliedern.

Diese Institutionen sind nicht bloß Staffage, sondern durchaus hochkarätig besetzt. Unter den Amtsträgern finden sich ehemalige Spitzenvertreter der irakischen Streitkräfte und Geheimdienste. Unter den „Ministern“ sind die Verantwortlichkeiten für militärische, zivile, politische und finanzielle Aufgaben klar verteilt. All das sieht nicht wie die Spitze einer Terrororganisation aus, sondern durchaus wie eine Regierung.
Der IS hat auch so etwas wie ein Regierungsprogramm: die Erweiterung und Absicherung des Kalifatsgebiets; die wirtschaftliche Unabhängigkeit des IS; die Durchsetzung der fundamentalistischen Ideologie und die Steigerung der Legitimität des IS sowohl nach innen als auch nach außen.
Das Beunruhigende ist: In diesem Jahr hat der IS in allen Punkten erstaunliche Fortschritte gemacht. In der Vollversammlung der Vereinten Nationen sitzen Vertreter von Staaten, die weniger Autorität über ihr Territorium und ihre Bevölkerung haben als der „Islamische Staat“.
Der militärische Erfolg ist unübersehbar: Das Herrschaftsgebiet von al-Baghdadi und seinen Schergen erstreckt sich von der syrisch-türkischen Grenze den Euphrat entlang, über die irakische Grenze hinaus und weiter im Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris bis nahe an die irakische Hauptstadt Bagdad. Geschätzte Fläche: etwa jene von Belgien. Dazu gehören wichtige Städte wie Raqqa, Deir Essor, Falludscha und Mossul. Die Zahl der Kämpfer, die vom IS kommandiert werden, wird auf 31.000 bis 50.000 geschätzt. Diese Truppen verfügen über Panzer, Artilleriegeschütze, Raketenwerfer und sogar über einige tragbare Flugabwehrraketen. Im Nordirak überrollte der IS die staatliche irakische Armee, die offiziell immerhin 170.000 Mann zählt (wobei kürzlich bekannt wurde, dass rund 50.000 davon nur auf dem Papier existieren, damit korrupte Offiziere den Sold der „Geistersoldaten“ einstreichen können) und in den vergangenen Jahren von den USA trainiert und ausgerüstet wurde.

Spätestens seit die Gotteskrieger im Juni dieses Jahres die nordirakische Stadt Mossul in ihre Gewalt brachten und danach binnen drei Tagen auf dem Nord-Süd-Highway mehr als 300 Kilometer in Richtung Bagdad vorrückten, wissen die irakische Regierung, das Weiße Haus und die gesamte Weltöffentlichkeit, dass der IS über eine Armee verfügt, die man zu Recht als solche bezeichnen kann.

Übernimmt der IS eine Stadt, wird zunächst die Bevölkerung durch Aufmärsche bewaffneter Kämpfer eingeschüchtert. In eilig errichteten „Bußbüros“ können Soldaten kapitulieren und sich dem IS anschließen. Zugleich wird die neue Stadtordnung bekannt gemacht. Die Einhaltung der fünf Gebete am Tag ist ebenso Pflicht wie die Beachtung strenger Bekleidungsvorschriften. Drogen, Alkohol, Tabak, Glücksspiel und das gemeinsame Auftreten der Geschlechter sind verboten. Doch nicht überall werden die Gesetze gleich streng ausgelegt, der IS scheint sich lokalen Gegebenheiten ein wenig anzupassen: In Mossul etwa gelten weniger rigide Regeln als in Raqqa.

Abseits der Disziplin kümmern sich die IS-Leute aber auch darum, dass Straßen repariert werden, Busse fahren, die Post funktioniert, den Kranken Gesundheitseinrichtungen und den Armen Suppenküchen zur Verfügung stehen. Kinder bekommen in Schulen religiöse Erziehung und gratis Mahlzeiten – freilich streng nach Geschlechtern getrennt. Brotpreise und die Mieten werden reguliert.

Charles Lister, Fellow am Brookings Doha Center, kam in einem vor zwei Monaten veröffentlichten Bericht unter dem Titel „Profiling the Islamic State“ zu dem Schluss, dass große Teile der sunnitischen Bevölkerung die Herrschaft des IS aufgrund seiner Leistungen im Bereich von Sicherheit und Verwaltung „stillschweigend akzeptieren“.

Spätestens an dieser Stelle muss man als Beobachter fernab des Tatorts vorsichtig sein. Wie valide sind Informationen, die aus einer Region kommen, in der eine mörderische Bande Angst und Schrecken verbreitet und jeder mit dem Tod bedroht ist, der auch nur ein wenig von der salafistischen Doktrin abweicht? Für die Glaubhaftigkeit von Listers Darstellung spricht jedenfalls ein Umstand: Die Sunniten im Irak wurden bisher von schiitischen Milizen drangsaliert, und so liegt die Vermutung nahe, dass sie die Machtübernahme durch den sunnitischen „Islamischen Staat“ auch als Verbesserung ihrer Sicherheitslage sehen.

Militärische Stärke ist nur die Basis für die Macht, die der IS nach innen entfaltet. Da nämlich tun seine Gefolgsleute das, was üblicherweise ein Beamtenapparat erledigt – zum Beispiel Zölle einheben. An den Grenzen am Dreiländer-eck Jordanien-Syrien-Irak haben die IS-Leute Checkpoints errichtet. Ein Lastwagenfahrer berichtete gegenüber der amerikanischen News-Website „McClatchy“, wie die Zöllner des Pseudo-Staates agieren: Es gebe zwei Fahrspuren für Lastwagen, eine für Vieh- und Lebensmitteltransporte und eine für Elektronik- und Haushaltsgeräte. Der Fahrer bezahlt 300 US-Dollar pro Ladung Lebensmittel und 400 US-Dollar für Elektronik. Dafür bekommt er zwei Belege – einen für sein Unternehmen und einen gefälschten, der aussieht wie ein irakisches Zollpapier. Den gefälschten weist er ein paar hundert Meter beim Checkpoint der regulären irakischen Armee vor. Diese weiß natürlich von dem Schwindel, doch sie akzeptiert den Beleg.

So erfolgt, dank der normativen Kraft des Faktischen, eine Art Anerkennung auf niedrigstem Niveau. An einer Grenze, die verteidigt wird, beginnt nun mal ein Staat.
Die Einheben von Zöllen hat nicht nur symbolischen Wert. Es ist eine von mehreren Einnahmequellen, die den IS finanziell nahezu autark machen. Die weitaus einträglichste ist neben der Kriegsbeute der Handel mit Öl. Seit der IS Ölquellen und Raffinerien in Syrien und im Nord-irak unter seine Kontrolle gebracht hat, blüht der Schwarzmarkt. Laut einem Artikel des US-Magazins „Foreign Policy“ schätzen Experten den Profit daraus auf ein bis drei Millionen Dollar pro Tag. Mittelsmänner leiten den Rohstoff weiter nach Libanon, in die Türkei oder auch nach Kurdistan. Zusätzlich füllen systematische Erpressung, Lösegelder bei Geiselnahmen und ganz normale Besteuerung die Taschen der Terroristen.

Wer über so viel Geld verfügt, hat einen weit größeren Handlungsspielraum als etwa jene Terrororganisation, die bis vor wenigen Jahren als gefährlichste unter den Gottesarmeen galt: die Al Kaida. Die Männer von Osama bin Laden, die seit dessen Tod von Aiman az-Zawahiri befehligt werden, hielten sich im Grenzgebiet von Afghanistan und Pakistan versteckt und waren auf Geldspenden angewiesen. Die beste Terrorbekämpfung bestand darin, ihnen den Geldhahn abzudrehen und so den Aktionsradius zu minimieren. Der IS (so wie die Vorläuferorganisationen) verdient sein Geld zu – geschätzt – 95 Prozent selbst.

Auch deshalb hat der „Islamische Staat“ die Al Kaida als globale Dschihadistentruppe Nummer eins abgelöst. Dabei soll alles einst mit 200.000 US-Dollar aus der Kassa von Osama bin Ladens Terrororganisation begonnen haben.

Ein international unbekannter Islamist namens Fadl al-Nazal al-Khalayleh wurde im Jahr 1999 aus dem al-Sawwaqa-Gefängnis in Jordanien entlassen. Er war wegen illegalen Waffenbesitzes und der Mitgliedschaft bei einer verbotenen dschihadistischen Organisation zu 15 Jahren Haft verurteilt worden, kam aber nach fünf Jahren frei. Seine Wege führten ihn nach Afghanistan, wo er Jahre zuvor Osama bin Laden kennengelernt hatte. Unter dem Kampfnamen Abu Musab al-Zarkawi erhielt er Geld von der Al Kaida, um ein Trainingscamp für Terroristen zu gründen.

Zarkawi und seine Bande planten Anschläge in Jordanien, die jedoch verhindert werden konnten. Später flüchtete Zarkawi in den Iran, um bald danach im Nordirak aufzutauchen. Nach dem Einmarsch der USA im Irak im Jahr 2003 hatte der Jordanier zwei Feinde auserkoren, die er mit Selbstmordanschlägen bekämpfte: die US-Truppen und die Schiiten, die der sunnitische Terrorist beide gleichermaßen hasste.

Die Beziehungen zwischen Zarkawi und der Al Kaida waren zusehends angespannt. Der Jordanier bekannte sich zwar zu bin Laden und nannte seine Organisation „Al Kaida im Irak“, doch die wüsten Anschläge gegen die Schiiten waren den Bossen ein Dorn im Auge, weil sie um ihr Image unter den Muslimen fürchteten.

Zarkawi wurde 2006 von US-Truppen getötet, doch das erhoffte Ende der Al Kaida im Irak war lediglich der Beginn einer neuen Phase: Zarkawis Nachfolger Abu Ayub al-Masri rief erstmals einen „Islamischen Staat im Irak“ (ISI) aus. Doch wo immer der ISI Territorien eroberte, lehnten sich lokale Milizen gegen ihn auf und verhinderten so eine stabile Machtausübung.

Erst 2010 gelang es, mit einer neuen Strategie die Legitimität des angestrebten „Islamischen Staates“ zu verbessern. Der ISI präsentierte sich in streng religionstreuer Tradition mit einem Anführer, der von sich behauptete, islamischer Kleriker zu sein und einen Staat in der Nachfolge des historischen Kalifats anzustreben. Sein Name: Ibrahim al-Badri, genannt: Abu Bakr al-Baghdadi. Der heute 43-Jährige war unter US-Besatzung im Gefangenenlager Camp Bucca inhaftiert gewesen – gemeinsam mit anderen Islamisten und ehemaligen Kadern und Militärs des Regimes von Saddam Hussein. Die beiden Gruppen begannen dort zu kooperieren und machten das Gefängnis zu einer Art Brutstätte des heutigen „Islamischen Staats“ (IS).

Die Gefängnisse wurden zu einem wichtigen Personalreservoir der Organisation – durch Rekrutierung, aber auch durch spektakuläre Befreiungsaktionen, etwa in der berüchtigten Haftanstalt Abu Ghraib nahe Bagdad.

Der Bürgerkrieg in Syrien bot ab 2011 ein weiteres Betätigungsfeld. Die Bezeichnung der Organisation wechselte von „Islamischer Staat im Irak“ zu „Islamischer Staat im Irak und der Levante“ (auch übersetzt als „Islamischer Staat im Irak und Syrien“, ISIS). Schließlich, am 29. Juni dieses Jahres, rief al-Baghdadi den „Islamischen Staat“ aus und nennt sich seither „Kalif Ibrahim“.

Dass niemand seinen Staat anerkennt, dürfte al-Baghdadi kaum überrascht haben und auch wenig kümmern. Er weiß, dass er auf der Ebene der realen und auch der symbolischen Macht sehr viel erreicht hat – mehr, als ihm irgendjemand zugetraut hätte, als er vor vier Jahren sein Amt antrat. Der „Islamische Staat“ verfügt über ein Territorium, eine Bevölkerung, eine Armee, sehr viel Geld und nach eigenem Bekunden bald sogar über eine eigene Währung: Kupfer- und Goldmünzen, die es erlauben sollen, „der Gewaltherrschaft des Finanzsystems“ zu entgehen.

Die Frage, ob der „Islamische Staat“ ein Staat ist, kann derzeit nicht abschließend beantwortet werden, weil der IS sich im Krieg befindet und dank der US-Luftschläge militärisch unter Druck geraten ist. Faktum bleibt jedoch, dass die Herrschaft der Terrororganisation mehr und mehr staatliche Züge aufweist.

Die zweite große, mindestens ebenso umstrittene Frage lautet: Ist der „Islamische Staat“ überhaupt islamisch?

Nein, lautet die Antwort, die jeder vernünftige Politiker darauf gibt – und geben muss. Islamistische Extremisten praktizieren nicht den Islam, sie pervertieren ihn, sagt etwa US-Präsident Barack Obama.
Würde man den „Islamischen Staat“ als islamisch bezeichnen, bedeutete das, die Religion des Islam mit der Doktrin einer Terrorbande gleichzusetzen, was natürlich Unsinn wäre. Vor allem will niemand die 1,2 bis 1,5 Milliarden Muslime in aller Welt zu Komplizen des „Islamischen Staates“ erklären. Im Gegenteil: Sowohl westliche als auch islamische Regierungen setzen alles daran, um Muslimen klarzumachen, dass der „Islamische Staat“ absolut nichts mit ihrer Religion zu tun habe. Zu groß ist die Angst, moderate Gläubige könnten sich radikalisieren und den IS als legitime Macht erachten, die dem Islam eine Stimme in der Welt gibt.
Ein solches Tabu mag als politische Strategie gerechtfertigt sein, eine nüchterne Analyse der Frage ist dennoch vonnöten – zumal die öffentliche Meinung den Islam nicht gänzlich von jeder Schuld freispricht. Das US-Umfrageinstitut Pew Research Center hat erhoben, dass jeder zweite Amerikaner den Islam als Religion wahrnimmt, „die mehr als andere Religionen ihre Gläubigen zu Gewalt ermutigt“.

Barack Obama argumentiert, dass die Terrororganisation „Islamischer Staat“ gar nicht islamisch sein könne, weil „keine Religion das Töten Unschuldiger gestattet“. Doch was bedeutet der Begriff „unschuldig“, wenn in Saudi-Arabien auf Delikte wie Ehebruch, Apostasie (Abfall vom Islam) oder Hexerei die Todesstrafe steht? Niemand spricht den Saudis ab, Muslime zu sein, obwohl dort allein im August dieses Jahres mehr als 20 Exekutionen stattfanden. Die übliche Methode: Köpfen, und das manchmal öffentlich.

Die extrem strenge Auslegung der Scharia, des islamischen Rechts, ist nicht nur ein Relikt hinterwäldlerischer Steinzeit-Imame. Das Sultanat Brunei, das im Ranking des Human Development Index immerhin auf Rang 30 liegt – und damit etwa vor Polen und der Slowakei – , verschärfte sein Strafrecht erst dieses Jahr. Seither stehen auch Blasphemie oder Sodomie unter Todesstrafe. Anhänger nicht-islamischer Religionen dürfen ihren Glauben nicht verbreiten.

Die Schreckensherrschaft des „Islamischen Staates“ übertrifft an Brutalität und Unmenschlichkeit wohl alle anderen muslimischen Länder. Enthauptungen werden geradezu zelebriert und per Internet in alle Welt verbreitet. Schon eine westliche Staatsangehörigkeit oder die Zugehörigkeit zu einer missliebigen Religion bedeutet im Kalifat das Todesurteil. Doch wie groß ist der Unterschied zwischen Enthauptungen in Saudi-Arabien und im Herrschaftsgebiet des IS, der das eine als rechtmäßige Form islamischer Justiz und das andere als völlig unislamischen Terror qualifizieren würde?
Islam bedeutet für Hunderte Millionen gläubiger Muslime etwas ganz anderes als das, was im Kalifat des Jahres 2014 geschieht. Doch das ändert nichts daran, dass es in derselben Religion eine extrem fundamentalistische, dschihadistische Strömung gibt, die nicht zu vernachlässigen ist. Ihre Anhänger werden von einem unstillbaren Hass auf den dekadenten Westen, auf die religionslose oder anti-religiöse Aufklärung und auf die Moderne getrieben. Ihr Ziel ist – neben dem Sieg über die Ungläubigen – immer eine Rückkehr zu einer imaginierten Urform muslimischen Lebens, in dem alle Laster ausgemerzt sind und die Gesellschaft in jene idealisierte Zeit zurückgeführt werden soll, in welcher der Prophet Mohammed lebte.

Der „Islamische Staat“ ist in letzter Konsequenz darauf angewiesen, dass die Untertanen des Kalifen die Legitimität seiner Herrschaft anerkennen – und diese versucht Abu Bakr al-Baghdadi mittels des Islam zu konstruieren. Er selbst lässt verbreiten, er gehöre dem Stamm der Quraisch an, der zur Zeit Mohammeds über Mekka herrschte und dem es deshalb nach einer gängigen Interpretation auch wieder zufalle, ein neues Kalifat zu errichten. Als sich al-Baghdadi am 5. Juli dieses Jahres erstmals als „Kalif Ibrahim“ an die Öffentlichkeit wandte, sprach er vom Balkon einer Moschee in Mosul. Von der Rede gibt es einen Videomitschnitt, denn al-Baghdadis Adressat ist nicht eine Menge, die sich auf einem Platz versammelt hat, sondern die Gemeinschaft aller Muslime dieser Welt, von denen er sofortige Unterwerfung fordert.

Al-Baghdadi beansprucht eine höhere religiöse Autorität als Osama bin Laden oder Aiman al-Zawahiri. Er verfügt offenbar über ein abgeschlossenes Islam-Studium an der Islamischen Universität von Bagdad und dürfte danach als Imam in Samarra, einer Stadt nördlich von Bagdad, gewirkt haben. In den Augen mancher Muslime – im Irak und Syrien, aber auch außerhalb – ist al-Baghdadi kein Irrer, sondern jemand, dessen Anspruch eine gewisse Gültigkeit besitzt. 125 islamische Kleriker haben ihm dies jedoch in einem offenen Brief ausdrücklich abgesprochen.

Abgesehen davon wird sein „Islamischer Staat“ nicht nur von religiösen Fanatikern getragen, sondern auch von machtpolitisch erfahrenen Ex-Funktionären des sunnitisch dominierten Saddam-Regimes und mächtigen irakischen Stämmen. Sie verbindet vor allem der Hass auf die Schiiten, die nach dem Abzug der Amerikaner die Macht im Irak übernommen hatten – und auf die USA und den Rest der westlichen Welt.
Aber wie kann man die Monstrosität des IS als Teil eines erstrebenswerten Staates akzeptieren? Einerseits können sich Sunniten mit dem Terrorregime arrangieren. Gegenüber profil bezeichnete der Politikwissenschafter und Islam-Experte Thomas Schmidinger von der Universität Wien die Verhältnisse im Reich des IS als „perverse Form der Rechtsstaatlichkeit“. Die Islamisten wissen, dass sie nicht die Mehrheit gegen sich aufbringen dürfen, wenn sie an der Macht bleiben wollen, und agieren entsprechend strategisch: „Wer sunnitischer Muslim ist und sich dem Regime und seinen Regeln unterwirft, ist relativ sicher“, so Schmidinger.

Außerdem ist auch die extreme Gewalt des IS im Kontext des Religionskrieges zwischen Sunniten und Schiiten, zweier zum Teil damit zusammenhängender Bürgerkriege (Syrien, Irak) und eines Kampfes gegen eine eben erst mehr oder weniger beendete Besatzung (die US-Armee im Irak) zu sehen.

Schließlich versucht der IS zu suggerieren, er strebe nach einer absoluten, reinen Form des Islam, und rechtfertigt die an Ungläubigen und Gegnern verübten Gewalttaten als notwendige Maßnahme zum Schutz des Kalifats. Ein wenig erinnert das irrwitzige Sendungsbewusstsein an die Zeit der Schreckensherrschaft der Französischen Revolution, als Terror ausdrücklich gebilligt wurde, um konterrevolutionäre Gefahren auszuschließen und der Tugend zum Sieg zu verhelfen. „Das Laster muss bestraft werden, die Tugend muss durch den Schrecken herrschen“, sagt der Revolutionär Robespierre in Georg Büchners Drama „Dantons Tod“. Der Satz könnte auch von al-Baghdadi stammen.

Was man am Ende des Jahres 2014 über den „Islamischen Staat“ weiß, ist in der Tat beängstigend, weil es allem zuwiderläuft, was die Außenwelt gern über den neuen globalen Feind glauben möchte. Statt durch seine Brutalität an Stärke zu verlieren, verfestigt er sich immer mehr. Daran können vorerst auch die Luftschläge der internationalen Koalition nichts ändern, die sich vor allem gegen die Ölfelder des „Islamischen Staats“ und damit eine seiner wichtigsten Finanzierungsquellen richten.

Zwar wurde in den vergangenen Wochen immer wieder gemeldet, der IS sei geschwächt und habe zunehmend Probleme, sich mit Nachschub zu versorgen. Bedrängt wird er inzwischen nicht mehr nur vom Westen, sondern auch vom schiitischen Iran, der sich still und heimlich in die Allianz eingereiht hat.

Dennoch zeichnet sich noch längst kein entscheidender Durchbruch ab. Die Kämpfer des „Islamischen Staats“ reagieren flexibel, mit einer Änderung ihrer Taktik: Sie greifen nicht mehr, wie zu Beginn, wie reguläre Armeen an – etwa mit Konvois aus gepanzerten Fahrzeugen, die zwar furchteinflößend, aber auch leicht verwundbar sind. Um sich vor Angriffen durch Drohnen oder Kampfjets zu schützen, bewegen sich die Milizionäre von al-Baghdadi mittlerweile vor allem in kleinen Gruppen auf Motorrädern fort.

Und: Von einer Rückeroberung der Großstädte in Syrien und im Irak, die unter der Fuchtel des IS stehen, ist bis dato überhaupt keine Rede.
Die Welt muss also möglicherweise davon ausgehen, dass sich im Nahen Osten tatsächlich ein ultraradikaler „Islamischer Staat“ verfestigt – möglicherweise nicht anerkannt, aber angesichts der normativen Kraft des Faktischen zumindest geduldet: mit Grenzübergängen, über denen die schwarze Fahne des IS weht, und an denen Dschihadisten Pässe abstempeln; mit eigenen Behörden, Institutionen, einer Gerichtsbarkeit, einer Regierung und allem, was sonst dazugehört.

Der „Islamische Staat“ hat 2014 geschafft, was der Al Kaida nie gelungen ist: sich einen Platz auf der Landkarte zu erobern. Die Provokation ist tatsächlich Realität geworden.

Robert   Treichler

Robert Treichler

Ressortleitung Ausland, stellvertretender Chefredakteur