Sebastian Kurz (l.) setzte sich an die Spitze der Türkei-Skeptiker innerhalb der EU.

Beziehung Österreich-Türkei: Immer wieder 1683

Österreich spielt sich als Wortführer der Anti-Türkei-Hardliner innerhalb der EU auf, die Regierung in Ankara giftet zurück. Der Konflikt ist auch auf uralte Reflexe zurückzuführen.

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Erst lautstarker Streit, jetzt beleidigte Stille: Nachdem Bundeskanzler Christian Kern vor rund einer Woche den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei gefordert und die Regierung in Ankara mit teils wüsten persönlichen Beleidigungen geantwortet hatte, ist das Verhältnis zwischen den beiden Ländern so schlecht wie lange nicht.

Das wieder hinzubiegen, wird nicht einfach. Die EU-Vollmitgliedschaft der Türkei mag derzeit tatsächlich wie eine mühsam aufrechterhaltene "diplomatische Fiktion" (Kern) wirken - den Zweck, beiden Seiten eine gewisse Manövrierfähigkeit zu erlauben, erfüllt sie trotzdem, nicht zuletzt im Hinblick auf das wackelige Flüchtlingsabkommen.

Die rhetorische Radikalität des österreichischen Vorstoßes mag für viele EU-Kollegen überraschend gewesen sein. Sie dürfte aber nicht nur auf unkontrollierten Ärger und innenpolitisches Kalkül zurückzuführen sein, sondern auch auf uralte Reflexe. Eine historische Tiefenbohrung in die komplizierte gemeinsame Vergangenheit zweier Antagonisten, die viel verbindet, aber auch ebenso viel trennt.

"Verpiss dich, Ungläubiger!"

Burhan Kuzu, Chefberater des türkischen Präsidenten, 7.8.2016

Wenn es einen Zeitpunkt gibt, um den Beginn des aktuellen Zerwürfnisses festzumachen, ist es wohl die Nacht vom 15. auf den 16. Juli. Ein paar Fraktionen im türkischen Militär wollen putschen, Präsident Recep Tayyip Erdogan wehrt sich erfolgreich und ruft seine Anhänger in ganz Europa zu Demonstrationen für die Demokratie auf. In Wien gehen Tausende türkischstämmige Menschen auf die Straße, skandieren "Gott ist groß" und demolieren den Gastgarten eines kurdischen Lokals. Die Angst, die FPÖ könnte die Vorfälle im Präsidentschaftswahlkampf für sich nutzen, spielt in der Folge eine wohl nicht unbeträchtliche Rolle. Jedenfalls liefern sich SPÖ-Kanzler Kern und ÖVP-Außenminister Sebastian Kurz einen Wettlauf um die Themenführerschaft.

1. August: Kern berichtet gegenüber "Österreich" von Morddrohungen durch Türken: "Es muss Schluss mit Appeasement sein." Kurz warnt in der APA, die EU dürfe sich in der Flüchtlingsfrage nicht in Abhängigkeit der Türkei begeben.

3. August: Kurz fordert gegenüber der Online-Ausgabe des "Spiegel" einen "Plan B" in der Flüchtlingsfrage.

4. August: Kern spricht sich gegenüber der "Presse" und der "ZIB 2" für einen Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen aus.

5. August: Kurz erklärt in der "ZIB 2":"Der Flüchtlingsdeal wird nicht halten."

Die Reaktionen der Türkei fallen scharf aus. Am 5. August bezeichnet Außenminister Mevlüt Cavusoglu Österreich als "Zentrum des radikalen Rassismus", am 7. August twittert Erdogans Chefberater Burhan Kuzu an die Adresse von Kanzler Kern: "Verpiss dich, Ungläubiger!" So hart sind die Türkei und Österreich seit Jahrzehnten nicht aneinandergeraten.

"Wir wollen einen Islam ohne Bevormundung aus dem Ausland"

Sebastian Kurz, österreichischer Außenminister, 1.3.2015

Eine graduelle Verschlechterung der Beziehungen hatte sich bereits seit Längerem abgezeichnet. In der Nacht des 23. April 2015 demonstrierten mehr als 4000 Menschen auf dem Wiener Ballhausplatz. Es war nicht das erste Mal, dass Menschen mit türkischen Wurzeln in Wien auf die Straße gingen, trotzdem markierte die Kundgebung eine kleine Zäsur. Bislang hatten die Gastarbeiter und ihre Nachkommen protestiert, wenn es um Weltpolitisches ging: die Kurdenfrage, den Nahen Osten, die türkische Innenpolitik. Nun richtete sich ihr Zorn gegen Österreich. Grund: der gemeinsame Beschluss aller Parlamentsparteien, die türkischen Massaker gegen die Armenier in den Jahren 1915/16 als Völkermord zu qualifizieren.

Aus Sicht der Türkei war das nicht der einzige österreichische Affront. Kurz zuvor hatte die Regierung in Wien das mehr als 100 Jahre alte Islamgesetz reformiert. Die Novelle zielte darauf ab, die einflussreiche türkische Religionsbehörde Diyanet aus den vielen österreichischen Moscheenvereinen hinauszudrängen. Jahrelang hatten österreichische Regierungen erlaubt, dass türkische Imame von Ankara bestellt und bezahlt wurden.

"Es ist wichtig, dass das österreichische Volk das Sagen hat"

Wolfgang Schüssel, österreichischer Bundeskanzler, 17.12.2004

Im Jahrzehnt davor konzentrierten sich diplomatische Spannungen auf eine Frage: Darf die Türkei zur EU? In den 1990er-Jahren hatte sich die ÖVP recht aufgeschlossen gezeigt, die SPÖ war auch dafür, und sogar der damalige FPÖ-Chef Jörg Haider konnte sich vorstellen, das Land irgendwann aufzunehmen.

Als die EU 2004 formelle Verhandlungen mit der Türkei aufnahm, vollzog Wolfgang Schüssel als Chef der ÖVP/BZÖ-Koalition einen Schwenk - Zustimmung zum allfälligen Beitritt nur nach Volksabstimmung: "Es ist wichtig, dass am Ende dieses Prozesses das österreichische Volk das Sagen haben wird, nicht nur das Parlament."

Ein Prozedere, das Schüssel weder bei der Erweiterungsrunde davor noch für die späteren Beitritte Rumäniens, Bulgariens oder Kroatiens angedacht hatte. In der Folge positionierte sich Österreich als Mitglied der türkeiskeptischen Fraktion innerhalb der EU, zu der auch Deutschland und Frankreich zählen. Den Wirtschaftsbeziehungen tat all das keinen Abbruch: Im vergangenen Jahr war das Land der viertgrößte Handelspartner Österreichs außerhalb der EU (nach den USA, China und Russland); das Handelsvolumen betrug rund 2,8 Milliarden Euro.

Innenpolitisch ließ sich mit der Angst vor einem Türkei-Beitritt aber Kleingeld machen: So schwenkten im Jahr 2008 auch der damalige SPÖ-Bundeskanzler Alfred Gusenbauer und sein Nachfolger Werner Faymann in ihrem berühmten Brief an "Krone"-Herausgeber Hans Dichand auf den Schüssel-Kurs und versprachen eine Volksabstimmung über einen allfälligen EU-Beitritt der Türkei.

Währenddessen mussten die Türken in Österreich immer wieder als Beispiel für vermeintliche Integrationsunfähigkeit herhalten: Schlechte Zahlen auf dem Arbeitsmarkt und alarmierende Ergebnisse bei Bildungsuntersuchungen wurden vor allem von der FPÖ politisch ausgenutzt.

"Wien bevorzugt Türken"

Schlagzeile der Tageszeitung "Die Presse", 15.3.1963

Das Image der Türken bei den Österreichern hängt stark mit der Erinnerung an die Gastarbeiter der 1960er-Jahre zusammen: Zwischen 1961 und 1974 wurden laut der Studie "Zuwanderung nach Österreich" (2008) insgesamt rund 265.000 türkische Bürger nach Österreich geholt, um offene Jobs vor allem im Billiglohnsektor zu besetzen. "Wien bevorzugt Türken", titelte die "Presse" damals fast enthusiastisch. 1973 waren fast neun Prozent der aktiven Arbeitskräfte türkisch. Aufgrund der durch den Ölschock ausgelösten Wirtschaftskrise kehrten etliche zurück, viele blieben aber, wurden eingebürgert und bekamen Kinder.

Gängigen Vorurteilen zum Trotz stammte nur ein Prozent von ihnen aus den unterentwickelten Provinzen im Südosten der Türkei. Die meisten kamen vielmehr aus relativ fortgeschrittenen Landesteilen und den großen Städten.

Heute haben rund 400.000 Menschen in Österreich türkische Wurzeln, mindestens 114.740 von ihnen auch die türkische Staatsbürgerschaft. 69,3 Prozent gaben in einer Umfrage 2010 an, sich nach wie vor "dem Staat, aus dem ich stamme bzw. aus dem meine Eltern stammen" zugehörig zu fühlen - nicht aber Österreich.

"Wie die Kreuzfahrer von dem gleichen Glauben durchdrungen... "

Engelbert Dollfuß, österreichischer Bundeskanzler, 11.9.1933

Anti-türkische Ressentiments wurden in der Vergangenheit immer wieder instrumentalisiert, unter anderem von den Austrofaschisten. 1933 benutzte das autoritäre Dollfuß-Regime den Allgemeinen Deutschen Katholikentag, um den Schulterschluss mit der katholischen Kirche zu zelebrieren - unter wiederholten Verweisen auf die Türkenbelagerung von 1683. Der 250. Jahrestag des Sieges über das Osmanische Reich wurde unter anderem mit Ausstellungen und einer staatlichen Türkenbefreiungsfeier begangen. "Wir alle gehen auch heute mit dem Glauben von hier weg, einen höheren Auftrag zu erfüllen. Wie die Kreuzfahrer von dem gleichen Glauben durchdrungen... ", erklärte Kanzler Engelbert Dollfuß damals in einer Rede. Dabei war der Austausch zwischen Österreich und der Türkei gerade in jener Zeit besonders fruchtbar.

"Es gibt verschiedene Kulturen, aber nur eine Zivilisation, die europäische."

Mustafa Kemal Atatürk, türkischer Staatsgründer, Anfang des 20. Jahrhunderts

Als die F-16-Kampfflieger in der Putschnacht 2016 das Parlament in Ankara anvisierten, schossen sie auch auf österreichisch-türkische Architekturgeschichte. Der Tiroler Clemens Holzmeister hatte den Bau in den 1930er-Jahren entworfen - wie auch das Kriegsministerium, das Innenministerium oder den Obersten Gerichtshof. Der türkische Staat war jung und bediente sich eines Künstlers des ebenfalls jungen Österreichs, um seine demokratischen Institutionen in Form zu bringen.

Eine Nähe, die damals durchaus logisch erschien: Die Erzfeinde Habsburger-Monarchie und das Osmanische Reich hatten im Ersten Weltkrieg auf derselben Seite gestanden. Mit Schiff und Bahn waren immer mehr Österreicher im Jahrhundert zuvor durch Anatolien gereist. Ihre Angst vor dem gewalttätigen Osmanen wich dem in Europa weit verbreiteten Stereotyp vom rückständigen, aber grundsätzlich harmlosen Volk.

Als der letzte Sultan den Dschihad gegen Großbritannien und Frankreich ausrief, jubelten die Österreicher sogar - die Worte "Islamist" oder "Terrorist" standen damals noch nicht in der Zeitung und wären der habsburgischen Propaganda-Presse wohl auch kaum eingefallen.

"Auf die Türken, auf die Heiden, daß sie laufen all' davon!"

Aus der Urversion des Liedes "Prinz Eugen, der edle Ritter", 1719

Vor dieser Zeit lag eine jahrhundertealte Feindschaft. 1908 knöpfte das Habsburgerreich den Türken Bosnien ab, im 16. und 17. Jahrhundert waren osmanische Heere zwei Mal an der Eroberung Wiens gescheitert.

Aus türkischer Sicht begann mit der zweiten Niederlage im Jahr 1683 und dem darauffolgenden Einfall der christlichen Heere unter Prinz Eugen in Südost-Europa der Niedergang des Osmanischen Reiches, das heute vor allem in konservativ-islamischen Kreisen um Erdogan für Macht, Frieden und Zivilisation steht.

1683 markiert für die Türkei und Österreich somit eine Art Ur-Trauma, von dem sich beide Länder bis heute nicht ganz lösen können - mehr noch: das mittlerweile wieder stärker hervortritt, auch im aktuellen Konflikt.

"Wennst dem Mustafa ane aufbrennst, kriagst a Hasse spendiert!"

Comic der FPÖ-Wien über die Türkenbelagerung, im Gemeinderats-Wahlkampf 2010

Bis heute ist die Türkenbelagerung fest im Volksgedächtnis verankert. Immer wieder wurden und werden scheinbare Bedrohungen mit der damaligen Situation verglichen. Im 19. Jahrhundert etwa fanden die katholischen Eliten darin die Entsprechung zum Aufkommen des Liberalismus, die FPÖ zog in mehreren Wiener Wahlkämpfen mit Comics Parallelen zum Jahr 1683. "Wennst dem Mustafa ane aufbrennst, kriagst a Hasse spendiert", hieß es in einem davon.

Allen österreichischen Parteien ist bewusst, welche Wirkungsmacht die damit verbundenen Reflexe haben -deshalb der Versuch von SPÖ und ÖVP, das Thema von der FPÖ zu kapern und sich vor der Neuaustragung der Präsidentschaftswahl als die besseren Türkenskeptiker zu gerieren. Aber auch andere Tiefenströmungen spielen eine nicht unbeträchtliche Rolle. Österreich, außenpolitisch in den vergangenen Jahrzehnten von der ÖVP und ehemaligen Adelsfamilien dominiert, verortet seinen Hinterhof immer noch in den ehemaligen Kronländern der Habsburgermonarchie.

Gleichzeitig sieht sich die Türkei unter Erdogan zunehmend als Schutzherr ehemals unter osmanischer Verwaltung stehender Regionen, auch auf dem Balkan. Dort treffen dabei also wieder die Interessen zweier Nationalstaaten aufeinander, die sich einst als Imperien gegenüberstanden und ihre komplizierte gemeinsame Vergangenheit gerade leidvoll neu entdecken.