Das Flüchtlingscamp Azraq in Jordanien.

Jordanien: Heute Amman, übermorgen Westbahnhof

Jordanien hat 6,5 Millionen Einwohner. Jeder Zehnte davon ist Flüchtling. Täglich kommen im Durchschnitt 54 weitere Syrer hinzu. Geht es nach der EU, sollen sie auch dort bleiben. Doch noch nie haben so viele Flüchtlinge Jordanien verlassen wie im Augenblick.

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Weil die Not im Königreich immer größer wird, ziehen sie weiter, in der Hoffnung, irgendwann in Europa zu landen, vielleicht sogar in Österreich. Drei Begegnungen mit Menschen, die gehen wollen, die darüber nachdenken - oder die bleiben.

Übers Meer gehen

So wie Rafa, Ramda und Mohammed es formulieren, klingt er fast schön, dieser Albtraum: "Übers Meer gehen", womit sie eigentlich meinen, sich vom türkischen Festland aus auf die griechischen Inseln aufzumachen. Vier Millionen Menschen haben Syrien nach über vier Jahren Krieg bereits verlassen. 710.000 Menschen sind nach Angaben der europäischen Grenzschutzagentur Frontex allein in den ersten neun Monaten dieses Jahres nach Europa gekommen. 3100 von ihnen haben die Überfahrt in den zumeist übervollen, seeuntauglichen Booten laut Schätzungen der Internationalen Organisation für Migration (IOM) nicht überlebt.

Aber ebenso kennen sie die Aufnahmen, auf denen Menschen zu sehen sind, die syrische Ankömmlinge am Münchner Bahnhof begrüßen, klatschend und Suppe verteilend.

Rafa, Ramda und Mohammed wissen das alles. Sie kennen die Zahlen, und sie kennen die Bilder der an die Küsten gespülten leblosen Körper, der Polizeieinsätze an Ungarns Grenze und der in den serbischen Wäldern schlafenden Menschen. Aber ebenso kennen sie die Aufnahmen, auf denen Menschen zu sehen sind, die syrische Ankömmlinge am Münchner Bahnhof begrüßen, klatschend und Suppe verteilend. Oder die Bilder vom Lichtermeer in Wien, das jene, die nach Österreich gereist waren, und andere, die es noch vorhatten, willkommen heißen sollte. "Very nice", lächelt Rafa und hebt den Daumen.

Rafa ist Anfang 20, sie trägt grünen Eyeliner und ein gelbes Kopftuch, darauf eine modische Sonnenbrille. Sie stammt aus der syrischen Stadt Homs. Mohammed, dichter Bart und kariertes Hemd, ist 22 Jahre alt, er stammt aus Damaskus, ebenso wie Ramda, die eine leise Stimme hat und ein ansteckendes Lachen. Sie alle leben nun schon seit über eineinhalb Jahren in der jordanischen Hauptstadt Amman.

Arbeit finden sie keine, also vertreiben sie sich die Freizeit, indem sie in einem der Zentren der Hilfsorganisation Care mithelfen. Hier stellen sich andere Flüchtlinge an, wenn sie Hilfe brauchen. Sie warten geduldig unter der Plane im Hof, die Schatten spendet, oder im gekühlten Wartezimmer, wo ihnen auf einem Flachbildschirm ein Film in Dauerschleife erklärt, welche Dokumente sie wofür vorweisen müssen, aber auch, wie ihnen hier geholfen wird: beim Zahlen der Miete etwa oder wenn der Winter kommt. Hier lernen Kinder Arabisch und Englisch; Frauen wird erklärt, wie sie mit dem wenigen Geld, das ihnen zur Verfügung steht, umgehen sollten. Und manche erhalten Pakete für den Start in ein anderes Leben: eine Kiste mit Föhn, Haarschere und Rasierer für alle jene etwa, die in ihrem früheren Leben in Syrien einmal Friseur waren.

Allein in Jordanien leben mehr Flüchtlinge, als sich bisher in diesem Jahr über das Mittelmeer nach Europa aufgemacht haben.

Ramda ist geflohen, nachdem ihr Mann entführt worden war; Rafa, nachdem Bewaffnete den Bruder gekidnappt haben. Ramdas Mann ist bis heute verschwunden, Rafas Bruder wurde freigekauft und lebt seit zwei Monaten in Deutschland, Rafa möchte ihm bald dorthin folgen. Mohammed hat Damaskus verlassen, als der Einrückungsbefehl kam. Weil Bashar al-Assads Armee überall in der Defensive ist, ihr aber die Rekruten ausgehen, zieht sie immer mehr zusätzliche Wehrpflichtige ein. Mohammed hat in Syrien Wirtschaft studiert, er gehörte zu den Besten seines Jahrgangs. Auf die eigenen Landsleute schießen wollte er um keinen Preis. Mohammed hat eine Reihe von europäischen Botschaften abgeklappert, er hat sich bei den Vereinten Nationen für ein Resettlement-Programm registrieren lassen und um eine Arbeitserlaubnis bei den jordanischen Behörden angesucht. Alles erfolglos. "Welche Chancen haben wir denn hier?", fragt er.

Jordanien blickt auf eine lange Tradition der Unterstützung von Flüchtlingen zurück. Seit Jahrzehnten leben Palästinenser im Land, Iraker flohen vor den Invasionen hierher, eine halbe Million Syrer lebte bereits hier, bevor der Krieg in Syrien begann. Und nun zählt das Land, das etwa so groß ist wie Österreich, zusätzlich noch fast eine weitere Dreiviertelmillion mehr Vertriebene, vor allem aus Syrien und dem Irak. Insgesamt machen die Flüchtlinge nun ein Zehntel der Bevölkerung aus. Das sind fast zehn Mal so viele, wie in Österreich für das gesamte Jahr 2015 erwartet werden. Allein in Jordanien leben mehr Flüchtlinge, als sich bisher in diesem Jahr über das Mittelmeer nach Europa aufgemacht haben.

Jordanien ist alles andere als ein reiches Land und hatte bereits vor dem Konflikt im Nachbarland mit einer hohen Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Der Staat selbst könnte nicht einmal die Grundversorgung der Flüchtlinge sicherstellen, das übernehmen die Vereinten Nationen und die Hilfsorganisationen vor Ort. Ohne deren Hilfe hätten die meisten hier noch nicht einmal etwas zu essen.

Es ist ein Fehler, zu glauben, dass die mangelnde finanzielle Unterstützung der einzige Faktor ist, der die Flüchtlinge zur Auswanderung treibt.

Über 80 Prozent der Flüchtlinge leben in Städten und Gemeinden, vor allem im Norden. Dort treiben sie die Mieten und Lebensmittelpreise in die Höhe, die Konkurrenz um die ohnehin wenigen Jobs verschärft die Spannungen, denn in ihrer Not unterbieten die Neuankömmlinge jeden Niedriglohn. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass nur ein Zehntel der in Jordanien lebenden Syrer regulär einer Arbeit nachgeht. Offiziell dürfen sie hier schon arbeiten, nur kostet der Antrag dafür Geld, was aber noch nicht einmal das Hauptproblem ist: Die Behörden sind zusehends dazu übergegangen, keine Arbeitserlaubnis mehr auszustellen. Sie bearbeiten die Anträge schlichtweg nicht mehr.

"Dass immer mehr Menschen darüber nachdenken, zu gehen, reflektiert die wachsende Hoffnungslosigkeit vieler", sagt Matteo Paoltroni, Projekt-Verantwortlicher der EU-Agentur für humanitäre Hilfe (ECHO) in Jordanien. Dass sich der Westen nun so überrascht gibt angesichts der Flüchtlingszüge, die sich derzeit durch Europa bewegen, liegt auch daran, dass er einen wesentlichen Faktor vollkommen ausgeblendet hat: Warum sollte jemand aus Dankbarkeit, am Leben zu sein, keine Zukunftspläne mehr haben?

"Es ist ein Fehler, zu glauben, dass die mangelnde finanzielle Unterstützung der einzige Faktor ist, der die Flüchtlinge zur Auswanderung treibt", sagt Paoltroni. "Ebenso ausschlaggebend sind der versperrte Zugang zum Arbeitsmarkt, die düstere Zukunft für sie und ihre Kinder, für ein Leben in Würde."

Rafa, Ramdas Sohn und Mohammed bleibt nur der Weg, den Hunderttausende vor ihnen eingeschlagen haben: über die Türkei, die Balkanroute entlang bis nach Österreich, Deutschland, Schweden, in die Niederlande. "Wenn es nicht anders geht", sagt Mohammed, "dann gehen wir eben übers Meer."

Im fünften Jahr des Bürgerkrieges in Syrien hat Jordanien exakt 629.034 syrische Flüchtlinge aufgenommen, dazu kamen noch 50.856 Iraker. Eine Viertelmillion Tote hat der Krieg in Syrien bereits gekostet. 7,6 Millionen Menschen suchen im Land selbst Schutz, der Großteil aber macht sich in die Nachbarstaaten auf: in den Libanon, in die Türkei, nach Ägypten - und nach Jordanien. Bisher sind die wenigsten in den Westen aufgebrochen, doch nun ziehen immer mehr weiter.

Das liegt nicht nur daran, dass der Krieg in Syrien immer blutiger und komplizierter wird, sondern auch daran, dass sich das Leben in den Ländern rundherum immer schwieriger gestaltet. Geld, Essen, Wasser, Medizin - all das wird immer knapper. Die Not wächst so schnell, dass Hilfsorganisationen nicht mit der Versorgung nachkommen.

Da sich allmählich die Einsicht breitmacht, dass den Flüchtlingen bereits in Ländern wie Jordanien geholfen werden muss, verständigten sich die EU-Staatsund Regierungschefs auf die Aufstockung der Gelder für die Flüchtlingsversorgung im Nahen Osten. Deshalb sucht Europa, nach Jahren der Entfremdung, derzeit auch wieder die Nähe zur Türkei. Ankara spielt eine zentrale Rolle in den Bemühungen Europas, die hohen Zuwandererzahlen zu reduzieren. Denn die Türkei ist das Auffangbecken für alle, die sich aus Syrien und dem Irak, aus der Türkei selbst, aus dem Libanon und eben aus Jordanien auf den Weg nach Europa machen.

In der Wüste warten

Von der Ferne aus betrachtet sieht das Flüchtlingscamp aus wie eine Ansammlung von Gewächshäusern: reihenweise kleine, weiße Häuser mit spitzen Dächern, die inmitten der Wüste in der Sonne gleißen. Von Amman bis in das Camp Azraq sind es rund 100 Kilometer, die Grenze zu Saudi-Arabien liegt 75 Kilometer entfernt, jene zu Syrien 90. Auf dem Weg dorthin graben Bagger Löcher in den Boden, Panzer der jordanischen Armee halten Militärübungen ab, Männer mit grellen Warnwesten asphaltieren die Straße.

Azraq ist das größte Flüchtlingslager in der Region, aber je näher man ihm kommt, desto mehr wirkt es wie eine Geisterstadt. Das liegt daran, dass es zwar riesig, aber nur teilweise belegt ist, und daran, dass das Camp selbst an vielen Stellen so wirkt, als wäre nie jemand eingezogen.

Weniger als 20 Prozent der Flüchtlinge in Jordanien leben in Flüchtlingslagern. Seit das Azraq-Camp im April 2014 eröffnet wurde, landet hier automatisch jeder, der die Grenze passiert; viele aber ziehen weiter. Gebaut wurde es für 51.000 Menschen, im Notfall ist es für die Beherbergung von über 130.000 gerüstet.

Mit Stand 4. Oktober 2015 bestand die größte Familie aus 13 Mitgliedern, der jüngste Bewohner des Camps war sieben Tage alt, der älteste 97 Jahre.

Knapp 25.000 Bewohner zählt Azraq derzeit, sie leben in sogenannten Dörfern, die wiederum in "Blocks" aufgeteilt sind, die wiederum aus Straßen bestehen, an die sich Wellblechhütte an Wellblechhütte reiht.

Es gibt hier: ein Krankenhaus, einen Rettungswagen, zwei Kleinbusse mit Platz für jeweils 13 Passagiere, einen Supermarkt, eine Moschee, zwei Gemeindezentren mit Tablets und Smartphones, zwei Schulen, ein paar Spiel- und Sportplätze, asphaltierte Straßen, männliche und weibliche Polizisten, je eine Klinik für jedes "Dorf", Solarleuchten, einen in Bau befindlichen Friedhof.

Das Unhcr betreibt das Camp zusammen mit den jordanischen Behörden, die penibel Protokoll über alles führen: wer hineinkommt, wer das Lager verlässt; die Anzahl der verteilten Brote; Ohrentzündungen; der Chlorgehalt im Wasser; die hier befindlichen Nähmaschinen. Mit Stand 4. Oktober 2015 bestand die größte Familie aus 13 Mitgliedern, der jüngste Bewohner des Camps war sieben Tage alt, der älteste 97 Jahre.

Sie prügelten sich um Sitze, weil ihnen die Hölle des Krieges in der syrischen Heimat lieber war als jene im Camp.

Die Angst der jordanischen Behörden, dass sich hier ähnliche Zustände wie in Zaatari ergeben, dem berüchtigsten Flüchtlingslager des Landes muss riesig gewesen sein. Zaatari wurde im Juli 2012 in weniger als zehn Tagen aus dem Boden gestampft, 5000 Zelte wurden allein in der ersten Nacht aufgestellt. Binnen kürzester Zeit wuchs das Camp zur viertgrößten Stadt Jordaniens an, in der es alles gab: Banden, Gewalt, Waffenschmuggel, Menschenhandel, Kinderhochzeiten. Irgendwann wurde die Lage so dramatisch, dass täglich drei Busse in Zaatari anhielten, die die Flüchtlinge zurück nach Syrien brachten. Sie prügelten sich um Sitze, weil ihnen die Hölle des Krieges in der syrischen Heimat lieber war als jene im Camp.

Inzwischen ist es besser in Zaatari, die Anzahl der Bewohner geht zurück, manche werden nach Azraq gebracht. Die Zelte wurden durch Container ausgetauscht, die Menschen verfügen frei über das Geld, das sie dort verdienen. Sie haben einen Markt aufgebaut, den sie "Champs-Elysées" nennen, es gibt eine Pizzeria und Cafés. Sie leben ein Leben, in dem sie zumindest selbst Entscheidungen treffen können, und das bei allem, was so entsetzlich schiefläuft, auch tatsächlich als solches bezeichnet werden kann.

In Azraq hält ein Mal pro Woche ein Bus, der meist um die 100 Menschen zurück nach Syrien fährt. Anzahl der bisher registrierten gewaltsamen Vorfälle: null. Dafür warten die Menschen hier noch immer darauf, dass sie auch in den Unterkünften Strom beziehen können und dass die Behörden endlich grünes Licht für die Marktstände erteilen, damit die Menschen hier endlich ihr eigenes Geld verdienen können.

Azraq ist auch der Versuch der Regierung, den Druck von den urbanen Zentren zu nehmen und auf das neue Camp zu konzentrieren.

Als Fairuz mit ihren Kindern in Azraq eintraf, brach sie erst einmal in Tränen aus. Sie kommt aus der syrischen Stadt Dar'a, wie der Großteil der Menschen hier; von ihrem Mann hat sie nichts mehr gehört, seit er vor einem Jahr festgenommen wurde. "Ich war geschockt, die Zukunft meiner Kinder habe ich mir so nicht vorgestellt." Also wartet Fairuz, darauf, dass der Strom endlich kommt, dass sie das Gemüse irgendwann einmal billiger beim Bauern statt im Supermarkt erwerben kann und dass sie und ihre Kinder über ein Resettlement-Programm auf sicherem Weg nach Europa dürfen.

"Azraq ist auch der Versuch der Regierung, den Druck von den urbanen Zentren zu nehmen und auf das neue Camp zu konzentrieren", sagt Marten Mylius, leitender Projektmanager für Care in Jordanien. Zwar begrüße er es sehr, dass man sich bei der Errichtung des Camps mehr Gedanken gemacht hat. "Dass man etwa daran gedacht hat, Toiletten und Waschräume in unmittelbare Nähe der Unterkünfte zu bauen, um vor allem Frauen und Mädchen eine sichere Umgebung zu bieten", sagt Mylius. "Aber warum sollte all das heißen, dass Flüchtlinge deshalb automatisch gerne abgeschieden in der Wüste leben wollen?" Mylius ist 39 Jahre, er wurde in der Nähe von Leipzig geboren, damals noch DDR. Die Wahlmöglichkeiten hier seien ähnlich begrenzt wie damals in der DDR, sagt er.

Wer Azraq verlässt, gibt viel auf. Bei Freunden oder Verwandten anderswo in Jordanien unterkommen dürfen sie seit Jänner nicht mehr. Hier in der Wüste funktioniert die Versorgung besser, und der Alltag außerhalb der Camps wird immer härter. Vor einem Jahr hat die jordanische Regierung die kostenlose Grundversorgung für Flüchtlinge eingestellt. Vor dem Sommer setzte das UN-Welternährungsprogramm die Lebensmittelunterstützung für Hunderttausende aus. Ab November, kündigte das WFP an, muss selbst bei den Allerärmsten gespart werden, wenn die internationale Gemeinschaft die Spenden nicht aufstockt.

Getroffen wurden sie beide nicht, gesehen aber haben die Geschwister einander nie wieder.

"Die Reise nach Europa ist ein Todesmarsch, niemand geht hier einfach so los", sagt Sawsan Saada, Programm-Managerin in einem der Care-Zentren in Amman, die zusätzliche Spenden für die Flüchtlinge auftreiben. "Trotzdem beobachten wir seit zwei Monaten, dass sich immer mehr Menschen Gedanken darüber machen."

"Wir haben ohnehin schon überall gekürzt", sagt Sawsan Saada, während sich ein paar Neuankömmlinge mit Dokumenten in den Händen im Wartesaal gegen die Wand lehnen. "Für 2016 rechnen wir mit dem Schlimmsten."

Flüchtlinge im Nahen Osten

Der Großteil der Flüchtlinge in Jordanien wohnt nicht in Camps, sondern in Städten oder Gemeinden (über 80 Prozent). Eine Studie des Flüchtlingshochkommissariat UNHCR, die zwischen Jänner und Juni 2014 entstanden ist, hat ergeben, dass 68 Prozent von ihnen unter der Armutsgrenze leben. Bei Jordaniern selbst sind es 14 Prozent. Die Armutsgrenze liegt bei 67 Jordanischen Dinar im Monat, umgerechnet 83 Euro. Die Armut ist meist bei denen größer, die später geflohen sind. Oftmals haben sie zu dem Zeitpunkt bereits alle Ressourcen und finanziellen Pölster aufgebraucht. Viele Familien teilen sich eine Unterkunft mit anderen, da die Miete für sie zu teuer ist. Das Geld fürs Wohnen stellt laut Studie das größte Problem für die Flüchtlinge dar. Seitdem das Welternährungsprogramm der UNO seine Unterstützung aufgrund von finanziellen Engpässen herunterfahren musste, steigt unter den Flüchtlingen auch die Sorge um das tägliche Essen: vier von fünf Flüchtlingshaushalten sind von den Lebensmittelgutscheinen abhängig.

412.479 Syrer wurden mit Stand Ende September seit Beginn des Krieges als Flüchtlinge außerhalb von Syrien geboren.

Hoffen auf das Wunder

An dem Tag, als die Bombe vor ihren Augen detonierte, trennte die Geschwister nur eine Straße. Ihr Leben lang hatten Nader und seine Schwester unter einem Dach gelebt, doch als der Sprengsatz vom Himmel her einschlug, rannte der Bruder in die eine, die Schwester in die andere Richtung. Getroffen wurden sie beide nicht, gesehen aber haben die Geschwister einander nie wieder. Vier Jahre liegt das nun zurück.

Nader hat schwarzes Haar, buschige Augenbrauen und sanfte Augen. Er ist 34 Jahre alt. Früher, in Homs, hat er Oliven und Weizen angebaut. Homs ist die drittgrößte Stadt Syriens, im fruchtbaren Tal des Nahr al-Asi gelegen, benannt nach einem Fluss, dessen Strömung so stark ist, dass sein Name "der Widerspenstige" lautet. Das passt sehr gut zu der Stadt, die lange als bedeutendste Hochburg der Rebellen im Kampf gegen das Assad-Regime galt.

Die Bombe im Sommer 2011 sprengte nicht nur einen riesigen Krater in die Straße vor Naders Haus, sondern ließ auch einen Riss durch seine Familie gehen. Nader, seine Frau Hamida und die Kinder rannten davon. Sie zogen von Dorf zu Dorf, so lange, bis sie irgendwann einsehen musste, dass in Syrien niemand mehr dem Krieg entgehen kann. Eine Schwester lebt heute im Libanon, die andere ist in Homs zurückgeblieben. Er hat seit drei Jahren nichts von ihr gehört. Er weiß aber, dass ein Bruder seiner Frau von einem Scharfschützen erschossen wurde, dass von seinem alten Zuhause nur noch die Mauern stehen, seine Olivenhaine gefällt wurden, als die Menschen im Winter nach Holz gesucht haben, und dass einer der Nachbarn heute in Schweden lebt.

Bisher waren immer zu viele Kinder auf zu kleinem Raum.

Zwei Jahre, nachdem Nader und seine Familie Homs verlassen hatten, überquerten sie die Grenze nach Jordanien. Sie landeten zunächst im Zaatari-Flüchtlingslager, verließen das Camp bald wieder und kamen bei Freunden und Verwandten unter. Seit weniger als zwei Wochen leben sie nun hier in einer Zweizimmerwohnung in Al Hashmi, einem der ärmsten Viertel von Amman, in einem Wohnhaus aus hellem Stein auf einem der sanften Hügel, welche die Stadt durchziehen. In den Büschen haben sich Plastiksäcke und Verpackungsreste verfangen, auf der staubigen, unasphaltierten Straße spielen Kinder Fußball. Im ersten Stock des engen Stiegenhauses steht "Allahu Akbar" (Gott ist groß) in großen, schwarz-glitzernden Buchstaben an der unverputzten Wand geschrieben; im dritten Stock hat jemand mit Bleistift zwei kleine Herzen auf die Wand gekritzelt.

Im vierten Stock wohnt Nader. Er sitzt auf dem braunen Teppich, der Holzboden rundherum ist mit dünnen, weißen Überzügen bedeckt, es ist das Wohnzimmer und gleichzeitig auch das Schlafzimmer der Kinder. "Hier ist es besser", sagt Nader: "Bisher waren immer zu viele Kinder auf zu kleinem Raum." Er streicht dem Dreijährigen über den Kopf, der ihm gerade lachend in den Rücken gerannt ist und nun auf den Schultern des Vaters herumturnt.

Hamida, Naders Frau, ist 29 Jahre alt, inzwischen haben sie sechs Kinder. Das jüngste, drei Monate alt, wurde in Jordanien geboren; das Geld für die Geburt borgte sich Nader von Freunden aus, über 700 Euro, wobei er keine Ahnung hat, ob er sie jemals zurückzahlen wird können. Der älteste Sohn ist neun, er hört auf einem Ohr nicht mehr, nachdem in Syrien eine Bombe in seiner Nähe detonierte. Der vierjährige Sohn hat seither kein Wort mehr gesprochen. Die Achtjährige beugt sich zur Mutter hin und wischt dem Baby eine Fliege aus dem Gesicht. Sie und ihre Schwester sind ruhiger als ihre Brüder, und sie sehen viel ernster aus.

Nader fehlt das Geld für die Medikamente gegen die Rückenschmerzen, die ihn so sehr plagen, dass er keiner Arbeit nachgehen kann. Hamida sagt, sie spiele mit den Kindern, so viel sie könne, um ein bisschen Normalität in den Alltag zu bringen. Die Matratzen, auf denen sie schlafen, die Hosen und T-Shirts, die sie tragen, die Windeln für das Neugeborene wurden ihnen von Nachbarn oder Hilfsorganisationen gespendet. "Ich hätte so gerne etwas Geld, um den Kindern irgendwas Kleines zu kaufen, das ihnen Freude macht." Doch das Geld fehlt an allen Ecken und Enden. Care hilft aus, das Unhcr ebenso, vom WFP erhalten sie noch Essensgutscheine. Damit besorgt Hamida meist Milch, Brot, Kartoffeln, Tee. Huhn gibt es nur ganz selten, stattdessen kauft sie lieber mehr Reis.

An die 143.000 Syrer wurden seit Beginn des Krieges außerhalb von Syrien als Flüchtlinge geboren.

Keiner von den Älteren ist jemals in die Schule gegangen, und so, wie die Dinge stehen, werden sie das auch in Zukunft wohl nicht. Inzwischen geht in Jordanien ein Drittel der Flüchtlingskinder nicht mehr in die Schule, obwohl die Regierung Extra-Klassen für sie eingerichtet hat. Den meisten fehlt selbst das Geld für die Schulbücher. Die Festnahmen wegen illegaler Arbeit häufen sich, weshalb die Eltern immer öfter die Kinder Geld verdienen lassen. Sie putzen auf dem Markt Schuhe, schlichten Waren in Supermärkten und waschen Teller in Restaurants.

Wie lange soll all das noch gutgehen? Ein paar Monate, zwei Jahre, zehn Jahre? Bis diese Generation an Kindern erwachsen ist? An die 143.000 Syrer wurden seit Beginn des Krieges außerhalb von Syrien als Flüchtlinge geboren.

Wie werden deren Kinder aufwachsen? Im vergangenen August gingen doppelt so viele Menschen - 3852 - von Jordanien zurück nach Syrien wie noch im Juli. Ein Teil bleibt dort, andere ziehen in die Türkei weiter. Nach Jordanien kommen weniger, seit das Land die Grenzen schärfer kontrolliert, Ende August waren es im Durchschnitt 54 Menschen pro Tag.

50:50, schätzt Wouter Schaap, Care-Chef in Jordanien, wenn man ihn nach dem Anteil jener Flüchtlinge fragt, die in Jordanien bleiben beziehungsweise weiterziehen wollen. Schaap sagt: "Die Dinge verschlechtern sich hier seit 2014. Bis dahin hat der Großteil der Flüchtlinge noch gehofft, nach Syrien zurückkehren zu können. Inzwischen haben die meisten die Hoffnung verloren."

Wer Kinder hat, der zögert am ehesten damit, das Risiko der Reise nach Europa auf sich zu nehmen. Doch wer noch nicht einmal weiß, ob es im nächsten Monat noch was zu essen gibt, für den kommt die kostspielige Reise nach Europa gar nicht infrage. Für Nader, Hamida und die sechs kleinen Kinder ist der Wiener Westbahnhof so weit entfernt wie der Mond.

"Ich habe keine Pläne", sagt Nader. "Ich hoffe nur, dass Gott für ein Wunder sorgt und dass wir nach Syrien zurückkehren können."