Kevin Kühnert

Kevin Kühnert: Der (un)heimliche Parteivorsitzende

Die deutschen Sozialdemokraten hoffen insgeheim auf ihren jungen und einzigen Shooting-Star Kevin Kühnert, auch wenn sie am Berliner Parteitag gerade ein neues Führungsduo gewählt haben.

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Auf den jungen Mann, der am ersten Tag des Parteikonvents leicht blass mit verquollenen Augen, eskortiert von einer quirligen Mitarbeiterin, durch einen riesigen Saal in der Berliner Messe hetzt, an Delegiertenreihen vorbei, hartnäckig verfolgt von einem TV-Team, richten sich ungezielte Hoffnungen und Wünsche. Die Älteren schicken ihm entzückte Blicke nach, die Jungen betrachten Kühnert mit einer gewissen Nonchalance – er ist einer von ihnen, entstammen sie doch selbst den Jahrgängen, in denen man Buben Kevin oder Jan und Mädchen Jessica oder Anna nannte. Sie wissen, sie sind die Zukunft.

Kevin Kühnert

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Nirgendwo in Europa ist die Sozialdemokratie noch eine Partei der Arbeiter, auch wenn ihre Lieder das verkünden und Jubiläen mit aller Inbrunst gefeiert werden. Ihre traditionelle Klientel schwindet. Die Aufsteiger, die keine klassischen Arbeiter mehr sind, verdienen gut und haben mit den Abgehängten in prekären Dienstverhältnissen oder den Jungen in Übergangsjobs kaum gemeinsame Interessen und für Digital Natives ist die derzeitige Welt der Parteiendemokratie ein Leben vom anderen Stern.

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Die erste weibliche Vorsitzende, Andrea Nahles, wurde vor einem halben Jahr aus der SPD hinausgeekelt, ihre männlichen Vorgänger hatten sich zuvor untereinander ins out intrigiert. So mussten die deutschen Sozialdemokraten Ende vergangener Woche auf einem dreitägigen Parteitag in Berlin ein neues Führungsduo wählen - dernier cri- eine Doppelspitze aus Frau und Mann, wie das die Grünen vormachten. In einer Urabstimmung unter SPD-Mitgliedern- ein Viertel beteiligte sich- waren für viele überraschend und Saska Esken (58) und Nobert Walter-Borjans (67) als Sieger hervorgegangen: zwei Politiker, die bisher nicht zum Establishment in Berlin gehörten, in bestimmten Milieus jedoch hohes Ansehen genießen. Die Hinterbänklerin Esken, die die Initiative für die Kandidatur ergriff, ist Expertin für Netzpolitik und war durch ihren (erfolglosen) Kampf gegen Uploadfilter bekannt geworden. Walter-Borjans hatte als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen aus öffentlichen Geldern einem Whistleblower Datensätze über mutmaßliche Steuerbetrüger abgekauft und durch Meldungen aus Angst vor Entdeckung ein Vielfaches davon für den Steuerzahler hereingeholt. Später hatte er darüber ein lehrreiches und erstaunlich vergnügliches Buch geschrieben (Norbert Walter-Borjans: Steuern- Der große Bluff. Kiwi-Verlag 2018) und war damit durch Deutschland getourt und in vollen Sälen aufgetreten.

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Als Kevin Kühnert vor drei Monaten auf Twitter bekannt gab, dass er nicht antreten werde - „politisch spricht einiges dafür, aber...“ - tat er zwei Stunden später seine Unterstützung für Walter-Borjans und Esken kund. Mit ihren 80.000 Mitgliedern haben die Jusos der Kampagne der Beiden großen Schwung verliehen, die online-Abstimmung wohl auch besser genützt als die anderen Teams- etwa die des amtierenden Finanzministers Olaf Scholz mit Klara Geywitz, die als Kandidaten des Establishments galten und nach bisherigen Regeln gewinnen hätten müssen.

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Immer, wenn sich irgendwo auf dem Tagungsgelände ein Knäuel aus Journalisten, Fotografen, Kamerateams und Kiebitzen bildet, die Scheinwerfer angehen und der Pulk wächst, steckt sicher Kühnert mitten drin und wird interviewt. Vor zwei Jahren erst war er zum Juso-Chef gewählt worden und heute strecken ihm internationale Korrespondenten das Mikro vor die Nase und fragen, wohin die Zukunft der SPD weise, ob sie in der großen Koalition bleiben werde oder nicht? Der Chefredakteur der liberalen „Die Zeit“, Giovanni di Lorenzo, nennt ihn den „(un)heimlichen Vorsitzenden“. Ulf Poschardt, Chefredakteur der „Welt“ vergleicht ihn mit Sebastian Kurz und ahnt das Geheimnis des Erfolgs in den Lehrjahren in Machttechnik in der Jugendorganisation: „Kevin Kühnert hat von Sebastian Kurz und Emmanuel Macron gelernt und hat nun erst einmal strategisch ein gurkiges Führungsduo vorgeschoben, das ihn - den kessen, lockeren, pointensicheren Jungmann- noch herrlicher strahlen lässt“. Die Leiterin der Grundwertekommission in der SPD, Gesine Schwan (76), sagt: Kühnert sei „rücksichtslos“ in der Verfolgung seiner eigenen Interessen. Auch Schwan war eine Kandidatin im Pärchen-Wettlauf gewesen.

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Zeichen der Veränderung: Unübersehbar prangt an der Stirnseite des Tagungssaales eine stilisierte Rosenblüte, das Logo, das die Jusos immer schon verwendet haben. Jetzt gehört es der SPD. Beim so genannten „Bunten Abend“ der SPD wurde erstmals gegen Mitternacht die Internationale gesungen, bzw. gegrölt und getanzt bis ins Morgengrauen. Es ist anzunehmen, dass der „Bunte Abend“ nie wieder so genannt werden wird.

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Die alte Elite der SPD – amtierende Minister, frühere Parteivorsitzende, Ländergrößen - meldet sich auf diesem Parteitag selten oder gar nicht zu Wort. Sie klatschen aus Pflicht, sehen verdrossen und ratlos drein. Man sieht einige von ihnen mit der Rolltreppe nach unten fahren, während oben die Wahlergebnisse des neuen Führungsduos verkündet werden. Die Mitarbeiter ihrer Büros, die seit Jahren darauf getrimmt waren, ihren Chef, etwa Finanzminister Olaf Scholz, ins Kanzleramt zu hieven, beginnen, sich neu zu orientieren. Die Alten sind noch da, in Amt und Würden, aber ihre Zeit ist abgelaufen.

Am Rande einer Absperrung, die die Delegierten von Gastdelegierten und Journalisten trennt, steht ein freundlicher älterer Herr, der über das Band hinweg zu den wichtigen SPD-Leuten hinüberschaut. Nämlich zu seiner Frau. Der 71Jährige Herr Esken nimmt es gelassen. Er sei eben nur „einfaches Parteimitglied“.

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Kühnert, Kühnert, ruft es. Der Jungstar hastet quer durch den Saal. Es ist unmöglich, sich ihm in den Weg zu stellen. Man würde überrannt werden.

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Die bisherige kommissarische Leiterin der SPD, die westfälische Ministerpräsidentin Malu Dreyer, sagt in ihrer Parteitagsrede, viel zu oft werde in der SPD der Wert der Freundschaft vergessen und dabei lächelt sie zu Olaf Scholz hinüber, um ihm seinerseits ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Sie lobt und würdigt auch Andrea Nahles, die nicht gekommen ist. „Irgendwie wirst du es hören. Du hast als erste Frau an der Spitze die Tür für alle Frauen aufgemacht“ ruft Dreyer in den Saal und vielleicht haben jetzt ganz viele Männer ein schlechtes Gewissen.

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Der frühere SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel warnt im Handelsblatt, das wie alle größeren Zeitungen vor dem Eingang zum Plenarsaal aufliegt, vor der „Verzwergung“ der Partei auf das Segment des Sozialen. Er kritisiert die Indifferenz des Establishments, das Scholz kaum Rückendeckung gegeben habe, die ökonomische Unvernunft, die deutsche Wettbewerbsvorteile geringschätze. Die Konkurrenten hätten längst aufgeholt. Die SPD müsse „wieder den aktivierenden und emanzipatorischen Charakter des Sozialstaats entdecken, statt den passiven auszubauen“, verlangt Gabriel. Seine Prognose: Kühnert werde den Teufel tun, die große Koalition platzen zu lassen, „anders wäre seine Karriere schnell beendet.“

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Im Vergleich zu früheren Parteitagen der SPD summt es wie in einem Bienenstock. Auffallend viele junge Delegierte, mehr Frauen als jemals zuvor. Wenn die Parteitagsregie auf dem großem Video-Screen einen jungen Vater mit Baby am Schoss einfängt, geht ein zustimmendes Brausen durch den Saal. Der häufigste Name in den Reden ist „Willy Brandt“, der legendäre Parteichef, der für die SPD einst das Kanzleramt eroberte. Walter-Borjans: „Wenn eine Rückkehr zur Partei Willy Brandts ein Linksschwenk ist, dann machen wir einen ordentlichen Linksschwenk“.

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Der Parteitag bricht mit Gerhard Schröders Erbe, freilich ohne seinen Namen zu nennen. „Mit dem Leitantrag für Soziales wollen wir HartzIV überwinden“, verkündet Esken und der Saal tobt.

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Kevin Kühnert hält seine Bewerbungsrede für das Amt des Stellvertretenden Parteivorsitzenden. Zwölf Minuten lang. Jeder Satz sitzt. Grammatikalisch absolut korrekt, und das in freier Rede. Kühnert spricht über den Digitalnotstand in Deutschland, den Rapper Rezo, die Unfähigkeit der Älteren, die digitalen Chancen zu erkennen, und die Ohnmacht der Jugend. Am Ende hält er eine rote Socke hoch und verweist auf die abwertende Rote-Socken-Kampagne der Konservativen in den 90er Jahren, vor der man sich nicht fürchten dürfe. Kühnert wird mit standing ovations gefeiert und einige kriegen nasse Augen.

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Der SPD-Beauftragte für den Mittelstand – der Unternehmer Harald Christ - gibt auf. Die SPD flüchte sich in eine „sozialromantische Politik“. Die Funktion wird nicht mehr besetzt.

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Entsetzen bei prominenten Gastdelegierten, als sie erkennen, dass einige für die SPD wichtige Politiker nicht mehr im neuen Vorstand vertreten sind. Ein leiser Aufschrei, als auch Außenminister Heiko Maas nicht genügend Stimmen erhält. Maas wird dann im zweiten Anlauf gewählt.

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Vor dem Parteitagsgelände stehen alle drei Tage lang von morgens bis abends Aktivisten der „Fridays for future“. Bei Kälte und Regen, mit einem Transparent, auf dem steht: „SPD - Es reicht nicht“. Jeder Delegierte muss daran vorbei, in einiger Entfernung. Die Jugendlichen sind hinter eine Absperrung verbannt und dürfen nicht einmal die Toiletten im Messegelände aufsuchen.

Borjans und Esken nähern sich den Jugendlichen freundlich, betonen wie unverzichtbar ihr Engagement sei. Man sieht sie nicken und lächeln, hört ihre Beschwichtigungen, während die Gesichter der Jugendlichen immer finsterer werden. Über das Gitter hinweg offeriert Esken einen roten Juso-Filzschal wie ein Gastgeschenk, das man einem fremden Stamm übergibt. Die Protestierer nehmen das Ding reserviert entgegen. Als sich Esken erleichtert abwendet, hebt das Demo-Geschrei schlagartig wieder an. Lauter und aggressiver als zuvor. Der rote Schal ist verschwunden.

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Ein Juso bezieht sich in seiner Parteitagsrede auf Kevin. Woher kommt das Vermögen? Aus unverschämtem Glück. Wir müssen den Reichen etwas wegnehmen, weil es gerecht ist.

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Nach der Wahl ihrer neuen Spitze ist die SPD in Umfragen weiter abgesackt. Sie liegt jetzt bei 11 Prozent, die Grünen bei 22. Laut Forsa trauen nur noch 3 Prozent der SPD zu, die Probleme des Landes zu lösen.

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Ex-Manager Friedrich Hennemann (83), das goldene Parteiabzeichen für 50jährige Mitgliedschaft am Revers und in der ersten Reihe der Gastdelegierten sitzend, sagt: „Ohne Visionen wird es nicht gehen“ und beginnt mit seiner schönen, brüchigen Altmännerstimme Goethes Faust zu zitieren:

„Geschrieben steht: ‚Im Anfang war das Wort! „Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort? Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen, ich muss es anders übersetzen, wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin. Geschrieben steht: Im Anfang war der Sinn. Bedenke wohl die erste Zeile, dass deine Feder sich nicht überteile! Ist es der Sinn, der alles wirkt und schafft? Es sollte stehn: Im Anfang war die Kraft! Doch, auch indem ich dieses niederschreibe, schon warnt mich was, dass ich dabei nicht bleibe. Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat und schreib’ getrost: Im Anfang war die Tat!“

Hennemann sagt, es sei das Vorrecht der Jugend, das Unmögliche zu wollen. Und der Parteitag habe heute der Jugend zugehört.

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Am letzten Tag treten mehrheitlich Jusos ans Rednerpult. „Den Reichen etwas wegnehmen, weil das gerecht ist“ – „Flüchtlingspakt mit der Türkei kündigen“- „Staatliche Seenotrettung und Verteilung“ – Kindergärten, Kindergrippen, Ganztagsschulen. Milliardensubventionen. Und immer wieder: „Raus aus der Groko“.

Auch am Ende dieses Parteitags steht die SPD wieder vor der Frage: rein oder raus? Was nun? Man müsste Kühnert fragen.

Christa   Zöchling

Christa Zöchling