Martin Staudinger: Elchtest für den Freihandel

Kann es sein, dass CETA nicht zwangsläufig den Untergang Europas bedeuten würde?

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Und schon wieder geht es ums Ganze: Umwelt-, Sozial- und Lebensmittelstandards, öffentliche Dienstleistungen, Landwirtschaft, Arbeitnehmerrechte, sogar die Demokratie als solche – all das steht europaweit auf dem Spiel, wenn man den Organisationen glaubt, die am vergangenen Samstag zu Großkundgebungen in mehreren österreichischen Städten gerufen hatten.

Nein, die Warnungen galten nicht dem Klimawandel oder dem Kollaps von Sozialsystemen durch massive Zuwanderung, und glücklicherweise auch nicht der herbeifantasierten Islamisierung des Abendlandes. Die größte Gefahr, die Vertreter von Parteiorganisationen, Kirchen, NGOs und anderen Gruppierungen sowie Zehntausende besorgte Bürgerinnen und Bürger auf den Kontinent zukommen sehen, droht vielmehr durch ein Freihandelsabkommen, das die EU (510 Millionen Einwohner) mit Kanada (35 Millionen Einwohner) ausverhandelt hat.

In Kürze soll CETA unterzeichnet werden, und jetzt hängt es wieder einmal, ach!, an Österreich, das Schlimmste zu verhindern. Denn die meisten anderen sind offenbar nicht in der Lage, das Ausmaß der Bedrohung zu erkennen – die Schweden mit ihrer rot-grünen Regierung beispielsweise. Nur Bundeskanzler Christian Kern stellt sich dem Abkommen heroisch in den Weg; zumindest insoweit, als er die Entscheidung darüber anhand von behutsam-suggestiv formulierten Fragen wie „Soll CETA in Österreich in Kraft gesetzt werden, wenn dadurch europäische Qualitätsstandards gesenkt werden können?“ einem wirklich sachkundigen Gremium überlässt: den Parteimitgliedern der SPÖ.

Und so sieht der Gegner aus, mit dem es die CETA-Kritiker zu tun haben: Justin Trudeau, ein smarter Polit-Aufsteiger, mit 44 Jahren bereits Premierminister eines der wichtigsten Industriestaaten der Welt, und damit per se verdächtig, oder?

Im Hinblick auf CETA sagt Trudeau, der seit knapp einem Jahr im Amt ist, Sätze wie: „Unser Ansatz ist es, Arbeitnehmerrechte und Umweltschutz zu respektieren und den öffentlichen Dienst zu verteidigen. Das ist es, was für unsere Bürger und für uns alle zählt.“ Oder: „Ländern, die so geistesverwandt sind wie die EU-Staaten und Kanada, soll es ermöglicht werden, anhand gleicher Werte zusammenzuarbeiten.“ Das klingt gut, dient vermutlich aber nur dazu, seine wahren Absichten listig zu verbergen.

Bei den CETA-Verhandlungen, die über weite Strecken von einer konservativen Regierung geführt worden waren, hat Trudeau weitgehende Zugeständnisse an die Forderungen der Europäer gemacht – vor allem bei besonders umstrittenen Themen wie der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit, die nicht mehr auf privater Ebene abgehandelt werden soll, sondern durch öffentlich-rechtliche Jurisdiktion. Weitere „Präzisierungen“, etwa in Form von Zusatzprotokollen, seien möglich, um verbleibende Bedenken auszuräumen, bot der Premierminister vergangene Woche an. Aber auch das ist wahrscheinlich nur Tarnung.

Wem selbst Kanada als Partner zu minder ist, braucht es mit dem Rest der Welt gar nicht zu probieren.

Und in Kanada selbst hat Trudeau ein milliardenschweres öffentliches Investitionsprogramm angekündigt, befürwortet die Legalisierung von Marihuana, tritt entschieden für Frauenrechte ein und verhält sich auch sonst genau so, wie man es von der Lichtgestalt des Fortschritts erwartet, zu der er für seine Fans geworden ist: eine Meisterleistung perfider Verstellungskunst, vermutlich.

Oder könnte es sein, dass es Trudeau und Kanada ernst meinen? Dass es bei CETA tatsächlich nicht darum geht, europäische Frühstückstische mit gepanschtem Ahornsirup zu überschwemmen, Fleischesser mit genmanipulierten Elchfilets zu traktieren und Polizisten zum Tragen von Fellhüten zu zwingen? Und auch nicht darum, „den Interessen von Konzernen in der EU, in Kanada und den USA“ zu dienen, die „Hand in Hand daran arbeiten, die neoliberale Globalisierung auszuweiten und zu vertiefen“, wie die Anti-CETA-Allianz zu wissen meint?

Ist es gar möglich, dass Kanada und die EU tatsächlich bloß daran interessiert sind, Marktöffnung auf gleichberechtigter Basis zu betreiben, mit dem Sinn und Ziel, die Wirtschaft zu beleben? Und dass beide kein Interesse daran haben, dass ihre Bürger geschädigt, vergiftet und entrechtet werden? Und dass die Chancen des Abkommens größer sind als die Risiken, die es durchaus haben mag?

Das Wort Freihandel weckt in Österreich und auch in Deutschland ähnliche Assoziationen wie Atomkatastrophe, Wurzelbehandlung oder Dschingis Khan. Laut aktuellen Umfragen befürchtet mehr als die Hälfte der Bevölkerung durch Verträge wie CETA Nachteile, ein noch größerer Teil, nämlich 78 Prozent, fühlt sich über das Thema unzureichend informiert. Die Verhandlungen über das Handelsabkommen TTIP mit den USA, die tatsächlich suboptimal gelaufen sind, tragen ein Übriges zur Verunsicherung bei.

Aber TTIP ist in der geplanten Form de facto ohnehin gescheitert. Und CETA könnte mit seinen am Verhandlungsweg erreichten Verbesserungen gegenüber anfänglich geplanten Bestimmungen zur Blaupause für künftige Freihandelsverträge werden.

Dafür müsste man dem Abkommen jedoch erst einmal eine Chance geben. Einen honorigeren Handelspartner als Kanada – dem wohl europäischsten Land außerhalb Europas – wird die EU nicht bekommen. Wenn dieser Elchtest für den Freihandel schiefgeht, braucht man es mit dem Rest der Welt gar nicht erst zu versuchen.

[email protected] Twitter: @martstaudinger