„Wir wussten nicht einmal, ob sie noch lebt“

Pussy-Riot: „Wir wussten nicht einmal, ob sie noch lebt“

Russland. Der Vater der Pussy-Riot-Aktivistin Nadja Tolokonnikova im Interview

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Von Tessa Szyszkowitz

Fast zwei Wochen lang bangten die Angehörigen von Nadja Tolokonnikova um das Leben der Pussy-Riot-Aktivistin: Die 24-Jährige war aus dem Gefängnis Nr. 14 in der Republik Mordwinien, wo sie eine Haftstrafe wegen „Rowdytum aus religiösem Hass“ verbüßte, abtransportiert worden – und spurlos verschwunden. Die Gefängnisbehörden verweigerten jede Auskunft über ihren Aufenthaltsort und Gesundheitszustand.
Nadja Tolokonnikova ist die derzeit berühmteste politische Gefangene Russlands. Bereits mit 18 Jahren hatte sie als Mitglied der radikalaktivistischen Künstlergruppe Vaina („Krieg“) an spektakulären Protestaktionen teilgenommen, etwa hochschwanger an einer Gruppensex-Performance im Moskauer Biologie-Museum.
International bekannt wurde Nadja im Februar 2012 als Mitbegründerin der
feministischen Punk-Gruppe „Pussy Riot“ durch einen Auftritt in der Moskauer Erlöser-Kathedrale: Das „Punk-Gebet“, das die Frauen im Altarraum brüllten, um die Kumpanei zwischen der russischen Regierung und der orthodoxen Kirche anzuprangern, brachte sie und ihre Kollegin Maria Aljochina für zwei Jahre ins Straflager. Nachdem Nadja dort in den Hungerstreik getreten war, um gegen die untragbaren Haftbedingungen zu protestieren, ordnete die Justiz die Verlegung der Gefangenen an, informierte ihre Familie aber mit keinem Wort darüber.

Erst vergangene Woche gab es wieder ein Lebenszeichen von der Aktivistin: Am Mittwoch hieß es, sie befinde sich im Lager Nr. 50 im sibirischen Nischni Ingasch. Am Donnerstag – Nadjas 24. Geburtstag – war wieder alles anders: Die Frau sei in einem Gefangenenzug am Weg in die Haftanstalt 2000 Kilometer östlich von Moskau, sickerte inoffiziell durch.
„Bislang wussten wir nicht einmal, ob sie noch lebt“, sagt Nadjas Vater Andrej

Tolokonnikov: Der 55-Jährige hat seinen Arztberuf aufgegeben, lebt heute als Schriftsteller in Moskau und hat einen Roman über seine Tochter geschrieben: „Nadeshda“. Dem berühmten Punk-Gebet seiner Tochter hat Papa Andrej zwei unheilige Worte gestiftet: „Holy Shit“. Tolokonnikov ist auch mit einem Interview in dem soeben erschienenen Buch „Why Europe needs a Magnitzky Law“ der russischen Journalistin Elena Servettaz vertreten.

profil: Wissen Sie, wie es Nadja geht?
Andrej Tolokonnikov: Bisher verweigert man uns offiziell die Bestätigung, dass sie wirklich in das Lager Nr. 50 in Nischni Ingasch verlegt wird. Dem Gesetz nach muss der Föderale Gefängnisdienst den Verwandten nach spätestens zehn Tagen mitteilen, wo eine Gefangene einsitzt – außer in Spezialfällen natürlich: Für Terroristen und Schwerverbrecher gelten andere Gesetze. Bei Nadja handelt es sich ganz offensichtlich darum, dass uns die Behörden an der Nase herumführen wollen.

profil: Nadjas Hungerstreik hat das Augenmerk auf die Zustände in russischen Straflagern gelenkt. Ist ihre Verlegung eine Strafe dafür?
Tolokonnikov: Wahrscheinlich schon. Die haben Angst, dass sie weiter über den „Neuen Gulag“ spricht.

profil: Machen Sie Präsident Putin für Nadjas Verurteilung verantwortlich?
Tolokonnikov: Russland wird ganz transparent nach einem „Signal“-System regiert: Putin oder jemand aus seinem Umfeld gibt ein Signal. Selbst wenn es nur eine Geste ist, weiß der Apparat schon, was zu tun ist. Manchmal üben sich die Beamten auch in vorauseilendem Gehorsam. Da kann es dann auch vorkommen, dass Putin sie mit einem Signal wieder bremsen muss.

profil: Es heißt, dass Sie Ihre Tochter stark beeinflusst haben. Stimmt das?
Tolokonnikov: Ja, ich glaube schon. Sie ist zwar nach unserer Scheidung bei ihrer Mutter in Norilsk aufgewachsen, aber sie war im Sommer immer bei mir in Moskau. Sie mochte die künstlerische und politische Atmosphäre gern. Ich habe ihr ein Beispiel gegeben, dass man den eigenen Überzeugungen folgen soll. Natürlich könnte man sagen: Und was habe ich erreicht? Meine eigenen Erfolge sind schließlich bescheiden. Doch für ein Kind zählt ja nicht, was man geworden ist, welche Ziele man hatte oder mit welchem Enthusiasmus und mit welcher Besessenheit man diese ehrgeizigen Ziele verfolgt hat. Umgekehrt hat sie mich aber auch sehr beeinflusst. Ihre Verachtung für gesellschaftliche Grenzen, ihre Dickköpfigkeit – das hat sicherlich auch meinen eigenen Zugang zum Leben verändert.

profil: Können Sie die Gruppensex-Performance, bei der Ihre Tochter hochschwanger öffentlich mit ihrem Ehemann geschlafen hat, gutheißen?
Tolokonnikov: Ich war absolut gegen die Orgie – auch wenn wir festhalten sollten, dass dabei nichts Kriminelleres passiert ist als in einem Bildnis von Nicolas Poussin (ein französischer Maler des klassizistischen Barock, Anm.). Aber wenn Sie Nadja heute fragen und sie Ihnen ehrlich antwortete, dann würde sie sagen, dass sie nichts in ihrem Leben so sehr bereut wie diese Aktion im Museum für Biologie. Sie hat inzwischen verstanden, dass die Orgie sich auf ihre weitere Karriere negativ auswirken wird – besonders dann, wenn sie sich entscheidet, hier in diesem scheinheiligen, patriarchalischen und konservativen Russland zu bleiben.

profil: Warum sind die Russen heute so konservativ? Weil in der Sowjetunion zwar progressive Gesetze erlassen wurden, diese aber von repressiven Maßnahmen begleitet wurden und die Gesellschaft nie ernsthaft über sexuelle Freiheit, Gleichheit der Geschlechter und Ähnliches diskutiert hat – und dass 1968 in Russland nie stattfand?
Tolokonnikov: Die gesellschaftliche Entwicklung in 70 Jahren Sowjetunion und die Tatsache, dass sich die öffentliche Meinung hier nicht frei entfalten konnte, sind sicher die Hauptgründe für das reaktionäre Klima im heutigen Russland. Vielleicht kommt 1968 hier ja erst. Vielleicht aber sind wir auch ein Sonderfall und werden nicht alle Stadien des Westens durchlaufen. Ich glaube nicht, dass wir gute Aussichten haben. Die einstige Großmacht Russland ist heute eine zweitklassige Nation, eine Tankstelle für Europa und ein Schreckgespenst für die ganze Welt.

profil: Was wollte Pussy Riot erreichen? Die Gesellschaft liberalisieren? Oder gar Putin stürzen?
Tolokonnikov: All das. Die Debattenkultur in Russland wollten sie ganz sicher verbessern. Es ist außerdem dringend notwendig, soziale Veränderungen einzuläuten und einen Machtwechsel zu fordern. Am Ende von all dem steht Putins Abgang – und ein Gerichtsverfahren gegen ihn und seine Komplizen.

profil: Sehr erfolgreich war Pussy Riot damit aber nicht. Die meisten Russen fanden die Auftritte der Gruppe absolut unmöglich.
Tolokonnikov: Pussy Riot hatte insofern Erfolg, als ihre Auftritte sicher eine Diskussion über das Verhältnis von Kirche und Staat ausgelöst haben, nicht nur in Russland, sondern in der ganzen Welt. Die Frauenfrage, die von den Suffragetten vor über 100 Jahren in Großbritannien thematisiert wurde, ist hier allerdings nebensächlich.

profil: Ihre Tochter hat viele mit ihrer mutigen Haltung, ihrer Kraft und ihrer Schönheit beeindruckt. Nadja wurde innerhalb von zwei Jahren eine weltberühmte Oppositionelle – kann sie den Druck aushalten?
Tolokonnikov: Ich glaube schon.

profil: Erwarten Sie, dass Ihre Tochter wie vorgesehen im März 2014 aus der Haft entlassen wird?
Tolokonnikov: Vielleicht kommt sie nie raus. In Russland gibt es keine normale Gesetzgebung. Schauen Sie sich den Fall von Alexei Nawalny an …

profil: … dem Blogger und Polit-Aktivisten, der kürzlich in einem offenkundig politischen Verfahren zu fünf Jahren Haft verurteilt wurde, als Bürgermeister von Moskau kandidierte und dessen Strafe nun völlig überraschend zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Tolokonnikov: Bei Nawalny wurde einfach behauptet, er habe einen ganzen Wald gestohlen. Oder Michail Chodorkowski: Er soll laut Anklage sein eigenes Öl geklaut haben.

profil: Was wird Nadja nach ihrer Freilassung machen?
Tolokonnikov: Ich glaube, sie wird nie aufhören, für ihre Überzeugungen zu kämpfen. Ich nehme an, dass sie selbst noch nicht weiß, was sie machen wird. Sie ist ja noch sehr jung. Außerdem wissen wir nicht, wann sie entlassen wird.

profil: Was wünschen Sie sich für Ihre Tochter?
Tolokonnikov: Ich versuche, sie zu überreden, in den Westen zu gehen. Von einer europäischen Hauptstadt aus kann man besser gegen das russische Regime kämpfen. Aber auch diese Methode birgt Gefahren: Wer nicht hier lebt, wird nicht als Autorität ernstgenommen, weil er oder sie weniger Risiko eingeht. Sollte Putins Russland sich in die Richtung entwickeln, weniger kannibalisch mit seinen Untertanen umzugehen, dann könnte Nadja natürlich auch hier erfolgreich arbeiten. Wir werden sehen.