Dieses Krankenhaus in Idlib, im Norden von Syrien, wurde bei einem Luftangriff am 15. Februar 2016 zerstört.

Mario Thaler von Ärzte ohne Grenzen: "Aleppo ist ein Pulverfass"

In Syrien werden regelmäßig Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen angegriffen und zerstört. profil sprach mit Mario Thaler, Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Österreich, über die aktuelle Lage in Syrien und die Hilfe vor Ort.

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profil: Wie ist die aktuelle Situation in Syrien? Mario Thaler:Die Lage ist schon seit langem katastrophal. Durch die Gespräche im Vorfeld möglicher Friedensverhandlungen ist die Situation in den Medien wesentlich präsenter geworden Tatsache ist aber, dass Angriffe auf Krankenhäuser in Syrien ständig passieren. Allein seit Beginn dieses Jahres wurden bereits 17 Krankenhäuser angegriffen. Wir haben immer wieder darauf hingewiesen. Seit Beginn des Konfliktes wird medizinisches Personal absichtlich und gezielt verfolgt und verhört. Das ist ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Krankenhäuser sind humanitärer Raum, wo Menschen unabhängig ihrer Gesinnung Schutz und Hilfe finden.

profil: Warum werden gerade Krankenhäuser und medizinische Hilfseinrichtungen vermehrt angegriffen? Thaler: Dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Ein Grund ist die Enthumanisierung des Feindes. Selbst im Krieg gibt es Regeln, wie Kriegsrecht und humanitäres Völkerrecht. Diese Regeln versucht man zu umgehen, indem alle als Terroristen bezeichnet werden. Denn im Kampf gegen den Terror ist de facto alles erlaubt. Die Angriffe auf Krankenhäuser und medizinisches Personal folgen wohl dieser Logik. Es geht darum den Gegner mit allen Mitteln zu schwächen.

Es gibt auch mehrere Ortschaften, die von der Versorgung komplett abgeschnitten sind. Dort verhungern die Menschen.

profil: Wie groß ist die Gefahr für Ärzte vor Ort tatsächlich? Thaler: In Syrien haben wir derzeit kaum internationale Helfer, nur an wenigen sicheren Orten. Wir arbeiten hauptsächlich mit lokalem Personal. Wir unterstützen über 150 Krankenhäuser, Gesundheitsposten und kleinere Gesundheitsstationen mit medizinischem Material und Geld.

profil: Warum ist es in Syrien derzeit kaum möglich mit internationalen Helfern zu arbeiten? Thaler: Wir waren bis zum letztmöglichen Zeitpunkt in Syrien. An Weihnachten vor zwei Jahren wurden fünf unserer Kollegen entführt. Als Organisation mussten wir dann die Reißleine ziehen. Die Situation ist besonders für Kollegen aus dem Westen zu gefährlich geworden, da sie sofort auffallen und gezielt entführt werden.

profil: Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit lokalen Kräften? Thaler: Es gibt Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, auch wenn man nicht vor Ort sein kann, wie zum Beispiel die strikte Nachverfolgung der Finanzmittel und Medikamente. In Syrien können wir zu 99 Prozent sicher sein, dass die Mittel, die wir hinschicken, auch richtig verwendet werden. Wir arbeiten auch sehr viel mit Tele-Medizin. Über Skype beraten wir das medizinische Personal vor Ort und tauschen uns aus. So können Spezialisten auf der ganzen Welt zusammen arbeiten.

Mario Thaler: "Wieso bedarf es im 21. Jahrhundert einer Privatorganisation um auf Regierungsfehlentscheidungen und Missstände aufmerksam zu machen?"

profil: Wie ist die Lage derzeit in Aleppo? Thaler: Aleppo ist ein Pulverfass. Die Stadt ist von allen Seiten umkämpft. Medizinische Einrichtungen werden regelmäßig angegriffen. Die Situation in Aleppo kommt dem Wort „Albtraum“ sehr nahe.

profil: Wie steht es um die Versorgung der Zivilbevölkerung? Thaler: Die Versorgung der Menschen mit Lebensmitteln, Wasser, medizinischem Material und Medikamenten ist sehr schwierig. Unterschiedliche Gruppierungen kontrollieren verschiedene Regionen. Dadurch kann nicht immer sicher gestellt werden, dass Lieferungen tatsächlich ankommen. Es gibt auch mehrere Ortschaften, die von der Versorgung komplett abgeschnitten sind. Dort verhungern die Menschen.

profil: Was müsste sich ändern, damit Ärzte Ohne Grenzen wieder mehr internationale Helfer nach Syrien schicken kann? Thaler: Der humanitäre medizinische Raum müsste wieder respektiert werden. Wir bräuchten Zusicherungen von den jeweiligen kämpfenden Gruppierungen, dass unsere Teams und Krankenhäuser sicher sind.

Angesichts der aktuellen Situation, wird uns dieser Konflikt noch Jahre begleiten.

profil: Wie kann das erreicht werden? Thaler: Durch gezielte Gespräche. Wir legen großen Wert darauf mit allen Beteiligten zu sprechen. Das schließt auch Gruppierungen ein, die schreckliche Verbrechen gegen die Menschlichkeit begehen. Solche Verhandlungen sind immer schwierig, in der aktuellen Situation in Syrien aber ganz besonders.

profil: Wodurch werden diese Gespräche erschwert? Thaler: Es gibt zu viele beteiligte Interessensgruppen. Beim IS sind die Strukturen nicht klar genug, als dass wir wirklich darauf vertrauen könnten, dass Vereinbarungen eingehalten werden. Hundertprozentig sicher ist man natürlich nie. Aber in Afghanistan, wo die Taliban sozusagen das Land regiert haben, gab es ganz klare Hierarchien und Ansprechpartner. Wir wussten, wer die konkreten Ansprechpartner sind, und konnten uns darauf verlassen, dass Vereinbarungen grundsätzlich eingehalten werden. Das fehlt in Syrien.

profil: Glauben Sie an eine baldige Lösung des Syrien-Konflikts? Thaler: So leid es mir tut, nein. Angesichts der aktuellen Situation, wird uns dieser Konflikt noch Jahre begleiten. Es kann zu einer Totaleskalation kommen, vor allem, wenn die regionalen Mächten mit Bodentruppen eingreifen. Es kann auch zu Phasen des Stillstands kommen. Selbst wenn es zu einer Waffenruhe kommt, werden uns die Folgen noch lange beschäftigen. Das Land ist zerstört. Funktionierende medizinische Einrichtungen gibt es kaum noch.

Zur Person Mario Thaler studierte Internationale Wirtschaftswissenschaften und ist seit 2011 Geschäftsführer von Ärzte ohne Grenzen Österreich.