Ein Pakt mit dem Chlorhühnchen

TTIP: Warum Panik vor dem Freihandelsabkommen unbegründet ist

EU. Warum Panik vor dem Freihandelsabkommen unbegründet ist

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Warum nicht mal ein Chlorhühnchen? Das Rezept geht so: Nach der Schlachtung des Huhns wird das gerupfte Tier zur Desinfektion in eine Chlorlauge geworfen. Es anschließend mit Trinkwasser abzuspülen, ist nicht nötig. Schon fertig, Mahlzeit!

Die leckere Anleitung stammt aus den USA, wo die Hühnerproduzenten diese Methode seit vielen Jahren anwenden. In der Europäischen Union ist der Import von Chlorhühnchen seit 1997 verboten. Noch. Aber nicht mehr lange, wenn man den sorgenvollen Kommentatoren Glauben schenkt, die den Fortgang eines gemeinsamen Projekts der USA und der EU verfolgen: die Verhandlungen zu dem geplanten Freihandelsabkommen TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership). Gemäß den düsteren Prognosen wird das aus der Chlorlauge gefischte Huhn noch das Appetitlichste sein, was auf Bürger und Konsumenten zukommt.

Auf dem Servierwagen warten nämlich: die generelle "Aufweichung von Lebensmittelsicherheit“ (Zitat: die globalisierungskritische Organisation Attac), "Hormon-Schnitzel zum Mittagessen“ (Zitat: die österreichischen Grünen), "der Verlust von Grundrechten“ (Zitat: die deutsche Piratenpartei), "die Liquidierung der Klimapolitik“ (Zitat: die US-Anwältin und Anti-Globalisierungs-Aktivistin Lori Wallach in "Le Monde diplomatique“), ein "Angriff auf Umweltschutz, Sozialstaat und Privatsphäre“ (Zitat: der Kandidat der österreichischen Grünen für die Wahlen zum EU-Parlament, Michel Reimon).

Diese empörenden Entwicklungen würden mittels der "Geheimoperation transatlantisches Freihandelsabkommen“ und "praktisch ohne Kontrolle des EU-Parlaments“ (Zitate: Bayerischer Rundfunk) über Europa hereinbrechen.

Nach außen sieht alles sehr harmlos aus. Die Europäische Kommission, repräsentiert durch Handelskommissar Karel de Gucht, verhandelt mit den USA über ein Abkommen, das Handelshemmnisse wie etwa Zölle, unnötige bürokratische Regelungen oder Investitionsbeschränkungen abbauen soll. Doch die lieblich-langweiligen Umschreibungen des Projekts fachen die schlimmen Verdächtigungen auf Seiten der Kritiker nur noch mehr an.

Aber sind die Vorwürfe auch stichhaltig?
Beginnen wir mit den Konkretesten: Chlorhuhn, Hormonschwein und Genmais dürfen dank des Freihandelsabkommens, so die Befürchtung, ungehindert und ohne Kennzeichnung europäische Märkte erobern. Das ist falsch. Die EU-Kommission hält fest, dass über die entsprechenden geltenden Gesetze nicht verhandelt werde. Ein Freihandelsabkommen baut zwar auf gemeinsamen Standards auf, doch jeder Seite ist es vorbehalten, in einzelnen Punkten auf ihren Gesetzen zu beharren.

Mexiko etwa musste sein Moratorium zum Anbau von gentechnisch verändertem Weizen, das seit 1988 in Kraft ist, nicht beenden, als es 1994 mit den USA und Kanada den Nordamerikanischen Freihandelspakt Nafta schloss. Der Agrar- und Biotechnologie-Konzern Monsanto drängt Mexiko seit vielen Jahren, ihm den Anbau von genetisch verändertem Weizen zu gestatten, doch Nafta gibt dem Konzern nicht die rechtlichen Möglichkeiten, dies zu erzwingen.

Im Gegenteil: Im Jahr 2002 bemerkten mexikanische Farmer das Auftauchen von Gen-Weizen auf ihren Feldern und verlangten die Einsetzung einer Kommission im Rahmen der Nafta. Deren Endbericht aus dem Jahr 2004 fiel eindeutig aus: Die Verbreitung des Gen-Weizens stelle eine Bedrohung dar. Die Position der USA, wonach von diesen Pflanzen keine Gefahr ausgehe, verwarf der Report mit dem Hinweis, dass es allein das Recht des mexikanischen Staates sei, festzulegen, ob er Gen-Pflanzen für unbedenklich halte.

Sollte der mexikanische Gesetzgeber jedoch die Produktion von Gen-Weizen gestatten - und derzeit gibt es Anzeichen dafür, dass dies bald der Fall sein könnte -, so tut er es aus eigenem Antrieb und nicht als Folge des 20 Jahre alten Freihandelspaktes.

Dasselbe gilt für die in Europa wenig beliebten Kreaturen, namentlich das Chlorhühnchen und das Hormonschwein. Kein US-Unternehmen kann die Öffnung des Marktes auf Basis allgemeiner Freihandelsregeln erzwingen, solange die europäischen Gesetze dies verbieten. Im Falle des Chlorhühnchens, dessen Verzehr für die Gesundheit völlig unbedenklich ist, zeichnet sich ein Kompromiss ab: Chlorhühnchen müssten demnach gekennzeichnet und dürfen nur im Ganzen verkauft werden. Eine solche Regelung kann die EU unabhängig von einem Freihandelsabkommen beschließen - oder nicht.

Ein weiterer Vorwurf lautet, Großkonzerne erhielten durch TTIP das Recht, Staaten zu verklagen, weil sie ihre Gewinne durch Gesetzesänderungen geschmälert sehen. Solche Klagen würden nicht bei einem ordentlichen Gericht des betreffenden Staates eingebracht, sondern in einem Schattengericht, das geheim verhandle.

Wahr ist: Ein Freihandelsraum benötigt eine rechtliche Instanz, die für die Einhaltung der Regeln zuständig ist. "Schattengericht“ ist die böswillige Bezeichnung für ein von allen Vertragspartnern anerkanntes Schiedsgericht, dessen Prozessordnung etwa im Fall von Nafta in Kursen der UN-Welthandels- und Entwicklungskonferenz (Unctad) gelehrt wird.

Gern werden Beispiele für angeblich übel motivierte Monsterklagen angeführt, beispielsweise jene des US-Öl-Konzerns Occidental Petroleum Corp. (Oxy) gegen den Staat Ecuador. Im Jahr 2006 warf Ecuador dem Oxy-Konzern vor, er habe Anteile ohne Genehmigung der Regierung weiterverkauft. In der Folge stornierte das Land den Vertrag zur Ölförderung und übertrug ihn an das Staatsunternehmen Petroamazonas. Oxy rief - wie in solchen Fällen üblich - ein Schiedsgericht an, und zwar das Internationale Zentrum zur Beilegung von Investitionsstreitigkeiten der Weltbank. Sechs Jahre später erging das Urteil: Ecuador habe nicht fair und angemessen gehandelt, der Staat müsse 1,77 Milliarden US-Dollar Entschädigung zahlen. Ecuador ging in Berufung.

Es leuchtet ein, dass für derartige Dispute nicht nationale Gerichte zuständig sind, sondern Schiedsgerichte. Laut Nafta-Regelwerk werden solche Schiedsgerichte mit Vertretern aus beiden betroffenen Ländern besetzt.

Auch der Fall des US-Öl- und Gas-Förderungskonzerns Lone Pine Ressources gilt als Beweis dafür, wie schädlich die Einräumung von Klagerechten durch Freihandelsabkommen sei. Das Unternehmen klagte die kanadische Provinz Quebec wegen eines Gesetzes, das Gasförderungen mittels der umstrittenen Fracking-Methode entlang des St.-James-Flusses verbot, auf eine Entschädigungszahlung von 250 Millionen US-Dollar. Lone Pine Ressources verfügte jedoch bereits über entsprechende Genehmigungen und hatte Investitionen getätigt, die dem Unternehmen gemäß den Nafta-Regeln nicht ohne Kompensation entzogen werden konnten.

Das heißt nicht, dass Quebec nicht das Recht hat, Fracking zu verbieten. Allerdings müssen bestehende Verträge in fairer Weise abgegolten werden. Das soll Rechtssicherheit bieten und Investoren motivieren, ins Land zu kommen. Hat jedoch ein Staat wie etwa Frankreich Fracking von vornherein verboten, braucht es keine Klagen von Konzernen zu fürchten.

Besonders hartnäckig fürchten sich Freihandelsgegner vor der Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, am liebsten vor dem Ausverkauf des Wassers. Auch diese Angst wird auf das geplante TTIP-Abkommen projiziert, bloß kann dies gar nicht Gegenstand der Verhandlungen sein, da öffentliche Dienstleistungen laut Vertrag von Lissabon Kompetenz der nationalen Regierungen sind.

Übrig bleibt eine diffuse Befürchtung der Kritiker, man könne eben gar nicht wissen, was die Vertragsparteien ausverhandelten, da der Inhalt der Gespräche nicht öffentlich gemacht werde. Wäre es denkbar, dass entgegen der Beteuerungen der EU-Kommission im TTIP-Vertrag all das festgeschrieben wird, was nach Chlorhuhn schmeckt? Der Kahlschlag bei Verbraucherschutz, Umweltrichtlinien und Sozialstandards?

Tja, was wäre dann? Dann würde das Vertragswerk wohl nicht die notwendige Zustimmung des Europäischen Parlaments und des EU-Rates und wohl auch nicht des US-Kongresses bekommen. Größere demokratische Hürden kann man vor einem internationalen Vertrag nicht errichten. Warum sollte ein EU-Parlament einen Vertrag beschließen, der in wesentlichen Punkten das Gegenteil von dem beinhaltet, was dasselbe Parlament an Gesetzen verabschiedet hat? So viel zum Vorhalt, das TTIP komme auf undemokratischen Wegen zustande.

Panik wegen des TTIP kann nur empfinden, wer Anhänger der Theorie ist, dass die Politik ausschließlich Interessen der internationalen Konzerne vertrete. Interessanterweise wurden sowohl Nafta als auch jetzt TTIP in den USA von einer jeweils demokratischen Administration - namentlich der von Bill Clinton und Barack Obama - vorangetrieben, die üblicherweise nicht als bedingungslose Büttel des Großkapitals gelten. Diese Überlegung mag man noch als politische Naivität abtun.

Es fällt jedoch auf, dass Schreckensszenarien im Vorfeld von Freihandelsabkommen so verlässlich entworfen werden, dass der Verdacht naheliegt, den Skeptikern sei die Idee solcher Verträge prinzipiell ein Dorn im Auge. Der linke US-Intellektuelle Noam Chomsky vertritt die Ansicht, Pakte wie Nafta und Institutionen wie die Welthandelsorganisation (WTO) würden im Wesentlichen den Konzernen dienen und den Arbeitern schaden. Wie sieht die Bilanz von Nafta nach 20 Jahren aus? Kommt darauf an, wen man fragt. Jobs seien geschaffen worden, sagen die einen, Jobs seien vernichtet worden, sagen die anderen. Gesichert sind folgende Fakten: Das Handelsvolumen zwischen den USA und Mexiko stieg von 1993 bis 2012 um 506 Prozent, während der Handel der USA mit Nicht-Nafta-Staaten nur um 279 Prozent wuchs.

Mexiko sei der größte Nutznießer des Abkommens, urteilt die britische Wochenzeitung "Economist“. Jedoch wurde der Einkommensunterschied zwischen den USA und Kanada auf der einen Seite und Mexiko auf der anderen nicht wettgemacht. Das jedoch könne man von einem Freihandelsabkommen auch nicht erwarten, sagt eine Studie der Weltbank, die nach dem ersten Jahrzehnt von Nafta errechnete, dass Mexikos Bruttoinlandsprodukt ohne Nafta um vier bis fünf Prozent niedriger wäre. Freihandel schafft Wachstum, ersetzt aber keine Entwicklungspolitik.

Der britische Think Tank Centre for Economic Policy Research (CEPR) schätzt den Vorteil des TTIP für die EU auf 0,9 Prozent Wachstum - pro Jahr. Das klingt nach Brosamen, bedeutet aber eine zusätzliche Wirtschaftsleistung von über 100 Milliarden Euro jährlich.

Dafür würde so mancher EU-Finanzminister gern ein Chlorhühnchen essen. Aber das Beste ist: Er muss nicht.