Nico Prucha und Rüdiger Lohlker untersuchen, wie sich IS-Propaganda auf Twitter verbreitet.

Twittern gegen Dschihadisten-Propaganda

Wiener Forscher entwickeln Strategien gegen die Dschihadisten-Propaganda im Internet - gemeinsam mit den Gelehrten der größten muslimischen Gruppe Indonesiens.

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Die Welt da draußen ist böse. Abgeschlagene Köpfe liegen unter wehenden schwarzen Flaggen, tiefe Männerstimmen brummen arabische Verse. Nico Prucha nimmt sein abgegriffenes iPad in die Hand. "Das hier ist vom Wochenende", sagt er und wischt mit dem Finger über den Bildschirm. Das Video beginnt, Full-HD, schneller Schnitt.

Was in den folgenden zwölf Minuten über den Bildschirm flimmert, hat Prucha schon oft gesehen. Er zuckt mit keiner Wimper - nicht, wenn die Männer in Schwarz die Messer auspacken; nicht, wenn sie die Klinge ansetzen, das Blut in den Sand rinnt.

Seit mehr als zwölf Jahren analysiert der Islamwissenschafter die Propaganda von dschihadistischen Gruppen. Er forscht an der Universität Wien, aber auch am International Centre for the Study of Radicalization and Political Violence in London. Der 36-Jährige spricht fließend Arabisch und untersucht die Videos, Texte und Lieder von Dschihadisten auf ihr theologisches Fundament hin. Als er damit anfing, gab es die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) noch nicht einmal.

Jetzt ist sie anscheinend überall. Im Wettlauf um die schaurigste Show im Internet führt sie vor anderen Gruppen wie Al Nusra oder Al Kaida. Ihre Videos werden von Medien-Gotteskriegern gedreht, es gibt Hochglanzmagazine als PDF zum Herunterladen und eigene Radiosender. Die Welt des Dschihad spricht Englisch, Deutsch oder Französisch, wird über Twitter oder Telegram verbreitet.

Wir haben dort den ernst gemeinten Versuch, eine Alternative zum hilflosen, formalistischen Islam zu entfalten

Seit ein paar Monaten versucht Nico Prucha, dagegenzuhalten. Besser gesagt, er hilft anderen dabei. Die Online-Dschihadisten sollen Konkurrenz bekommen. Dafür hat er mit einer Gruppe um den Wiener Islamwissenschafter Rüdiger Lohlker im Oktober das Vienna Observatory for Applied Research on Terrorism and Extremism (Vortex) gegründet.

Der Plan: eine Antwort auf den sich ausbreitenden Dschihadismus im Internet zu finden. Der Partner: die größte muslimische Gruppe im größten muslimischen Land der Welt, die Nahdlatul Ulama (NU) in Indonesien. Übersetzt bedeutet der Name so viel wie "Das Wiedererwachen der Gelehrten". Die sunnitische Organisation wurde 1926 gegründet, um den Scheichs der aufstrebenden saudischen Wahhabiten eine Gegenstimme zu bieten. Heute zählt die religiöse NGO laut eigenen Angaben über 50 Millionen Mitglieder und betreibt rund 14.000 religiöse Schulen.

Als Prucha vor zwei Jahren nach Jakarta flog, um einer NU-Delegation vorzuführen, was er sich zu Hause Tag für Tag ansieht, erntete er schockierte Blicke. Nicht, weil alles so brutal war - die Gelehrten waren vielmehr überrascht, dass sich die Dschihadisten auf die gleichen islamischen Texte beziehen wie sie selbst. Am Ende stellte Prucha ihnen die Gretchenfrage: Was hat das alles mit dem Islam zu tun? Die Indonesier hätten gewirkt, als würden sie die Frage nicht richtig verstehen. "Das ist islamisch", antworten sie. "Was denn sonst? Die denken das nur falsch."

Damit könne man arbeiten, befand auch Rüdiger Lohlker. Der 57-Jährige leitet das Projekt Vortex. "Ich will nicht alles idealisieren, was in Indonesien passiert", sagt der Islamwissenschafter: "Aber wir haben dort den ernst gemeinten Versuch, eine Alternative zum hilflosen, formalistischen Islam zu entfalten."

Sie sagen, dass es hier ein islamisches Problem gibt, das islamisch kritisiert werden muss

Den Indonesiern fällt das scheinbar leichter als den arabischen Scheichs. Sie leben an der Peripherie der islamischen Welt, die sich um die großen Moscheen und Universitäten in Mekka, Medina, Damaskus oder Kairo dreht. Auf den Tausenden Inseln ihres Landes entwickelten sich neben den konservativen auch mystische, offene Lesarten des Islam. Sie versuchen, zwischen den Zeilen den Geist der heiligen Schriften zu deuten, während im arabischen Zentrum ein Koranzitat meist mit einem anderen Koranzitat bekämpft wird. "Belegstellen-Islam" oder "Fatwa-Ping-Pong" nennt Lohlker die Methode. Denn das heilige Buch der Muslime ist an vielen Stellen widersprüchlich, den friedlichen Passagen lassen sich ebensoviele kriegerische entgegenhalten.

Kein Wunder also, dass die meisten westlichen Regierungen, einen Bogen um die religiöse Frage machen, wo immer es geht. Wer darauf hinweist, dass dschihadistische Ideologien im Islam an sich verwurzelt sein könnten, muss damit rechnen, sich im Eck der Islamhasser und Rechtsextremen wiederzufinden. Eine Angst, welche die mehrheitlich muslimischen Indonesier nicht haben. "Sie sagen, dass es hier ein islamisches Problem gibt, das islamisch kritisiert werden muss", sagt Lohlker.

In anderen Worten: Die Nahdlatul Ulama, die wiederwachten Gelehrten, wollen die Doktrin herausfordern.

Das soll im Internet passieren. Die Wiener Forscher spielen dabei die Social-Media-Berater. Zuerst zeigen sie den online eher unerfahrenen, indonesischen Islamgelehrten ihre Archive. Dadurch sollen diese lernen, wie das dschihadistische Denken aufgebaut ist und es Stück für Stück auseinandernehmen. Die Wissenschafter helfen, die Antwort in arabische 140-Zeichen-Tweets zu packen, die richtigen Hashtags auszusuchen. Es soll poppige Videos geben, Full-HD. Nur, dass es nicht von durchgeschnittenen Kehlen handeln wird, sondern von Friede, Toleranz und Barmherzigkeit.

Die geplante Kampagne ist nicht der erste Versuch, der Dschihad-Online-Propaganda etwas entgegenzusetzen. Die Liste ist lang und reicht von einem missglückt-ironischen Werbevideo der US-Regierung bis zur britischen YouTube-Serie "Abdullah X", in der eine Comicfigur mit HipHop-Kopfhörern um den Hals über den Glauben sinniert.

Was mögliche Resultate betrifft, bin ich aber unsicher

Counter-Narrative (Gegenerzählung) heißt die Strategie im Fachjargon. Sie hat sich zum Hype entwickelt. "Dabei ist bei den meisten Projekten nicht wirklich klar, welche Wirkmächtigkeit sie entfalten", sagt Christoph Günther, der am Orientalischen Institut der Universität Leipzig zu dschihadistischer Propaganda forscht. "Dazu bräuchte es groß angelegte sozialwissenschaftliche Studien." Das Vortex-Projekt findet er grundsätzlich spannend -weil es auf Arabisch arbeite und sich auf die Theologie konzentriere. "Was mögliche Resultate betrifft, bin ich aber unsicher", sagt Günther.

Im März war Nico Prucha drei Wochen in der Zehn-Millionen-Stadt Jakarta; er hielt Vorträge, schüttelte Hände und erklärte die IS-Propaganda. Er legt eine DVD auf den Tisch. "Die göttliche Gnade des Islam Nusantara" heißt der eineinhalbstündige Film, mit dem die NU eine erste Antwort auf die brutale Theologie der Kalifatsjünger geben will. Auch Nico Prucha spricht darin ein paar Sätze.

Die Hardcore-Dschihadisten erreichen wir damit nicht

Es ist ein Experiment, bei dem viele Stolpersteine im Weg liegen. Unter den zig Millionen NU-Mitgliedern gibt es auch Konservative, Skeptiker, Blockierer. Die Organisation selbst ist nicht makellos: Immer wieder mischte sie in der Politik mit, ihre Milizen machten sich bei Massakern an den Kommunisten in den 1960er-Jahren die Hände schmutzig. Dazu kommt die Frage, ob die sozialen und politischen Eigenheiten Indonesiens so einfach in weit entfernte Länder übertragbar sind. Am ehesten könnte es aber am Geld scheitern : Derzeit fehlen Tausende für das Projekt unabdingbare Internetanschlüsse.

Das erste Projektjahr wurde mit rund 150.000 Euro vom österreichischen Innenministerium finanziert. Counter-Narratives seien ein etabliertes Konzept, das gehöre mit zum Verfassungsschutz, sagt ein Pressesprecher. "Es ist sehr gut, wenn das Innenministerium erkennt, dass man mit Hard Power allein nicht weiter kommt", sagt Prucha.

Er wird "Die göttliche Gnade des Islam Nusaranta" österreichischen Jugendarbeitern zeigen, ein paar Szenen auf Deutsch übersetzen. So will er ein Gefühl bekommen, wie es hierzulande ankommt, wenn ein indonesischer Islamgelehrter über IS-Videos spricht. "Die Hardcore-Dschihadisten erreichen wir damit nicht, die bewegen sich in einem geschlossenen System", sagt Nico Prucha. Es geht ihm um die anderen: um alle, die noch nicht in die böse Welt gesaugt wurden.