1960 Vietnamkrieg - aufgereihte Leichen.

US-Imperialpolitik: Die Angst vor der großen Rache

Die amerikanische Weltherrschaft ist am Ende, jetzt droht späte Vergeltung durch die einst malträtierten Kolonialvölker, fürchtet Zbigniew Brzezinski. Georg Hoffmann-Ostenhof über eine bemerkenswerte Warnung des Architekten der US-Imperialpolitik.

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Um die amerikanische Weltherrschaft ist es nicht gut bestellt. Das weiß man nicht erst, seit die USA drei Kriege - den in Afghanistan, im Irak und jenen gegen den Terror - verloren haben. Bereits seit Jahren wird in den US-Medien und Denkfabriken über den Niedergang der Supermacht Amerika spekuliert. Jetzt aber stößt auch Zbigniew Brzezinski ins gleiche Horn.

Das darf als Sensation angesehen werden. Denn Brzezinski, ehemaliger Berater von US-Präsident Jimmy Carter und neben Henry Kissinger der führende Stratege der amerikanischen Außenpolitik, gilt geradezu als Architekt des Plans, die globale US-Vorherrschaft zu erreichen und zu erhalten. In einem Artikel unter dem Titel "Towards a Global Realignment" in der Sommernummer der US-Zeitschrift "The American Interest" erteilt er nun diesen Ambitionen eine Absage. Zwar seien die Vereinigten Staaten "nach wie vor die weltweit politisch, ökonomisch und militärisch stärkste Kraft", aber angesichts der komplexen geopolitischen Verschiebungen "nicht mehr die global imperiale Macht".

Keine imperiale Macht mehr: "CounterPunch", ein wichtiges Magazin der amerikanischen Linken, freut sich über den Schwenk des als Hardliner und Kalter Krieger verschrienen Brzezinski. Das sei ein klarer Hinweis darauf, dass das politische Establishment in Washington endgültig die Hegemonial-Bestrebungen im Nahen Osten und in Asien aufgegeben habe.

Ein tiefes Ungerechtigkeitsgefühl verbinde sich nun mit religiösen Motiven und werde so virulent.

Brzezinski hatte 1997 in seinem berühmten Hauptwerk "The Grand Chessboard" postuliert, die USA sei die "einzige und letzte Weltmacht" und Eurasien (Europa plus Asien) jenes "Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft auch in Zukunft ausgetragen wird". Brzezinski postulierte damals, das erste Ziel amerikanischer Außenpolitik müsse sein, "dass kein Staat oder keine Gruppe von Staaten die Fähigkeit erlangt, die Vereinigten Staaten aus Eurasien zu vertreiben oder auch nur deren Schiedsrichterrolle entscheidend zu beeinträchtigen". Man müsse "das Emporkommen eines Rivalen um die Macht vereiteln".

Damit ist es nun, fast zwei Jahrzehnte danach, vorbei. "Das Schachbrett ist zerbrochen", ätzt "CounterPunch". Brzezinski lässt das Imperium abdanken. Anstelle des Kampfs um die Vorherrschaft trete nun, so schreibt er, die Notwendigkeit eines neuen "global realignment", einer neuen Weltordnung, in der Amerika zu Russland und China nicht mehr in konfrontativer Konkurrenz steht, sondern mit diesen eurasischen Mächten kooperiert und gemeinsam mit ihnen Ordnung in das immer bedrohlicher werdende globale Chaos bringt.

Dass Brzezinski seine imperiale Geostrategie aufgibt, ist zweifellos bemerkenswert. Noch spektakulärer ist die Begründung, die er für seinen Perspektivwechsel angibt. Er verweist - wie viele andere auch -auf den Aufstieg Chinas und Russlands und auf die Schwäche Europas. Im Zentrum seiner Überlegungen steht aber die Entwicklung des Nahen Ostens. Und da wird es spannend. Im Unterschied zu vielen anderen tut er den islamistischen Terrorismus nicht bloß als Ausfluss eines verrückten "Hasses auf unsere Freiheit" ab. Er versucht zu verstehen: "Das gewaltsame politische Erwachen bei den postkolonialen Muslimen ist nicht zuletzt eine verspätete Reaktion auf die vergangene brutale Unterdrückung vor allem durch die europäischen Mächte", schreibt er. Diese lange verdrängte Erinnerung tauche plötzlich auf. Ein tiefes Ungerechtigkeitsgefühl verbinde sich nun mit religiösen Motiven und werde so virulent.

Es wird einem erst so recht bewusst, welche Hekatomben, welche Leichenberge allein die imperiale und koloniale Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte aufgetürmt hat.

Er geht in seiner Analyse weiter: Was heute im Nahen Osten geschieht, "ist vielleicht nur der Beginn eines viel größeren Phänomens, das in den kommenden Jahren auch Afrika, Asien und selbst die präkolonialen Völker der westlichen Hemisphäre erfassen könnte", mutmaßt er.

Und nun folgt etwas überaus Überraschendes. Was bisher vor allem linken Moralisten und romantischen Dritte- Welt-Freunden als Erklärungsmodell für alles Böse und alles Elend dieser Welt herhalten muss - die Untaten der Kolonialmächte -, breitet Brzezinski, ein durch und durch realpolitischer, zuweilen sogar zynischer Stratege, aus.

Von der faktischen Ausrottung der indigenen Bevölkerung in Amerika über die Massaker der Briten in Indien, die genozidale Herrschaft des belgischen König Leopold II. im Kongo bis zum Verhalten der USA im Vietnam-Krieg in den 1960erund 1970er-Jahren (den Brzezinski damals unterstützte): Alle diese Massaker und Massenmorde und noch viele mehr reiht er aneinander und fügt penibel die Anzahl der dabei Getöteten an. Sie reichen jeweils von Hundertausenden bis zu mehreren Millionen.

Gerade auch die Grauen der Geschichte des Mittleren Osten und der islamischen Welt nimmt er sich vor, wobei er den ehemaligen westlichen Kolonialmächten -den Holländern in Indonesien, den Franzosen in Algerien, den Italienern in Libyen - ihre Brutalitäten und Massenmorde vorrechnet und bis hinauf zum amerikanischen Afghanistanund Irak-Krieg (den er nicht unterstützte) die riesige Anzahl der dabei ums Leben gekommenen Opfer anführt. Auch die massenhaften Umsiedlungen islamischer Völker im russischen und sowjetischen Reich, die blutige Niederschlagung moslemischer Aufstände durch Moskau und die brutale Intervention der Roten Armee in Afghanistan am Ende des 20. Jahrhunderts lässt Brzezinski nicht unerwähnt.

Es wird einem erst so recht bewusst, welche Hekatomben, welche Leichenberge allein die imperiale und koloniale Geschichte der vergangenen zwei Jahrhunderte aufgetürmt hat. Man erschrickt bei Brzezinskis nüchterner Zusammenfassung all dieser historischen "Sünden" - nicht zuletzt, weil er das eben nicht in moralischer oder denunziatorischer Absicht tut, sondern weil es ihm dazu dient, die Herausforderungen, die auf die Welt zukommen, ganz realistisch darzustellen.

Bei aller berechtigten Angst, die einen angesichts solcher Perspektiven beschleichen könnte: Hoffnungslos muss man nicht in die Zukunft blicken.

Und diese sind für Brzezinski offenbar nicht mehr mit seiner "amerikanischen Weltherrschaft" zu bewältigen. Die wäre, wie auch immer etabliert, einfach viel zu schwach. Da muss eine Realignment her, in dem alle Großmächte, allen voran USA, Russland und China, zusammenarbeiten, um der drohenden späten Rache der einst geschundenen, malträtierten und erniedrigten Völker des Südens zu begegnen.

Gewiss mag diese höchst beunruhigende Perspektive zum Teil einem Alterspessimismus geschuldet sein - Brzezinski ist immerhin bereits 88 Jahre. Aber die Horrorvorstellung, dass der "Islamische Staat" womöglich bloß so etwas wie die Avantgarde einer globalen Entwicklung wäre, bekommt einige Plausibilität, wenn man folgendes bedenkt: Breite Teile dessen, was man früher als Dritte Welt bezeichnete, sind im Aufstieg begriffen - sowohl was die Ökonomie als auch das Selbstbewusstsein betrifft. Die Alphabetisierungsraten sind in den vergangenen drei Jahrzehnten geradezu explosionsartig in die Höhe geschossen. Und die Revolution der Kommunikationstechnologie ermöglicht es der breiten Masse in den Entwicklungsländern erstmals in der Geschichte, ihre Lebenssituation mit jener der Menschen ihrer früheren Kolonialmächte zu vergleichen. Da nähme es nicht Wunder, würde sich eine kollektive Erinnerung an die einst erlittene Ungerechtigkeit entwickeln.

Bei aller berechtigten Angst, die einen angesichts solcher Perspektiven beschleichen könnte: Hoffnungslos muss man nicht in die Zukunft blicken. Zum einen ist nicht ausgeschlossen, dass sich die historischen Abrechnungen nicht überall in archaischer Irrationalität wie beim islamistischen Terror ausdrücken. Kann der Zorn über vergangenes und aktuelles Unrecht nicht auch in emanzipatorischem Gewande auftreten? Zum anderen aber könnte sich doch noch alles zum Guten wenden -wenn, konfrontiert mit der großen Gefahr, eine wie immer geartete "neue Weltordnung" sich zu einem globalen Ausgleich durchränge.

Und dieser ist in jedem Fall eine historische Notwendigkeit.

Georg Hoffmann-Ostenhof