Die Saat der Innovation

Asket und Klanggenie: Claudio Abbado, 1933-2014

Nachruf. Claudio Abbado, 1933-2014

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Er galt als unprätentiös, asketisch und als Meister des transparenten Orchesterklangs. Mit Claudio Abbado, der am Montag vergangener Woche in Bologna 80-jährig einem Krebsleiden erlag, hat die Musikwelt jedenfalls eine ihrer charismatischsten Leitgestalten verloren. Zwar war auch der am 2. Juni 1933 in eine Mailänder Musikfamilie geborene Claudio Abbado "nur“ ein Nachschöpfer, einer, der die Noten, die andere geschrieben hatten, zu lesen und zu deuten vermochte und sie so zum Leben erwecken konnte. Doch er war eben auch viel mehr: ein Inspirator, ein Denker, ein Beflügler, ein Gründer.

Mit seinen Freunden, dem Komponisten Luigi Nono und dem Pianisten Maurizio Pollini, versuchte der künstlerisch gebildete Bürgersohn mit linker Gesinnung, die Moderne auch der arbeitenden Klasse nahezubringen. Er kannte sich in der Vergangenheit aus, gestaltete die Gegenwart und wusste die Zukunft zu planen. In seinen jungen Jahren strebte der Absolvent des Mailänder Konservatoriums nicht die große Weltkarriere an. Ihm war die Kammermusik das Liebste, das freigiebige Teilen seines Talents und seiner Intentionen. Und so setzte er auch jeden weiteren Schritt seiner sich in den 1960er-Jahren bereits deutlich abzeichnenden Karriere. Natürlich wurde seine Position autoritärer, die Machtfülle größer. Aber immer ging es Claudio Abbado zuallererst um die Musik - und nicht um die eigene Eitelkeit.

In einer vermeintlich konservativen Gattung wie der klassischen Musik und ihrem nur schwerfällig sich ändernden Betrieb hatte er die Saat der Innovation gestreut. Daniel Barenboim kannte er, seit er ihn als Elfjährigen erstmals hörte, mit dem jungen Zubin Mehta, der ihn zum Dirigierstudium bei dem legendären Hans Swarowsky vermittelte, sang er im Wiener Singverein, auch um Herbert von Karajan ganz nah zu sein. Wo Claudio Abbado war, da wuchs Exzellenz. Nach einigen Jahren der Freiheit, in denen freilich seine ersten Plattenaufnahmen, die Debüts mit den Wiener Philharmonikern oder bei den Salzburger Festspielen 1965, stattfanden, übernahm er 1968, mit immerhin schon 35, seinen ersten festen Posten: gleich als Dirigent, ab 1971 zusätzlich auch als Musikchef der Mailänder Scala. Hier wurden Verdi und Rossini in legendären Inszenierungen geistig wie klanglich einer präzisen Prüfung unterzogen. Die CD- und DVD-Ergebnisse halten auch heute noch allen Maßstäben stand. Hier wurde aber eben von ihm auch Luigi Nonos "Al gran sole“ uraufgeführt.

16 Opern an 173 Abenden
Die anhaltenden Finanzkrisen am Haus ließen Abbado an der Scala schließlich resignieren. Er hatte längst Bindungen zu den Wiener Philharmonikern und dem London Symphony Orchestra geknüpft. An der Donau agierte er von 1986 bis 1991 als Musikdirektor der Staatsoper - menschlich nicht seine glücklichste Zeit, trotzdem mit formidablen Erlebnissen in 16 Opern an 173 Abenden. Erinnert sei nur an seine Dirigate von Mussorgskys "Chowanschtschina“, der "Elektra“ von Richard Strauss oder Schuberts "Fierrabras“ - oder an den Riesenspaß mit dem von ihm wiederentdeckten All-Stars-Event "Die Reise nach Reims“ von Rossini.

In Wien wurde ab 1988 die von ihm gemeinsam mit dem späteren Salzburger Konzertchef Hans Landesmann geplante, bis heute bestehende Reihe "Wien Modern“ ein überwältigender Erfolg. Hier wurde deutlich, wie sehr sich der Lehrersohn und Pädagoge Abbado dafür zu interessieren begann, durch Neugründungen und alternative Institutionen das herkömmliche Musizieren zu hinterfragen. 1977 übernahm er die Leitung des Europäischen Jugendorchesters. Auch das professionelle Chamber Orchestra of Europe wurde von Abbado mit aufgebaut. Zudem begründete er 1986 das bis heute von Wien aus als Elite-Nachwuchsschmiede geführte Gustav-Mahler-Jugendorchester, aus dem 1997 das Mahler Chamber Orchestra hervorging. 2003 gründete er das Lucerne Festival Orchestra, später noch das in Bologna beheimatete Orchestra Mozart. Dieses freilich musste inzwischen seinen Betrieb einstellen, seit sein Mentor so schwer erkrankt war.

Neben der Scala-Zeit waren die wohl wichtigsten Abbado-Chefjahre jene, die er als Nachfolger Karajans bei den Berliner Philharmoniker zwischen 1989 und 2002 absolvierte - zwar überschattet von Unstimmigkeiten und Krisen, ab dem Jahr 2000 aber auch von einem wunderbaren Nachsommer durchglüht. Es war eine Zeit des Aufbruchs, des Neudenkens, wie sie kein anderes weltberühmtes Orchester in dieser Konsequenz geleistet hat. Abbado konnte hier und in Salzburg bei den (allerdings nur mit halber Kraft betreuten) Osterfestspielen zwischen 1994 und 2002 weiterhin einzigartige Opernaufführungen stemmen. Erst seit der Ära Abbado kann man bei den Berliner Philharmonikern streiten, reden und anschließend wie neu musizieren - eine Kultur, die auch Simon Rattle begierig aufgriff und neu interpretierte.

Was war das Geheimnis Claudio Abbados?
Er besaß die für einen Dirigenten so essenzielle Begabung der Kommunikation. Er konnte sich auch stumm mitteilen, durch Willen und Geist. Er konnte teilen. Er brachte andere dazu, sich ihm anzuschließen, über sich hinauszuwachsen. Und er wusste, warum er das tat: weil er etwas zu sagen hatte.