Über Freiheit und Mitläufertum

Barbara Yelin: "Diese Sprachlosigkeit steht für eine ganze Generation"

Interview. Comicautorin Barbara Yelin über ihr Buch "Irmina", den Nachlass ihrer Oma und Arbeit ohne freien Tag

Drucken

Schriftgröße

Interview: Stephan Wabl

England, 1934. Die junge deutsche Übersetzerin Irmina verliebt sich in London in den farbigen Oxford-Studenten Howard. Doch als sich die politische Lage in Deutschland zuspitzt, muss die selbstbewusste Frau zurück in ihr Heimatland und ihren Traum eines emanzipüierten Lebens in der Fremde hinter sich lassen. Erst Jahrzehnte später kommt es zu einem Wiedersehen. Dazwischen liegen die Hochzeit mit einem aufstrebenden Naziarchitekten, die Gräuel des 2. Weltkriegs, Sprachlosigkeit, viele kleine Entscheidungen und große Enttäuschungen. profil online hat sich mit der deutschen Comicautorin Barbara Yelin über ihr neues Werk unterhalten.

profil online: Nach Ihrem letzten Buch "Gift", die Geschichte eines Kriminalfalles Anfang des 19. Jahrhunderts, ist Ihr neuer Comicroman "Irmina" in der Zeit der Naziherrschaft angesiedelt. Haben Sie ein besonderes Interesse an historischen Themen?
Barbara Yelin: Dass ich nach "Gift" wieder einen historischen Stoff bearbeitet habe, ist Zufall. Die Themen, die mich beschäftigen, suche ich mir nicht nach der Zeit aus, in der sie spielen, sondern weil sie sich festsetzen und gewisse Frage aufwerfen, die mich interessieren. Dass es sich bei "Gift" und "Irmina" um historische Stoffe handelt, hat sich daher zufällig aus den für mich spannenden Fragen ergeben. Aber ich habe zwischen den beiden Büchern auch andere Arbeiten gemacht, zum Beispiel einen täglichen Comicstrip für eine Zeitung, Comicreportagen oder Comics für Kinder.

profil online: Bei "Gift" hatten Sie mit Peer Meter noch einen Autor, "Irmina" haben Sie jedoch grafisch und textlich alleine gestaltet.
Yelin: Ich wollte bei diesem Projekt unbedingt alleine arbeiten. Die Zusammenarbeit bei "Gift" war sehr spannend und lehrreich. Die aktuelle Geschichte wollte ich aber selbst erzählen. Einerseits, weil sie einen persönlichen Hintergrund hat. Andererseits wollte ich mich aber auch als Autorin weiterentwickeln und beide Elemente selbst gestalten. Denn die Verbindung aus Texten und Zeichnen ist einfach ein superspannender Prozess. Letztlich wollte ich gestalterische Fragen wie "Wie viele Wörter brauche ich?", "Welche Bilder sollen was erzählen?", "Wie verbinde ich beide?" und "Was kann ich wieder weglassen?" alleine für mich lösen. Wenn ich nur texte, wird das bei mir oft nicht richtig lebendig. Ich brauche das Zeichnem, um die Texte mit Leben zu füllen. Mein primärer Zugang ist natürlich die visuelle Seite, aber Text und Bild eigenständig zusammenzuführen, ist beim Comic der spannendste Punkt.

profil online: Wie lange haben Sie an "Irmina" gearbeitet?
Yelin: Das war ein längerer Arbeitsprozess. Im Frühjahr 2010 habe ich angefangen, konkret über "Irmina" nachzudenken. Das biografische Ausgangsmaterial aus dem Nachlass meiner Großmutter hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon. Für mich zu klären, was ich davon für die Geschichte verwenden und was ich überhaupt erzählen möchte, war dann allerdings ein relativ langer Prozess. Konkret an den Seiten gezeichnet habe ich schließlich 18 Monate, davon die letzten neun Monate ohne freien Tag.

profil online: Ihr Ausgangspunkt für die Geschichte war der Nachlass Ihrer Großmutter. Wie hat sich daraus die Idee für das Buch ergeben?
Yelin: Als ich auf den Nachlass meiner Großmutter - Briefe, Tagebücher und andere persönliche Fundstücke - gestoßen bin, hat sich mir die Frage gestellt, wie sie von einer freiheitsliebenden jungen Frau zu einer Mitläuferin werden konnte. Die Biographie meiner Großmutter ist nur bruchstückhaft dokumentiert und diente in erster Linie als Inspiration. Die vielen Leerstellen haben mir dementsprechend viel Freiheit für das literarische Erzählen gegeben. Auf Grundlage des Nachlasses und der Beschäftigung mit den damaligen Ereignissen uns Lebenssituattionen war mir dann klar, was mich interessiert und was Irminas Geschichte erzählen soll. Nämlich die Geschichte einer selbstbewussten Frau, die unbedingt auf eigene Beine kommen will, sich allerdings selbst verrät und zu einer Wegseherin und Vorteilsnehmerin wird, weil sie in erster Linie ihren eigenen gesellschaftlichen Aufstieg im Fokus hat.

profil online: Wie haben Sie versucht, diese Entwicklung grafisch zu erzählen?
Yelin: Nehmen wir zum Beispiel die Szene beim Novemberpogrom 1938. Da habe ich versucht, erkennbar zu machen, wie die Bevölkerung auf die sichtbaren Verbrechen der Nazis reagiert und wie das Wegsehen ganz konkret funktioniert hat. Bei dieser Szene sind die Bildausschnitte zunächst noch klein, es ist gar nicht ganz klar, was hier passiert und in welcher Situation sich Irmina gerade befindet. Die Enge der Ausschnitte verdeutlicht die Verengung ihres Blicks. Erst durch die folgende Doppelseite mit der zerstörten Synagoge wird deutlich, was hier gerade ausgeblendet wird und wie sich Irmina in diesen Umständen verhält.

profil online: Wie sind Sie eigentlich auf den Namen und Titel "Irmina" gekommen?
Yelin: Irmina ist ein fiktiver Name. Ich habe aber versucht, den Namen an den Faktoren, die zum Buch passen, auszurichten. Ich habe einen Namen gesucht, der selten ist und auffällt. Denn am Ende erfahren wir ja, dass Howard, Irminas Liebe aus ihrer Zeit in England, seine Tochter nach ihr benannt hat. Hätten ich einen Namen wie Anna oder Emma verwendet, wäre das wahrscheinlich gar nicht aufgefallen. Ich habe aber auch einen Namen gesucht, in dem etwas altmodisch Deutsches zu hören ist. Zudem wollte ich aber auch keinen Namen, der an eine berühmte Person erinnert. Denn das Buch soll nicht als Biographie, sondern als eine mögliche, aber ganz konkrete Lebensgeschichte wahrgenommen werden.

profil online: In der Mitte des Buches gibt es einen Satz von Gregor, Irminas späteren Ehemann, der zu diesem Zeitpunkt versucht, als Architekt unter den Nazis Erfolg zu haben: "Irmina, irgendetwas an Ihnen hat sich verändert." Ist das der Schlüsselsatz des Buches?
Yelin: Diese Szene ist sicherlich wegweisend. Kurz zuvor bekommt Irmina ihren nicht zugestellten Brief an Howard zurück, danach folgt die große Doppelseite mit einem Naziaufmarsch. Irgendwo zwischen diesen beiden Bildern hat Irmina eine Entscheidung getroffen: Wenn mir auf dem einen Weg der gesellschaftliche Aufstieg nicht gelingt, dann entscheide ich mich eben für den Weg, der mir nun angeboten wird und der mir scheinbar bessere Chancen einräumt. Gleichzeitig weiß sie natürlich, was diese Entscheidung mit sich bringt. Denn sie hätte die anderen Möglichkeiten und ihr ist bei ihrer Entscheidung auch bewusst, was Howard ihr in England vermittelt hat: Nämlich, dass Freiheit nicht etwas ist, das auf dich wartet. Sondern dass Freiheit etwas Anstrengendes ist. Sien will aber unbedingt aufsteigen und entscheidet sich daher dagegen.

profil online: Kann man ihr für ihre Entscheidungen Vorwürfe machen?
Yelin: Mir als Autorin ist wichtig, diese Frage nicht vorab zu beantworten, sondern diese Auseinandersetzung dem Leser zu überlassen. Sagen wir so: Ich finde es als Erzählerin sehr schmerzhaft, dass Irmina diese Entscheidungen trifft. Und es ist klar, dass diese Entscheidungen eben nicht die einzig möglichen gewesen wären - und dass ihre Entscheidungen darüber hinaus ja nicht nur Konsequenzen für sie selbst, sondern auch für andere hatte. Irminas Entscheidungen spielen zwar in einer spezifischen Zeit, aber dahinter steckt generell die Frage, wie man sich selbst unter schwierigen Umständen treu bleiben kann. Irminas Geschichte ist eine Charakterstudie, die nicht an historische Umstände gebunden ist. Auf der einen Seite hat sie sympathische Züge und in ihrer Suche nach Unabhängigkeit auch etwas Modernes. Auf der anderen Seite ist sie auch sehr verschlossen, auf sich selbst fokussiert und will keine Schwäche zeigen. Diese psychologischen Elemente sind für die Geschichte zentral und tragen zu Irminas Entscheidungen bei.

profil online: Das Leben von Howard, der zu Beginn auch nicht besonders mutig ist, gelingt jedoch, während Irmina verbittert älter wird. Beim Lesen hat man am Ende fast das Gefühl, dass die Geschichte unfair endet.
Yelin: Howard findet jene Erfüllung, die Irmina angestrebt hat. Ob das unfair oder fair ist, möchte ich gar nicht beurteilen. Howard hat sich den Herausforderungen am Ende einfach mehr gestellt. Mag sein, dass dabei auch Schicksal oder Glück eine Rolle spielt. Aber es geht auch um kleine Entscheidungen: Wie behandle ich meine Kinder oder wie öffnet man sich seiner eigenen Vergangenheit. Irmina hat ihren kleinen Radius jedoch nie verlassen. Sie verwandelt Enttäuschung in Bitterkeit.

profil online: Irmina hätte nach ihren Entscheidungen während der Nazizeit noch genügend Zeit gehabt, um ihr Leben neu zu ordnen.
Yelin: Ja, aber sie hat sich verschlossen ihrer eigenen Vergangenheit und ihren unerfüllten Zielen gegenüber. Sie spricht später auch nicht über diese Zeit. Um diese Sprachlosigkeit ist es mir auch stark gegangen. Da schwingt eine Einsamkeit und ein Schicksal mit, das vielleicht auch stellvertretend für eine ganze Generation stehen kann. Hier wollte ich aber auch Raum für die eigenen Familienerfahrungen des Lesers schaffen.

profil online: "Was gehen uns die Juden an?" ist ein weiterer zentraler Satz des Buches, den Irmina äussert, der auch heutzutage noch fallen könnte. Was erzählt uns "Irmina" über unsere Zeit?
Yelin: Heute hören wir auch Sätze wie "Was gehen uns die Flüchtlinge an?" oder überhaupt "Was gehen uns die anderen an?". Obwohl Irmina natürlich in einer spezifischen historischen Zeit spielt, erzählt uns die Geschichte etwas darüber, wie wichtig es ist, sich zu öffnen, es sich nicht zu bequem zu machen und aus Angst seine Empathie gegenüber den Mitmenschen zu verlieren. Das sind nun sehr moralische Ansprüche, die ich in dieser Art auch nicht plakativ im Comic verwendet habe. Aber wenn die Geschichte dazu anregt, darüber nachzudenken, welche Entscheidungen wir treffen, wäre das toll. Mir ist beim Zeichnen sehr klar geworden, dass wir heute die Freiheit haben, über unser Leben und wie wir es führen möchten selbst zu entscheiden. Dabei geht es auch um kleine Dinge, wie einkaufen, worüber ich mit Menschen spreche, was ich unterstütze. Denn der persönliche Radius ist meist größer, als man denkt. Die eigene Bequemlichkeit steht einem aber oft im Weg.

Irmina: 288 Seiten, farbig, 19,5 x 23,5 cm, Hardcover, reprodukt Verlag. Mit einem Nachwort von Dr. Alexander Korb.

Zur Person
Barbara Yelin (37) lebt und arbeit als Comiczeichnerin und -autorin in München. Ihre ersten beiden Bücher, das Bildermärchen "Le Visiteur" und der Comic "Le Retard", erschienen in Frankreich. Der Comicroman "Gift" über den historischen Bremer Kriminalfall Gesche Gottfried erschien 2010. Im Frühjahr 2012 war Yelin Artist in Residence in Linz, im Winter 2015 wird sie als Artist in Residence in Krems arbeiten, wo es im Karikaturmuseum eine Ausstellung zu "Irmina" geben wird.

+++ Klicken Sie sich durch Auszüge aus "Irmina" in der Bilderslideshow zu Beginn des Interviews (Foto) +++