Mensch des Jahres 2011

Giorgos Papandreou: Ich habe dem Sturm ins Auge geblickt

Giorgos Papandreou: Der Mensch des Jahres 2011.

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Von Gunther Müller und Robert Treichler

Ein Mensch des Jahres sollte im Beobachtungszeitraum nicht unbedingt eine Gruppe repräsentieren, die für das größte Schlamassel des Kontinents verantwortlich ist. Er sollte auch nicht mit Ankündigungen alle Welt gegen sich aufbringen und sie danach wieder revidieren. Schließlich ist es auch eher kontraproduktiv, im fraglichen Jahr jegliches Vertrauen und am Ende auch noch den Job zu verlieren.

Diesmal sieht sich die profil-Redaktion veranlasst, eine Ausnahme zu machen. Wir präsentieren den Menschen des Jahres 2011: Giorgos Papandreou, den Großteil des Jahres griechischer Premier, Hassfigur vieler europäischer Medien, von Europas Regierungschefs gerüffelt, eine grobe Enttäuschung für seine Wähler, am 9. November schlussendlich mit Schimpf und Schande aus dem Amt gejagt – auch wenn der Rücktritt formal freiwillig war.

Hm. Und sonst? Hat er ­irgendetwas Vorzeigbares geleistet?

Beginnen wir mal so: Unstrittig war die Krise des Euro und die der Europäischen Union in unserer Umgebung das bestimmende Ereignis des vergangenen Jahres. Hätte einer der Protagonisten – infrage kamen am ehesten die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsident – eine Lösung des immensen Problems gefunden, wäre die Wahl zum Menschen des Jahres leichtgefallen. Nach einhelliger Meinung nicht nur dieser Redaktion war dem leider nicht so. Stattdessen blieb das Problem der Star der Berichterstattung, und das Epizentrum des Fiaskos war Griechenland. „Was tun mit den Griechen?“ beschäftigte nicht nur Ökonomen und Politiker, sondern auch den einfachen europäischen Bürger so sehr, dass die umstrittene Antwort auf diese Frage sogar Wahlen in Finnland entschied – die Partei „Wir Finnen“ katapultierte sich mit der Ablehnung jeglicher Griechenland-Hilfe bei den Parlamentswahlen von fünf auf 39 Abgeordnete.

Die Griechen seien faul, daher das ganze Desaster – darüber war sich Europa weitgehend einig. Das Gesicht zu diesem Jammervolk hatte einen Namen: Giorgos Papandreou. Wann immer Hiobsbotschaften aus Athen gemeldet wurden – noch tiefere Budgetlöcher, noch größerer Bedarf an Hilfsgeldern, noch tiefere Rezession, noch größere Streiks –, kam er ins Bild. Ein fast kahler Schädel mit wenig silbergrauem Haar an den Seiten, Schnauzbart, elegante Erscheinung, freundliche Ausstrahlung, wenn er nicht gerade die Stirn in Sorgenfalten legte, und das musste er meistens.

Giorgos Papandreou machte im Jahr 2011 den Job, den niemand zu Ende bringen hätte können. In seinem Arbeitsalltag wurden ihm mehr Pistolen an den Kopf gehalten, als er Schläfen hat. Merkel, Sarkozy und die anderen Regierungen zwangen ihn zu Sparmaßnahmen, wie sie noch nie ein demokratisch gewählter europäischer Ministerpräsident in Friedenszeiten durchgesetzt hatte. Die Opposition von links und rechts bedrohte ihn täglich mit dem politischen Dolchstoß. Und immer mehr Abgeordnete seiner eigenen Partei, der sozialdemokratischen PASOK, schlossen sich dieser Drohung an. Aus dem Volk schlug ihm wachsender Hass entgegen. Die gefährlichste Waffe, die auf ihn gerichtet war, hielten Kräfte in der Hand, die anonym blieben: die Märkte.

Um alles noch schlimmer zu machen, war Papandreou selbst unbewaffnet. Er hatte nicht einmal ein griechisches Bauernmesser in der Sakkotasche. Kein Geld im Staat, kein Volk hinter sich, kein Schulterschluss im Parlament. Papan­dreou konnte nur mit Worten überzeugen, flehen oder zornig aufstampfen.

Nach eigener Einschätzung hat der 59-Jährige von seinem Amtsantritt im Oktober 2009 bis zum Rücktritt am 9. November 2011 sein Land vor dem endgültigen Bankrott und sein Volk und Europa vor einer Katastrophe bewahrt. Man muss sich dieser Meinung nicht anschließen. Unstrittig ist, dass Giorgos Papandreou als Politiker,der in der Eurokrise seine Machtlosigkeit gegenüber den Kräften der internationalen Finanzökonomie einsehen musste, eine prototypische Figur unserer Zeit darstellt.

Als Papandreou einen seiner letzten Akte als Ministerpräsident setzte und ein Referendum über eine Vereinbarung Griechenlands mit der EU ankündigte, war sein Schicksal besiegelt. Einen zugleich „tragischen Helden“ und „Machtopportunisten“ sah der deutsche Philosoph Jürgen Habermas damals in Papandreou. Der habe „das Verdienst, den zentralen Konflikt, der sich heute in die ungreifbaren Arkanverhandlungen zwischen Eurostaaten und Banklobbyisten verschoben hat, für eine Schrecksekunde ins Licht jener Arena zurückgeholt zu haben, wo aus Betroffenen Beteiligte werden können“, so Habermas in einem Beitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“.

Tragisch? Bestimmt. Ein Held? Hier kommt er.

Es ist ein warmer Abend im Dezember, vom Dach des Sitzes der PASOK in der ­Ippokratous-Straße 22 in Exarchia, dem linken Studentenviertel von Athen, sieht man die Akropolis im leuchtend rosa Sonnenuntergang. So friedlich war es in der griechischen Hauptstadt viele Monate lang nicht. Die allgemeine Erschöpfung und die Tatsache, dass jetzt eine im Konsens ernannte Technokratenregierung an der Macht ist, haben die Demonstrationen abebben lassen. Auch von Giorgos Papan­dreou ist der Druck gewichen. Seine Arbeitstage sind immer noch lange. Zwar ist er nicht mehr Premier, aber als Chef der größten Parlamentspartei bleibt er in alle Entscheidungen eingebunden.

Die Tür zu seinem Büro geht auf, er kommt lächelnd heraus. Keine Spur von Müdigkeit. Seine Mitarbeiter haben vorher stolz ein Foto ihres Chefs aus einer „Stern“-Reportage hergezeigt, auf dem ­Papandreou im Meer schwimmt. Beeindruckender Oberkörper. Jetzt ein kräftiger Händedruck. Die erste Frage stellt er selbst.

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Papandreou: Warum hat mich profil zum Menschen des Jahres gewählt?

profil: Wann immer 2011 schlechte Nachrichten bekannt wurden, waren Sie zu sehen. Griechenland und damit auch Sie waren im Epizentrum des Problems.

Papandreou nickt. So hat er das Jahr auch in Erinnerung.

profil: Sollte der Euro zerfallen, wird in den Geschichtsbüchern einmal zu lesen sein: Alles hat in Griechenland begonnen, Griechenland ist schuld. Stimmt das?

Papandreou: In Griechenland hat die aktuelle Krise begonnen, das stimmt. Ausgelöst wurde sie durch die Angst der Märkte und die strukturellen Fehler in unserem politischen System – in Griechenland und in der gesamten Eurozone.

profil: Sie akzeptieren als griechischer Ex-Premier die Schuld Griechenlands?

Papandreou: Natürlich haben wir Mitschuld daran, was derzeit passiert. Gleichzeitig hat die Krise in Griechenland offenbart, wie schwach die Architektur der Eurozone in Wahrheit ist. Wir haben gemeinsam versucht, diese Probleme schnell zu lösen. Leider wurde oft viel zu oberflächlich darüber nachgedacht, worin der Kern dieser Krise besteht. Ich denke, dass in den Geschichtsbüchern stehen wird, dass die Krise in Griechenland begonnen hat, dass aber Athen nicht das Zentrum der Krise ist.

profil: Wann haben Sie zum ersten Mal in den Abgrund geschaut und erkannt, dass das Problem Griechenlands die gesamte Eurozone bedroht?

Papandreou: Das war im Februar 2010, also drei Monate nach unserem Sieg bei den Parlamentswahlen. Da wurde mir die gewaltige Gefahr bewusst, und ich verstand: Wenn wir den Märkten nicht klarmachen können, dass unser Land von der EU vor massiver Spekulation geschützt wird, werden wir untergehen – und das kann eine Abwärtsspirale auslösen, von der auch andere Staaten betroffen sein werden.

profil: Plötzlich waren Sie nicht mehr bloß griechischer Premier, sondern Repräsentant eines gesamtkontinentalen Desasters.

Papandreou: Unser Wahlslogan 2009 hatte gelautet: „Entweder wir vollziehen einen Kurswechsel, oder wir sinken.“ Ich wusste natürlich schon, dass Griechenland das schwache Glied der Eurozone war: hohes Defizit, mangelnde Wettbewerbsfähigkeit. Damals war uns noch nicht genau klar, wie hoch unser Defizit tatsächlich war, aber wir ahnten, dass es gar nicht gut um unser Land stand. Leider ließen uns die Märkte keine Zeit, die geplanten Reformen umzusetzen.

profil: Waren Sie von Anfang an chancenlos?

Papandreou: Die Märkte sind wie eine Herde wilder Tiere. Wenn sich Angst ausbreitet, geraten sie in kollektive Panik und rennen davon. Gelingt es nicht, sie zu beruhigen, werden sie über dich hinwegtrampeln und dich töten.

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Die Herde hatte schon im Frühjahr 2010 zu rennen begonnen. Papandreou musste die Troika aus Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds um Hilfe bitten. Er bekam 110 Milliarden Euro, sein Land trug fortan die Punze des Pleitestaats, dessen Bürger faul seien. Griechenland hätte niemals dem Euro beitreten dürfen, hieß es.

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profil: Die wahren Ausmaße der Griechenland-Krise wurden relativ spät erkannt, weil Athen seine Wirtschaftsdaten schon beim Beitritt zum Euro geschönt hatte. Übernehmen Sie für diesen Betrug die Verantwortung?

Papandreou: Ich stimme Ihnen da nicht zu. Als wir 2001 Mitglied der Eurozone wurden, war unser Budget viel besser als das einiger anderer Mitgliedsländer. Das Budgetdefizit lag unter drei Prozent, die Wachstumsraten waren hoch. Unsere Probleme lagen woanders: Unsere Wirtschaft war nicht wettbewerbsfähig, und wir haben es verabsäumt, in wettbewerbsfähige Sektoren zu investieren. Stattdessen haben wir nicht wettbewerbsfähige Bereiche künstlich am Leben gehalten: Der öffentliche Sektor ist weitergewachsen, ohne dass es dafür einen Anlass gab.

profil: Wie aber kam es zu der lange unbemerkten Explosion des Budgetdefizits?

Papandreou: Unsere konservative Vorgängerregierung hat der EU weisgemacht, das Defizit läge bei sechs Prozent, in Wahrheit waren es zwölf, ein Jahr darauf 15,9 Prozent. Erst da wurden dieselben Kriterien angewendet wie bei allen anderen EU-Staaten. Die EU-Kommission ist da nicht ganz unschuldig. Die konservative Regierung hat 2004 ein Gesetz beschlossen, wonach Ausgaben in jenem Jahr im Budget aufscheinen, in dem die Anschaffungen getätigt werden, und nicht in dem, in dem sie geliefert werden. Das war entscheidend für die in Griechenland hohen Militärausgaben. Wenn etwa Waffen 2002 gekauft und 2008 geliefert wurden, belastete das im Nachhinein das Budget des Jahres 2002. Ich ging zur Kommission und fragte, war­um um Himmels willen sie so etwas akzeptierte, wo das doch eindeutig den Regeln widerspricht.

profil: Wie war die Reaktion?

Papandreou: Ich bekam keine Antwort.

profil: Was lief denn sonst noch alles schief?

Papandreou: Viel Geld floss in die Landwirtschaft, ohne dass dieser Sektor modernisiert worden wäre. Die Folge war, dass ­unsere Bauern subventionierte Waren produzierten, die dann weggeschmissen werden mussten.

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Ministerpräsident Papandreou sollte Griechenland regieren, doch dazu blieb ihm keine Zeit. Vier Monate nach seinem Amtsantritt wurde der griechische Staatshaushalt unter EU-Kontrolle gestellt. Noch im Dezember 2009 hatte die Ratingagentur Moody’s in einem Bericht Ängste bezüglich Griechenlands kurzfristiger Finanzierung als „deplatziert“ verworfen. Zwanzig Tage später verlor Griechenland sein A-Rating, sechs Monate darauf galten griechische Staatsanleihen bereits als „Junk“.

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profil: Wie viel Spielraum hatten Sie eigentlich als Ministerpräsident Griechenlands? Hatten Sie da jemals freie Hand?

Papandreou: Nein. Ich meine, was die konkreten Maßnahmen in Griechenland betraf, schon, aber den Rahmen hatte ich jeweils vorher mit den europäischen Partnern ausverhandelt.

profil: Dabei hatten Sie vorwiegend mit Angela Merkel und Nicolas Sarkozy zu tun. Wie kamen Sie mit den beiden aus?

Papandreou: Auf persönlicher Ebene war ich zu den beiden sehr offen.

profil: Und die beiden zu Ihnen auch?

Papandreou: Am Anfang war die Botschaft der beiden sehr klar: „Ihr Griechen macht eure Hausaufgaben, verabschiedet euer Sparpaket und bringt eure Reformen durch. Dann werden die Märkte positiv reagieren.“

profil: Was antworteten Sie darauf?

Papandreou: Ich sagte: „Was ihr da plant, ist ein riskantes Pokerspiel.“

profil: Hatten Sie einen Gegenvorschlag?

Papandreou: Europa hätte gleich zu Beginn die Pistole auf den Tisch legen und die Staats- und Regierungschefs hätten klarstellen müssen, dass Griechenland und jedes Mitglied der Eurozone in jedem Fall vor einem Bankrott bewahrt würde, koste es, was es wolle. Europa hätte uns besser schützen müssen, auch im Interesse der anderen Staaten.

profil: Wie entwickelte sich die Zusammenarbeit mit Merkel und Sarkozy über die Monate?

Papandreou: Sagen wir so: Ich war derjenige, der jeden Tag aufs Neue dem Sturm ins Auge geblickt hat. Ich spürte permanent den Druck der Märkte und musste dagegen ankämpfen. Zu Beginn der Krise wusste ich nicht viel über Credit Default Swaps und Ratingagenturen. Also holte ich mir Rat von vielen Experten auf der ganzen Welt. Dadurch bekam ich einen viel tieferen Einblick in unser Problem. Diese Expertise wollte ich anderen Staats- und Regierungschefs in Europa vermitteln. Das funktionierte aber nicht wirklich.

profil: Mit anderen Worten: Merkel und Sarkozy hörten Ihnen nicht zu.

Papandreou: Doch, zugehört haben sie. Ich mache ihnen auch keinen Vorwurf. Sie haben bloß andere Ansichten vertreten. Merkel etwa unterliegt natürlich auch Zwängen in ihrem eigenen Land. Sie war lange Zeit davon überzeugt, dass es sich um ein griechisches, ein irisches oder ein portugiesisches Problem handelte. Das hat zur Lösungsfindung nicht unbedingt beigetragen.

profil: Wo wurden die schwerwiegendsten Fehler gemacht? In Athen, in Brüssel, in Berlin?

Papandreou: Es ist leicht, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen. Wir alle haben Fehler gemacht.

profil: Gab es für Sie einen entscheidenden Moment?

Papandreou: Ja, als Merkel und Sarkozy in Deauville im Oktober 2010 beschlossen haben, dass die Privatinvestoren, die einem Staat Geld geliehen haben, an den Verlusten beteiligt werden. Das hat die Märkte endgültig in Panik versetzt. Ab dem Moment schnellten die Zinsen für Kredite an Griechenland in die Höhe, und die Krise nahm neuerlich dramatische Ausmaße an. Ich hatte versucht, Angela Merkel klarzumachen, dass diese Entscheidung bedeuten würde, dass Griechenland für die nächsten zehn Jahre von der EU finanziert werden muss. Vergeblich.
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Papandreou schien sich in einem Labyrinth verloren zu haben. Egal, welchen Weg er gehen wollte, er führte in eine Sackgasse. Folgte er Merkel und Sarkozy, wurde er in Athen von der Opposition blockiert. Gab er dem Willen des Volkes nach, drohte ihm Brüssel mit dem endgültigen Bankrott. Schließlich besann er sich eines unerhörten Auswegs: Er beschloss, das Volk abstimmen zu lassen. Zur Wahl stehen sollten: Sparprogramm und EU-Hilfspaket oder Alleingang und endgültige Pleite. Die britische Zeitung „Daily Telegraph“ kommentierte dies so: „Papandreou bleibt einer der wenigen europäischen Regierungschefs, die es riskiert haben, ihr Volk über den Verbleib im Euro entscheiden zu lassen.“ Und auch wenn das Referendum letztlich abgeblasen wurde: „Das Statement bleibt bestehen.“

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profil: Als Sie am 31. Oktober verkündeten, ein Referendum über die Vereinbarung mit der EU abhalten zu wollen, wurden Sie in ganz Europa über Nacht zur Hassfigur. War das eine Kurzschlusshandlung?

Papandreou: Überhaupt nicht. Die Diskussion über eine mögliche Volksabstimmung gab es schon seit Juni.

profil: Warum haben Sie Merkel und Sarkozy nicht von Ihrem Entschluss informiert?

Papandreou: Sarkozy wusste schon länger, dass ich über ein Referendum nachdenke. Es stimmt, ich habe ihn und Merkel nicht an diesem Tag darüber in Kenntnis gesetzt. Dennoch war es auch retrospektiv eine weise Entscheidung. Sie führte dazu, dass die Parteien in Griechenland miteinander sprachen, was davor nicht der Fall gewesen war.

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Papandreou verliert niemals seine britisch anmutende Gelassenheit. Doch wenn er über das Referendum spricht, das es nie gab und das ihn doch politisch den Kopf kostete, ist seine Erregung zu spüren. Er will nicht als naiver Hasardeur in die Geschichte eingehen. Er wollte den Bürgern die Gelegenheit geben, ihr unglückliches Schicksal wenigstens mitzubestimmen. Als „Diebe“ und „Verräter“ mussten sich Papandreou und seine Regierungskollegen beschimpfen lassen. Der Ex-Premier will seine Landsleute nicht verurteilen. Er weiß, was er seinem Volk zugemutet hat.

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profil: Die Panik hat längst auch die Griechen selbst erfasst. Viele Sparer heben ihr Geld von den Banken ab.

Papandreou: Was würden Sie tun?

profil: Wenn ich Grieche wäre? Würde ich genau dasselbe tun.

Papandreou: Man kann den Leuten keinen Vorwurf machen.

profil: Haben Sie Ihr Privatvermögen bei griechischen Banken?

Papandreou: Ja, alles.

profil: Sie sind Sozialdemokrat und haben die kleinen Leute nicht vor brutalen Sparmaßnahmen schützen können.

Papandreou: Das ist richtig.

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Am 29. Juni 2011 beschloss das griechische Parlament das dritte große Sparpaket seit Papandreous Amtsantritt. Massenproteste waren die Folge. profil reiste damals nach Athen, um die Stimmung im Land einzufangen. Vor dem Parlament auf dem Athener Syntagma-Platz herrschte Ausnahmezustand. Die Polizei setzte massiv Tränengas gegen Tausende Demonstranten ein, in der Innenstadt brannten Kioske, Auslagen wurden eingeschlagen, Polizei und Demonstranten lieferten sich blutige Kämpfe. Die Parlamentarier gelangten nur durch einen Hintereingang ins Parlament. Der Beschluss über das dritte Sparpaket, in dem es vorwiegend um die Privatisierung von Staatsbetrieben und Postenabbau im Staatssektor ging, konnte von den Demonstranten nicht abgewendet werden.

Im Dezember 2011 ist die Wut der Resignation gewichen. Kein Zelt steht mehr auf dem Syntagma-Platz, keine Demonstranten schwenken Fahnen oder schreien Parolen gegen die „Ausbeuter“ und „Schweine an der Regierung“. Die Bürger richten sich auf die neuen Verhältnisse ein. Wer kann, wandert aus. „Viele meiner Freunde haben bereits das Land verlassen, sind nach Großbritannien, nach Deutschland oder in die Schweiz gegangen“, sagt eine junge Athener Jus-Absolventin. „Ich will auch so schnell wie möglich ins Ausland. Hier hat man keine Chance mehr auf einen guten Job.“

Papandreou ist der Ministerpräsident, der all die verhassten Sparmaßnahmen verantwortet.

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profil: Sind Sie gescheitert?

Papandreou: Nein. Obwohl die Einschnitte hart waren, haben wir uns bemüht, sie dennoch sozial gerecht zu staffeln. Das Problem war, das Defizit in dieser unglaublichen Geschwindigkeit zu senken. Das geht nur mit Kürzungen von Löhnen und staatlichen Pensionen. Steuererhöhungen greifen viel zu langsam, vor allem dann, wenn korrupte, intransparente Behörden Steuerhinterziehung ermöglichen. Natürlich waren die Sparpakete ein harter Schlag für die Bevölkerung. Alle Medien waren gegen mich, die Opposition bezeichnete mich als Verräter.

profil: Sind Sie in diesem Jahr seelisch und körperlich an Ihre Grenzen gestoßen?

Papandreou: Zum Glück schlafe ich sehr gut, auch in schwierigen Zeiten. Ich laufe und schwimme oft. Es ist auch entscheidend, wie man die eigene Rolle bewertet. Ich habe schon so oft erlebt, wie es ist, an der Macht zu sein. Mein Großvater und Vater waren beide Premierminister, ich selbst war schon mehrmals Regierungsmitglied. Irgendwann habe ich politische Macht entmystifiziert. Mein Großvater hat für die Freiheit gekämpft und wurde dreimal Premierminister Griechenlands. Er wurde aber auch sechsmal wegen seiner politischen Überzeugungen eingesperrt, einmal wäre er fast exekutiert worden. Mein Vater war auch dreimal Premierminister, wurde zweimal vom Militär eingesperrt, gefoltert und später ins Exil geschickt. Ich habe die Militärdiktatur als Kind erlebt: Ein Soldat richtete eine Pistole an meine Schläfe. So lernte ich, wie es ist, wenn sich Dinge von einem Tag auf den anderen ändern. Vielleicht habe ich deshalb einen sehr philosophischen Ansatz in meiner Politik: Ich kämpfe, solange es geht.

profil: Haben Sie Ihre Karriere geopfert?

Papandreou: Politik ist komplizierter. Ich habe getan, was ich tun musste, auch wenn es bedeutet, dass ich nie wieder gewählt werde. Es war eine Ehre für mich, meinem Land in diesen schwierigen Zeiten zu dienen. Griechenland könnte heute bankrott sein, das haben wir verhindert, und darauf bin ich stolz.

profil: Sehen Sie eine Chance auf ein Comeback?

Papandreou: Das weiß ich nicht.

profil: Werden Sie wieder für das Amt des Ministerpräsidenten kandidieren?

Papandreou: Ich kann Ihnen nur sagen, dass ich meine Zukunftspläne bald bekannt geben werde.

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Die engsten Mitarbeiter des abgetretenen Ministerpräsidenten beteuern, sie hätten selbst keine Ahnung, was ihr Chef als Nächstes plane. Von außen betrachtet, erscheint die Vorstellung, Papandreou könnte noch einmal als Spitzenkandidat antreten, absurd. In einer Umfrage Mitte Dezember des vergangenen Jahres schnitt die PASOK unter seiner Führung mit dem jammervollen Beliebtheitswert von 12,1 Prozent ab. Allerdings urteilten 55,1 Prozent der Befragten, die aktuelle Regierung der nationalen Einheit unter dem ehemaligen Banker Lucas Papademos sei „schlechter“ oder „genauso schlecht“. Der 59-jährige Papandreou lässt sich nicht in die Karten blicken. Noch steht nicht fest, ob Griechenland den Euro behält und ob der Staatsbankrott abgewendet ist. Gelingt dies, werden die Griechen vielleicht im Rückblick ihr vernichtendes Urteil über ihren Ex-Ministerpräsidenten revidieren. Im April werden in Griechenland voraussichtlich Neuwahlen abgehalten.

Papandreou verabschiedet sich. Es ist acht Uhr abends. Am nächsten Tag trifft er die Abgesandten der Troika. Es ist noch nichts entschieden, der Kampf gegen den griechischen Staatsbankrott und gegen den Zerfall des Euro geht weiter.

Erstmals erschienen am 2.1.2012 in profil 1/2012