Kunst: Tracey Emin über Hillary, Schiele und ein Leben ohne Sex

Die Britin Tracey Emin gilt als Queen der Provokation (was sie hasst) und ist eine der erfolgreichsten Künstlerinnen der Welt. Vor ihrer Ausstellung im Wiener Leopold Museum: ein Gespräch über Hillary Clintons Frisur, Schamhaare, den Kunstmarkt und ein Leben ohne Sex.

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Bis zu dem Punkt, an dem ich David Cameron thematisiere, läuft das Gespräch gut. Es gibt nämlich nahezu kein Thema, das Tracey Emin als unzulässige Überschreitung ihrer Privatsphäre empfindet. Man kann mit ihr über die Absurdität total epilierter Vaginas ("Ich finde es grauenhaft, wenn erwachsene Frauen wie Kinder aussehen wollen, ich finde Schamhaare sehr schön, sie sind eine Art Schutz"), ihre Vergewaltigung, ihre Abtreibungen ("Eine davon ist schiefgegangen -sie haben einen Fötus vergessen, es waren Zwillinge"), ihre bewusste Kinderlosigkeit ("Brüten ist nichts für mich, es gibt ohnehin viel zu viele Kinder") reden, sie beantwortet am Telefon alle Fragen ohne zu zögern. Schließlich liefern Emins Leben und ihre Biografie, zu der auch exzessiver Alkoholkonsum, Essstörungen, Schulabbruch im Alter von 13 und Missbrauch durch einen Familienfreund gehörten, seit über 20 Jahren die Grundlage ihrer Kunst.

Ich arbeite mit meinen Gefühlen. Ich bin wahrhaftig.

Die Visualisierung ihrer ewigen Sehnsucht nach Liebe (in Wahrheit ist Emin ihrem jahrelangen Bad-Girl-Klischee zum Trotz eine tiefe Romantikerin), ihre artikulierte Verzweiflung über zertrümmerte Beziehungen, getretene Gefühle und verlorene Illusionen in Neonarbeiten, Zeichnungen, Gouachen, Schriftbildern, Filmen, Installationen, Fotos und Bronzeskulpturen haben die 51-jährige Britin zu einer der teuersten Künstlerinnen gemacht. Mit "radikalem Exhibitionismus" oder "confessional art" wurde Emin etikettiert; sie selbst sagt: "Ich arbeite mit meinen Gefühlen. Ich bin wahrhaftig. Danach sehnen sich die Menschen immer mehr, und deswegen verstehen sie meine Kunst immer besser." Auch aus diesem Grund fühle sie auch eine so tiefe Verbundenheit mit Egon Schiele.

Wir telefonieren knapp vor ihrer Abreise nach Wien, wo sie die kommende Woche im Leopold Museum mit der Fertigstellung der Ausstellung "Tracey Emin/Egon Schiele: Where I Want To Go" verbringen wird (siehe Kasten), ein Projekt, an dem sie seit zweieinhalb Jahren "mit kompromissloser Intensität" arbeitet, so der Kurator der Ausstellung, Karol Winiarczyk.

Die Frage, die Emins Stimmung unter den Gefrierpunkt sinken ließ, lautete: "Sie sind ein Kind der Arbeiterklasse und haben Armut aus nächster Nähe erlebt - es erscheint seltsam, dass Sie den Tories Ihre Stimme geben." In ihrem autobiografischen Roman "Strangeland" erzählt sie von ihrem Aufwachsen in dem heruntergekommenen englischen Seebad Margate und von einem Zuhause, wo es kein fließendes Warmwasser gab und die Heizung nur sporadisch aufgedreht wurde. Schneidend sagt sie: "Wieso ist das bitte seltsam?" - "Nun ja, ist das nicht Verrat an Ihrer Herkunft?" Jetzt explodiert sie: "Leben wir nicht in einer Demokratie und habe ich nicht das Recht, den zu wählen, den ich will?" - "Doch, doch. Aber erklären Sie es bitte "- "Hören Sie, ich mag David Cameron. Ich tue viel für mein Land - ich gebe Menschen Arbeit. Ich beschäftige Handwerker, ich lasse Gebäude errichten, ich unterstütze karitative Projekte, ich zahle wahnsinnig viel Steuer. So jemand wie ich kann die Arbeiterpartei gar nicht wählen, denn die hat es nur darauf abgesehen, mir und den Menschen meiner Einkommensklasse noch mehr wegzunehmen."

Ich kämpfe gegen den Verfall meines Körpers, aber es ist ein sinnloser Kampf.

Emin besitzt im Londoner Bezirk Spitalsfields ein umgebautes Viktorianisches Lagerhaus mit Swimmingpool, in dem sie täglich ihre Längen zieht ("Ich kämpfe gegen den Verfall meines Körpers, aber es ist ein sinnloser Kampf"), und Wohnsitze in Miami, New York und Südfrankreich. Die Preise ihrer Werke rangieren, so die Auskunft ihrer "Studio"-Managerin, zwischen 26.000 und 400.000 Euro.

Nichts wie raus aus dem Territorium Politik; es ist weitaus gemütlicher, mit Tracey Emin über Sex zu sprechen. Oder das Älterwerden: "Oh Gott, der Bauch wird fett, alles so wobbelig. Ich hatte einmal einen richtig guten Körper, ich setze mich mit seinem Verfall in meinen Zeichnungen auseinander. Mein Körper wird da zur Natur, zur Landschaft. Aber man kann es drehen und wenden: Es ist ein Fakt, dass der Tod sich nähert und man nur mehr 20, maximal 30 Jahre zu leben hat. Daran gibt es nichts zu beschönigen."

Für Hollywoodstars wie Uma Thurman und Renée Zellweger, die ihre Gesichter in Botoxfriedhöfe verwandelten, hat sie Verständnis: "Ohne diese Maßnahmen würden diese Frauen sofort aus dem Geschäft verschwinden, die können gar nicht anders." In der Öffentlichkeit gilt das wilde Mädchen mit dem schiefen Mund, Tochter eines zypriotisch-türkischen Einwanderers, der ein Doppelleben mit zwei Familien führte, als "Königin der Schamlosigkeit", "hemmungslose Provokateurin" und "Skandalkünstlerin" - alles Definitionen, die Emin so sehr im Magen liegen wie der Bandwurm, den sie sich vor einiger Zeit eingefangen hatte und den sie endlich wieder los geworden ist. "Ich habe niemals bewusst den Weg des Skandals und der Provokation gewählt; daraus eine Strategie zu machen, halte ich für völlig verkehrt. Ich würde allen jungen Künstlern davon abraten."

Ich habe in meiner Jugend mit mehr Männern geschlafen als während des ganzen Rests meines Lebens.

Zum Popstar der bildenden Kunst avancierte Emin Mitte der 1990er-Jahren im Zuge der Kunstwelle "YBA" (so die Abkürzung für Young British Artists, der auch Damien Hirst und Sarah Lucas entsprangen), als ihre Zelt-Installation "Everyone I Ever Slept With", in deren Stoffwände die Namen von über 200 Geschlechtspartnern eingestickt waren, in der "Royal Academy" gezeigt wurde. Der Londoner Kunstsammler Charles Saatchi kaufte damals die textile Bilanz eines rauen und promisken Sexuallebens, "in dem ich völlig wahllos mit allen möglichen Männern geschlafen habe. Ich habe in meiner Jugend mit mehr Männern geschlafen als während des ganzen Rests meines Lebens."

2004 verbrannte das Zelt bei einem Feuer in seinem Kunstdepot. Saatchi offerierte Emin 1,3 Millionen Euro für eine Replik des Zeltes, doch darauf hatte sie keine Lust: "Es erschien mir einfach falsch. Denn ich hatte mit dieser Zeit längst abgeschlossen. Ich war schon längst nicht mehr dieses Mädchen " - "Waren unter den eingestickten Namen traumatisierende Erlebnisse dabei?" - "Keine 14-jährige sollte mit 25-jährigen Männern schlafen, das ist einfach nicht gut. Ich hatte damals auch nicht kapiert, dass Sex und Liebe miteinander verbunden sein können. Aber das ist das Schlimme am Altwerden - man kann die Zeit einfach nicht mehr zurückdrehen . Ich selbst habe mich über viele Jahre lang missbraucht, und zwar heftig." - "Drogen?" - "Nein, Drogen waren nie mein Ding. Dafür liebte ich mein Hirn zu sehr. Ich war vielleicht zwei Mal in meinem Leben bekifft. Aber ich habe wirklich viel getrunken." "In Ihrem Buch erzählen Sie von einer Vergewaltigung ." - "Ja, die hatte ich. Mit 13." - "Die französische Schriftstellerin Catherine Millet (Anm.: Autorin der expliziten Autobiografie "Das sexuelle Leben der Catherine M.") hat mir in einem Interview anlässlich der Strauss-Kahn-Affäre erklärt, dass Frauen aus einer Vergewaltigung nicht eine solche Staatsaffäre machen sollten ..." - "Da muss ich ihr recht geben. Man kann nach einer Vergewaltigung wieder aufstehen - man muss nicht sein ganzes Leben lang darunter leiden. Ich rede hier aber nur von Date Rape, also nicht einvernehmlichem Sex, in dem niemand geschlagen wurde oder sonst physische Gewalt involviert war. Dort, wo ich herkomme, war das ziemlich normal, wenn man geschlechtsreif wurde." - "In London sitzt Julian Assange schon seit einigen Jahren in der Botschaft von Ecuador gefangen, weil er angeblich nicht einvernehmlichen Sex praktizierte. Finden Sie das gerechtfertigt?" - "Assange ist mir egal." - "Und was halten Sie von dem globalen Flächenbrand, den "Fifty Shades of Grey" hervorrief?" - "Ich verstehe es nicht. Die Regisseurin (Sam Taylor-Johnson) der Verfilmung ist eine Freundin von mir, sie hat die Breitenwirkung dieses Phänomens selbst nicht verstanden. Ich habe mir das Buch besorgt, konnte aber nur ein paar Seiten lesen. Es war unerträglich, weil es so schlecht geschrieben ist." - Emin hat einen Haufen solcher Hotshot-Freunde - David Bowie, Kate Moss, Vivienne Westwood. "Traditionelle Feministinnen hat das Buch empört. Sie haben in einem Interview gesagt: Ich bin Feministin, aber keine feministische Künstlerin." - "Das ist falsch zitiert: Ich bin sowohl das eine als auch das andere." - "Es gibt eine Reihe von jungen Journalistinnen, die sich darüber echauffieren, wie verzopft doch dieses krampfhafte Festhalten der Frauen am Feminismus ist. Haben Sie für die eine Botschaft?" Jetzt wird Emin wieder wütend, aber diesmal wohlwollend: "Das sind Frauen, die aus dem Warmen über etwas urteilen, wovon sie keine Ahnung haben. Ihnen ist nicht mehr klar, welche Kämpfe Frauen auf sich nehmen mussten, um sich zu befreien und Freiheit zu erlangen. Solange irgendwo auf der Welt eine Frau verbrannt wird, weil sie einen Mann angelächelt hat, solange einer Lehrerin die Hand abgehackt wird, weil sie jungen Mädchen das Schreiben und Lesen beigebracht hat, bin ich Feministin."

Welchen Zustand hat Emin zu Hillary Clinton, die am Vortag des Gesprächs ihre Kandidatur bekannt gegeben hat? Sie kontert mit einer Gegenfrage: "Ist Ihnen aufgefallen, dass Hillary jetzt wieder besser frisiert ist? Sie hatte in ihrer Zeit als Außenministerin eine so unglaublich schlechte Frisur, wirkte nahezu ungekämmt und war überhaupt nicht geschminkt. Ich verstehe nicht, warum sie sich so gehen ließ. Vielleicht hat sie die Erkenntnis zu sehr deprimiert, dass es noch immer besser ist, ein Mann mit schwarzer Hautfarbe als eine Frau zu sein."

Hätte ich einen Penis, würden sie sagen: Der ist fokussiert. Ich habe trotzdem keinen Penisneid.

Nein, bitte nicht glauben, dass der Kunstmarkt auch nur ein Quentchen besser wäre als der Rest der Welt: "Auf 30, ach, was rede ich, 200 bekannte Künstler kommt eine Frau. Der Rest ist verschwunden, vergessen, hat nicht durchgehalten." - "Haben Frauen zu wenig Selbstvertrauen, um nach vorne zu gehen?" - "Das spielt sicher auch mit, aber die meisten Kuratoren, Kritiker und Sammler sind Männer. Wäre Louise Bourgeois ein Mann, würden ihre Werke heute zehn Mal so teuer sein. Einzige Ausnahme am weltweiten Kunstmarkt ist Brasilien, dort sind die Top 5 der Künstler weiblich. Meine Erklärung dafür: Das Land ist jung, kann auf keine Kunsthistorie, in der sich patriarchalische Strukturen festsetzen konnten, zurückblicken, und die wichtigsten Käufer sind Frauen."

Warum sie es trotz des kerlelastigen Kunstmarkts in die Weltliga gebracht hat? " Ich weiß, was ich will. Damit können manche Leute nicht umgehen. Sie sagen, ich bin hysterisch und schreie herum. Hätte ich einen Penis, würden sie sagen: Der ist fokussiert. Ich habe trotzdem keinen Penisneid."

Emin hat sogar das, was man eine gewisse Penismüdigkeit nennen könnte. Das klingt paradox für eine Künstlerin, die mit der Installation "My Bed" 1999 ihren internationalen Durchbruch erlangte. Doch auch Emins "Mona Lisa", wie die Installation oft genannt wird, hatte einen zutiefst romantischen Hintergrund. Aus Liebeskummer hatte sie über Tage ihr Bett nicht verlassen, und eines Tages blickte sie auf das Desaster rund um sich: blutige Unterhosen, gebrauchte Kondome und Tampons, Wodkaflaschen, zerknüllte Zigarettenpackungen, durchweinte Laken, Hausschlapfen. Und dachte: "Es wäre schön, wenn das alles im ruhigen, weißen Raum einer Galerie stehen könnte."

In einer komplett sexbesessenen Zeit klingt das wie der größte Tabubruch: Keinen Sex zu haben.

Heute steht "My Bed", das ursprünglich Charles Saatchi gekauft hatte, in der Londoner "Tate Gallery", umgeben von zwei Arbeiten von Francis Bacon, die Emin persönlich ausgesucht hat. Der deutsche Kunstsammler und Unternehmer Graf Christian Dürckheim hatte es bei einer Christie's-Auktion kürzlich um umgerechnet 3,9 Millionen Euro erworben und der "Tate" für zehn Jahre als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Wenn Emin "My Bed" heute besucht und an den Laken riecht, die noch immer den Geruch von damals tragen, kommt sie wie eine Veteranin in früheres Kriegsgebiet: "Ich rauche nicht mehr, ich habe keine Menstruation mehr, ich trinke selten und kontrolliert. Und ich habe keinen Sex mehr." - "In einer komplett sexbesessenen Zeit klingt das wie der größte Tabubruch: Keinen Sex zu haben." - "Ich hatte schon über Jahre keinen Penetrationssex. Manchmal denke ich kurz daran, aber dann ist das Verlangen schon wieder weg. Ich will nur noch dann Sex haben, wenn Liebe im Spiel ist. Ich hatte auch schon über Jahre keine Beziehung mehr. Aber man kann Menschen lieben, ohne mit ihnen Sex zu haben. Das habe ich gelernt. Ich habe unglaublich viele Freunde. Viele kommen auch nächste Woche mit nach Wien. Aber ich lebe allein - mit meiner Katze. Eine andere Möglichkeit gibt es für mich nicht."

Das Rock'n'Roll-Leben läuft dabei auf Sparflamme : "Ich gehe mindestens drei Mal die Woche um acht Uhr abends ins Bett und stehe um fünf Uhr auf. Ich lebe und esse gesund. Das versteht ihr Wiener wahrscheinlich nicht, denn es gibt ja wohl keine Leute, die so viel trinken, noch immer rauchen und so fett essen wie ihr! Am Morgen kann ich am besten bei mir sein und arbeiten. Zwischen fünf und zehn ist meine Zeit.""More Solitude" lautet der Schriftzug einer ihrer Neonarbeiten. In ihrem Buch "Strangeland" schrieb sie: "Kunst ist für mich wie ein Geliebter - dessen Liebe allein nie gut genug ist." Doch das ist über ein Jahrzehnt her.

Angelika   Hager

Angelika Hager

leitet das Gesellschafts-Ressort