Flaschen und Luschen

Wettlesen Popautor Joachim Lottmann über den Bachmann-Preis 2011: ein Augenzeugenbericht

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Wie viele Jahre hat man darauf gewartet! In Klagenfurt. In der deutschsprachigen Literaturwelt. In den Feuilletons, den großen und den kleinen. Nämlich: auf die Geburt eines Stars während der Lesung. Seit Rainald Goetz sich 1983 vor laufenden ORF-Kameras die Stirn aufschnitt und damit schlagartig zum Superstar wurde, gelang das kaum jemandem. Bis vergangenen Donnerstag. Da trat Antonia Baum auf. Das junge Mädchen war noch nicht auf der Welt, als Goetz die Herren um Marcel Reich-Ranicki und Joachim Kaiser bis aufs Blut provozierte. Doch der Schock, den Antonia Baums Text bei der diesjährigen Jury auslöste, schien durchaus vergleichbar. Er war der einzige, der die Verheerungen und Veränderungen beschrieb, die der Turbokapitalismus bei Menschen unter 25 anrichtet. Da verstanden die weltfremden Gralshüter des Ingeborg-Bachmann-Gedenkens (gefühltes Durchschnittsalter: 56 Jahre) nur noch Bahnhof. Überhaupt diese Juroren: Bekanntlich sind sie die VIPs bei dem Event, das zahllose Bibliophile im Fernsehen live mitverfolgen. Wer will schon den zehnten No-Name aus Berlin sehen – tatsächlich leben zehn der 14 Lesenden 2011 in jener faden und ausgeschriebenen Stadt –, wenn man auch Kritiker-Schwergewichte wie Hubert Winkels, Burkhard Spinnen und Daniela Strigl erleben kann.

Sie sehen gern Clarissa Stadler, weil die so sexy ist wie Anne Will, und sie ertragen die Flaschen und Luschen unter den Juroren, weil man noch mehr Dramatik nicht mehr ertragen könnte. Zwischen den Geistesblitzen und Kurzduellen der Genie-Juroren ruht sich der Zuschauer gern beim humorlosen Blabla eines Paul Jandl aus oder bei den stets richtigen, aber überflüssigen Sätzen von Meike „Barbie“ Feßmann. Das war schon immer so bei der großen Bachmann-Show. Hier die Stars, dort die Deppen, dazwischen die so genannten Autoren, Letztere Menschen, die nie ein Bein auf die Erde kriegen. Seit es Casting-Shows und Dieter Bohlen gibt, haben die Verantwortlichen ein ungutes Gefühl dabei: Der Bachmann- Preis könnte mit trivialen Ekelshows dieser Art verwechselt werden. Deshalb wird zunehmend auf „verletzende Kritik“ verzichtet. Verständlich ist das, aber schrecklich. Die einzigartige und einzige Sendung, in der leidenschaftlich über Bücher diskutiert wird, soll zum Streichelzoo für bedeutungslose Autorendarsteller werden. Und nicht einer soll siegen, wie bei „Dancing Stars“, sondern nahezu alle: Sechs Preise werden inzwischen ausgeschüttet wie warmer Regen, bald könnten es noch mehr sein.

Ein Jammer, aber noch ist es nicht (ganz) so weit. Der Geist von Klagenfurt lebt noch. Mit Suhrkamps Nina Bußmann, mit Linus Reichlin, dem Grandseigneur des Betriebs, der alle Höhen und Tiefen schon souverän durchlaufen hat, gibt es sogar Autoren, über die zu streiten sich lohnt. Und, wie gesagt, Antonia Baum. Sie rappt sich äußerst lustig durch den inhumanen Alltag der Pornografisierung, durch das Universum der hasserfüllten Scheidungseltern, kulturfeindlichen Lehrer, karrieregetriebenen Mitläufer, die unter Bildung immer nur Ausbildung verstehen, und der herzlosen, ichschwachen Angeber, die nie einen Vater gehabt haben. Das ist eine scheußliche Welt, und die Autorin gibt ihr, was sie verdient: Dauerfeuer. Diese Welt wird abgefackelt, und zwar überlegen und mit diebischer Freude. Notabene: mit der besten Sprache, die seit Jahren zu hören war. Antonia Baum schreibt so rhythmisch, so musikalisch, dass sie ihren Text auch hätte singen können. Aber die Zeiten, da Jörg Haider den Preis überreichte, sind vorbei. Auch andere Autorinnen hoben das Niveau. Julya Rabinowich und Maya Haderlap lieferten großartige Texte, wenn auch ohne politische Relevanz. Haderlap behandelte immerhin die historische Frage der Slowenen in Österreich, und sie tat das mit absoluter Meisterschaft und Wahrheitsliebe. Sie wurde schnell als Favoritin gehandelt, da sich auf „gute Literatur“ alle einigen können.

Bücher, die den aktuellen Frontverlauf im Lebenskampf der Menschen beschreiben, sind mir trotzdem lieber. Erst recht, wenn sie dabei auf die klebrige Soße der Literarizität verzichten wie bei Maximilian Steinbeis, der erzählt, wie er all sein Geld in Gold umtauscht, um dem kommenden Crash von Euro und Dollar zuvorzukommen. Bei keinem anderen Text wurde so gebannt zugehört. Klar: Das ging einfach jeden an. Der Autor hat auch alle Szenen, die in den Banken spielen, so perfekt beschrieben, dass einem der Atem stockte. Ja, alle erkannten es wieder, das Verbrecherdeutsch der eigenen Kontoberater. Aber so ein Beitrag hat natürlich keine Chan ce in Klagenfurt. Eher wieder die Blut-und- Kotze-Literatur von Gunter Geltinger, der eingeladen wurde, weil austretende Körperflüssigkeiten gern für Literatur gehalten werden und Stottern irgendwie auch: weil Stottern ja mit Sprechen und Problemen beim Spracherwerb und damit mit der Problemhaftigkeit von Existenz und Sprache zu tun hat. Oder so ähnlich. Vorjahressieger Peter Wawerzinek hat es vorgemacht und läuft immer noch durch Klagenfurt wie der neue Goethe. Zum Stadtschreiber haben sie ihn auch noch gemacht. Er wirkt glücklich. Vielleicht schreibt er bald erstmals etwas Gutes. Wie der Wettbewerb läuft, ist in den 35 Jahren seit Bestehen oft und mit Talent beschrieben worden.

Auch heuer beginnt der Tag in Klagenfurt mit dem Katerfrühstück im Nobelhotel „Moser Verdino“. Wer an dem Tag nicht lesen muss, geht schwimmen im Wörthersee. Die Temperaturen sind höher als in Italien. Die Provinzpolitiker machen immer noch ihre Empfänge, die zu besuchen wohl Pflicht ist, literaturferne Reden werden gehalten. Die Tradition des Bachmann- Preises wird pathetisch beschworen, aber dann hört man nichts über die geistigen Kämpfe und literarischen Meilensteine der Zeit von Handke bis Hegemann, nur über die Pensionierung irgendwelcher Fernsehmänner oder die Einführung eines Plastikpreises, den nun der Sieger statt eines Blumenstraußes bekommen soll. Dieses Plastikpreiserl sieht aus wie der Speisekartenständer eines Billig-Restaurants: durchsichtig, ohne Gewicht, abwaschbar und trotzdem schnell und dauerhaft verschmutzt. Klar, dass da rasch die Sehnsucht nach einem Skandal aufkommt. Würde doch einmal jemand die Jury angreifen! Würde doch einmal etwas passieren! Nein, im Gegenteil. Jury- Vorstand Spinnen deklamiert gleich in der Eröffnungsrede den falschen Ansatz: „Ich bitte Sie: Nehmen Sie das alles nicht so ernst. Der ganze Rahmen ist doch ganz und gar unwichtig. Einzig und allein eines ist wichtig: die Texte!“ Was für ein Quatsch. Die Texte sind in der Regel völlig wurscht. Die könnte man sich auch runterladen. Oder dafür in eine Bücherei watscheln. Sensationell, weil beispiellos ist der Rahmen, dieses geistige Feuerwerk der kontroversen Buchbesprechung. Aber nein, schon wieder folgt der „tröstende“ Hinweis, die „Kränkungen der Autoren“ vermeiden zu wollen. Na servus, das fängt ja fad an!

Ein kleiner Skandal liegt dann doch – Gott sei Dank – in der Luft. Juror Spinnen unterstellt in aller Öffentlichkeit seinem ärgsten Widersacher Winkels, sich in den Text seiner Kandidatin verliebt zu haben. Er wirft ihm das erbost und schmallippig vor. Es ist kein Scherz mehr, kein inszenierter Hieb mit dem Florett. Winkels erstarrt. Ein Tabu wird in dieser Sekunde zwar nicht gebrochen, aber gestreift: dass die Juroren, die ihre jungen, meist verdächtig hübschen Kandidaten ja allein und gottgleich auswählen, in dieselben verliebt sein könnten. Und mehr. Winkels hat in den Tagen und Stunden zuvor ein inniges Verhältnis zu seiner Entdeckung erkennen lassen: zu Frau Baum. Nun wird jeder echte Literaturkenner ähnlich zu Buch und Autorin stehen wie Winkels, nämlich erfreut und wohlwollend. Aber Burkhard Spinnen will weitergehen. Winkels hat bei den ersten sechs Leserunden eine viel bessere Figur gemacht als Spinnen, der sonst die Show dominiert. Dieses Jahr kommt er nicht an gegen den Mann aus Düsseldorf. Es ist wie verhext. Selbst als Clarissa Stadler zweimal dem virtuos plaudernden Winkels barsch das Wort abschneidet – was sie sonst nie tut –, redet dieser einfach gut gelaunt weiter. Was ist da los?

Der Mann muss verliebt sein. In seine Kandidatin. Warum soll man das nicht andeuten? Doch es kommt allzu überraschend. Keiner ist darauf gefasst, niemand nimmt den Ball an. Stattdessen schweigt die Runde ein paar Sekunden. Dann geht es rumpelnd weiter, ohne rechten Übergang. Der Skandal bleibt aus. Abends trifft man sich im „Maria Loretto“. Das Lokal ist kaum weniger legendär als Sartres „Café de Flore“ in Paris. Antonia Baum sieht man nicht mehr, sie ist am Nachmittag von der Senioren-Gang verbal zu sehr verprügelt worden. Fünf von sieben Wortmeldungen verglichen Baums strahlenden, gemeinen, überschäumenden und doch – zwischen den Zeilen – so rührend idealistischen Text mit Thomas Bernhard. Ja, richtig gelesen. Thomas Bernhard. Und sie meinten es alle als Vorwurf. Der sei ja so sehr viel besser gewesen. In dem Moment liquidierten sie sich alle selbst, diese Nullen. Vielleicht war es im „Maria Loretto“ auch einfach nur zu langweilig. Vielleicht war Antonia Baum stattdessen in den „Stadtkrämer“ gegangen, die kleine Schwulenbar, in der Jörg Haider die letzte Stunde vor seinem Tod verbrachte. Ein historischer Ort: nur ein paar Quadratmeter groß, aber sofort romantauglich.

Juroren und Autoren sind wieder da, man steht in einer Gartenlandschaft und blickt auf den Wörthersee. Die Sonne geht glutrot unter. FPÖ-Politiker tauchen auf, vom Typ her schnieke Mafiosi mit entsprechender Damenbegleitung. Statt wie einst auf Kosten der Landesregierung selig weiterzutrinken und Romanverträge einzufädeln, verschwinden die handelnden Personen ohne Vertrag und ungeküsst im Einzelbett. Man setzt lieber auf den Preisgewinn, also auf den ausgeschlafenen Eindruck beim Lesen am nächsten Morgen. Was schon wieder falsch ist: Wer hier gut vorträgt, gilt sofort als Unliterat. Als Bluffer. Als abgefeimter Schauspieler. Nein, echte Schriftsteller müssen haspeln, zittern und verbiestert dreinschaun. Am nächsten Tag ist Freitag, der letzte Hauptlesetag. Julya Rabinowich gewinnt mit ungewohnter Schlagfertigkeit und einem tollen Text die Herzen der Zuschauer. Aber nur für Maya Haderlap wird es der erwartete uneingeschränkte Erfolg. Alle Juroren wussten, dass sie den besten Beitrag geliefert hatte. Man hätte ihr den Preis vorab per Post zuschicken können. Nur passieren beim Bachmann- Wettbewerb immer und immer wieder in den letzten Stunden, in der Nacht vom Samstag auf Sonntag, geheimnisvolle Dinge. Da bricht die Kontrolle zusammen. Das Kollektiv der Juroren kann nicht mehr rational agieren. Alkohol, Schlafentzug, entfremdeter Sex, zu viel der Argumente, der Überlegungen, der Bündnisse: Am Ende geht gar nichts mehr. Das ist der Moment, an dem exakt der Kandidat ins Spiel kommt, der vier Tage lang als definitiv indiskutabel galt. Der ist dann der Kompromiss, wer sonst? Er rettet den ganzen Preis.

Joachim Lottmann, 54,
gehört zu Deutschlands umstrittenen Schriftstellern und Journalisten. Zuletzt erschien von ihm der Roman „Der Geldkomplex“ (2009). Eine Aktualisierung dieses Textes mit einer Einschätzung der Preisvergabe ist ab Sonntagabend auf www.profil.at abzurufen.