Behandlungsspielraum

Behandlungsspielraum: Reizthema Asyl

Flüchtlinge. Vier unangenehme Wahrheiten über das ewige Reizthema Aysl

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Von Gunter Müller und Elisabeth Postl

Shahjahan Khan, 33, ist derzeit der prominenteste Flüchtling des Landes. Er ist einer der Sprecher jener Gruppe von Flüchtlingen, die wochenlang in der Wiener Votivkirche ausgeharrt und damit eine neue Fremdenrechtsdebatte losgetreten hatte. Die vorwiegend pakistanischen Asylwerber forderten ein Bleiberecht, prangerten schlechte Unterkünfte für Flüchtlinge an und verlangten freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Mittlerweile hat ihnen die Erzdiözese Wien eine provisorische Bleibe im nahe gelegenen Servitenkloster geboten.

Und jetzt?

Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) lehnte die Forderungen von Khan und seinen Mitstreitern mehrmals ab. Bald dürften die aufmüpfigen Asylwerber in ihre Heimat abgeschoben werden – sofern sie die Regierung in Islamabad überhaupt zurücknimmt.

Der Votivkirchen-Protest, eines der bestimmenden Themen der vergangenen Monate, könnte somit schon bald aus dem öffentlichen Diskurs verschwinden.

Die entscheidenden Fragen bleiben indes unbeantwortet: Behandelt Österreich seine Flüchtlinge wirklich so schlecht, wie das manche NGOs und linke Politiker reflexartig behaupten – oder zu milde, wie die FPÖ und deren Wähler finden?

Ähnliche Debatten führen derzeit alle 27 EU-Länder. Doch jedes für sich allein. Eine gemeinsame Asylpolitik gibt es nicht. Nur die schlimmsten Vorfälle schaffen es in die internationalen Medien. Etwa wenn Frankreichs Regierung Roma-Siedlungen von der Polizei räumen lässt und die Familien aus dem Land wirft. Wenn vor Italien wieder einmal ein Flüchtlingsboot gekentert ist und Dutzende Menschen ertrinken. Oder wenn berichtet wird, dass Asylwerber in Griechenland unter ähnlichen Bedingungen leben wie Häftlinge in nordkoreanischen Kerkern.

Was läuft also falsch im Umgang mit Menschen, die vor Kriegen, Hungersnöten oder ethnischen Säuberungen aus Afrika, dem Nahen Osten oder Asien fliehen? Vier überraschende Wahrheiten über das ewige Reizthema Asyl.

Befund 1: Asylwerber haben es in Österreich gar nicht so schlecht
Die Lesarten der aktuellen Asylpolitik könnten unterschiedlicher nicht sein: Innenministerin Johanna Mikl-Leitner findet, dass Flüchtlinge in Österreich in vielerlei Hinsicht besser behandelt werden als im Rest Europas. Hilfsorganisationen und Politiker linker Parteien verdammen hingegen große Teile der Flüchtlingspolitik als menschenunwürdig. Dass es Asylwerbern in Österreich schlechter geht als in jedem anderen Land Europas, ist ein häufiger Vorwurf von Aktivisten.

In Wahrheit übertreiben beide Seiten. Politiker streichen die positiven Aspekte des Asylwesens hervor, NGOs die negativen. Nicht anders ist das in Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien.
Die Frage, welcher EU-Staat der flüchtlingsfreundlichste ist und welcher die Asylwerber bloß schikaniert, lässt sich pauschal nicht beantworten. „Es gibt keine Zahl, die ein seriöses Urteil darüber zulässt“, sagt Christoph Pinter, Büroleiter des Flüchtlingshochkommissariats der Vereinten Nationen (UNHCR) in Wien. „Das Asylwesen ist zu komplex. Manche Aspekte des Asylwesens funktionieren bei uns besser als in anderen EU-Staaten, andere schlechter.“

Objektiv vergleichbar sind daher nur einzelne Bereiche des Asylwesens. Zum Beispiel die Zahl der anerkannten Flüchtlinge: Da liegt Österreich recht deutlich über dem EU-Durchschnitt. Im Jahr 2011 bekamen in Österreich 30,8 Prozent der Antragsteller einen positiven Bescheid – der EU-Schnitt liegt bei 25,1 Prozent.

Shahjahan Khan hat viel riskiert, um nach Österreich zu kommen. Sein Vater bezahlte einer Schlepperbande umgerechnet 6000 Euro. Im Laderaum eines Lkw wurde Khan danach quer durch Asien über die polnische Grenze in die EU geschleust. Von hier aus war der Weg in die Alpenrepublik ein Kinderspiel.

Kurz vor seiner Flucht nach Europa hatte Khan im Internet recherchiert, um herauszufinden, in welchem EU-Land er die besten Chancen auf eine langfristige Bleibe haben könnte. Österreich sei besonders freundlich zu Flüchtlingen aus Pakis­tan, hieß es im Netz und in einer pakistanischen Zeitung, erzählt Khan. „Deshalb wollte ich hierherkommen.“
Die offiziellen Statistiken von Eurostat hat Shahjahan Khan, der bereits einen negativen Asylbescheid in erster Instanz erhielt, offenbar nie zu Gesicht bekommen: Von den 1827 pakistanischen Asylwerbern wurde im Jahr 2011 nur ein einziger in Österreich aufgenommen. Viel bessere Chancen hätte Khan zum Beispiel in Italien (8,2 Prozent positive Asylbescheide für Pakistanis) gehabt.

2011 kamen die meisten in Europa registrierten Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Irak und Somalia. Doch die einzelnen EU-Länder entwickeln bei ihren Asylverfahren sehr individuelle Präferenzen. Großbritannien etwa nimmt derzeit am häufigsten Iraner auf, Frankreich Flüchtlinge aus Sri Lanka. In Österreich können sich Afghanen, Tschetschenen und seit vergangenem Jahr auch Syrer die größten Chancen auf Asyl ausrechnen.

Shahjahan Khan kritisierte in den vergangenen Wochen auch die Unterbringung von Asylwerbern. Mindeststandards dafür gibt es in Österreich in der Tat nicht. Die Betreuung ist Bundesländersache. Knapp 600 Unterkünfte für Asylwerber werden aktuell geboten. Ein Teil wird von NGOs betrieben, den anderen übernehmen Private. „Besonders bei Letzteren gibt es extreme Qualitätsunterschiede“, sagt Michael Genner, Vorstand der Flüchtlingsorganisation Asyl in Not. „Einige Pensionen sind so verkommen, dass kein Tourist sie auch nur betreten würde.“
Das mag stimmen. Mit der Situation in den südeuropäischen Grenzländern sind diese Probleme allerdings nicht vergleichbar. Zuletzt verlor Griechenland seinen Status als so genanntes sicheres Asylland. Auch Italien, Spanien, Malta und Zypern stehen zu Recht am Pranger.

Befund 2: Der Staat hat unausgesprochene Gründe, Asylwerber nicht arbeiten zu lassen
Shahjahan Khan sagt, er habe ein angenehmes Leben in Pakistan gehabt: Sein Vater ist Chef eines Computerunternehmens, die Familie wohlhabend. Lieber heute als morgen würde er zurück in seine Heimatstadt Lahore fahren. Möglich sei das derzeit aber nicht: Er sei nämlich im vergangenen Jahr von den Taliban entführt, in ein Terrorcamp in den Bergen verschleppt und dort gefangen gehalten worden. Nach drei Wochen habe er mit einem Freund die Flucht ergriffen. „Er wurde erschossen, ich selbst konnte fliehen“, erzählt Khan. Aus Angst vor Vergeltung der Taliban habe ihm sein Vater die Flucht finanziert. „Die Taliban würden mich umbringen, wenn sie mich finden. Es muss viel Zeit vergehen, bis ich zurückkann“, sagt Khan. In Wien würde der studierte Kommunikationswissenschafter gern sein eigenes Unternehmen gründen – mit Startkapital, das sein Vater bereitstellt.

Das klingt eigentlich nach einem guten Plan. Möglich ist es aber nicht, weil der Staat Asylwerbern wie Khan den Zugang zum Arbeitsmarkt versperrt. Während anerkannte Flüchtlinge nach Abschluss ihres Asylverfahrens in Österreich arbeiten dürfen, können Asylwerber nach drei Monaten lediglich als Erntehelfer, Saison­niers oder Prostituierte ihren Lebensunterhalt verdienen. Gleichzeitig fällt bei einem fixen Einkommen auch der Anspruch auf Grundversorgung weg. Der Anreiz in diesem System ist für Asylwerber also äußerst gering.

Diese Regelung halten mittlerweile nicht nur SPÖ und Grüne, sondern selbst Gewerkschaften und Vertreter der Wirtschaftskammer (WKO) aus humanitären wie auch aus ökonomischen Gründen für falsch. Margit Kreuzhuber von der Abteilung für Sozialpolitik der WKO verweist auf einen Rechnungshofbericht, aus dem hervorgeht, dass Asylwerber den Staat durch die langen Verfahrenszeiten 325 Millionen Euro gekostet hätten. Schon deswegen sei es wirtschaftlich sinnvoll, dass sie „einer regulären Tätigkeit nachgehen und sich selbst erhalten können“.

Warum legt sich dann ausgerechnet die Wirtschaftspartei ÖVP bei diesem Thema quer? „Asylwerber arbeiten fast alle schwarz. In den Flüchtlingsheimen steht kaum jemand nach sechs Uhr morgens auf“, sagt Michael Genner von Asyl in Not. Der Staat habe großes Interesse, diesen Status quo beizubehalten, denn: „Natürlich steckt dahinter eine Strategie. Es soll sich unter Asylwerbern herumsprechen, dass es Flüchtlingen in Österreich nicht gut geht. Das hält die Quoten auf einem überschaubaren Niveau.“

Mit anderen Worten: Flüchtlinge wie Shahjahan Khan sollen bei ihrer Suche nach einem geeigneten Asylland von Österreich abgeschreckt werden. Auf öffentlicher Seite ist die Diktion freilich eine andere. Asylwerber kämen „durch den relativ unsicheren Aufenthaltsstatus“ nicht als fixe Arbeitskräfte infrage, heißt es auf ­profil-Anfrage im Sozialministerium. Arbeitsplätze würden schließlich zuallererst für die 400.000 arbeitslosen Österreicher benötigt.

Ein weiterer Grund für den restriktiven Zugang zum Arbeitsmarkt könnte darin liegen, dass Asylwerber, die während des langwierigen Anerkennungsverfahrens einer Beschäftigung nachgehen dürfen, sich damit automatisch auch integrieren. Ihre Abschiebung wäre in der Öffentlichkeit somit noch schwieriger zu rechtfertigen.

Im EU-Vergleich stellt Österreich mit dieser Praxis kein auffallendes Negativbeispiel dar. In Dänemark und Litauen ist Asylwerbern jede Form von Arbeit ausnahmslos verboten. In Frankreich sind Arbeitsverträge für Asylwerber auf drei Monate, in Belgien auf ein Jahr beschränkt. In Deutschland wurde das Arbeitsverbot im Jahr 2000 von der rot-grünen Regierung zwar abgeschafft, dennoch gibt es starke Restriktionen – etwa die Residenzpflicht, die es ihnen verbietet, sich aus einem gewissen Behördengebiet zu entfernen.

NGOs verweisen gern auf die vorbildlichen skandinavischen Länder: In Finnland haben Asylwerber schon nach drei Monaten uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt, in Schweden können sie sofort auf Jobsuche gehen, benötigen dafür allerdings einen speziellen Arbeitspass. Damit können auch berufliche Qualifikationen nachgewiesen werden. „In Österreich werden Asylwerber nicht einmal nach Arbeitserfahrung gefragt“, beklagt Margit Ammer vom Ludwig Boltzmann Institut für Menschenrechte. „Wir wissen gar nicht, welche Relevanz Asylsuchende für den österreichischen Arbeitsmarkt haben. Es interessiert den Staat einfach nicht.“

Befund 3: Es ist sinnvoll, Langzeit-Flüchtlinge zu amnestieren
Was tun mit Flüchtlingen wie der Familie Malikov aus dem tschetschenischen Grosny? Vor zweieinhalb Jahren kamen der 30-jährige Musa Malikov, seine Frau Malika und der dreijährige Sohn Rasul nach Österreich. In der niederösterreichischen Kleinstadt Waidhofen an der Ybbs fand die Familie eine vorübergehende Bleibe. Musa gab gegenüber der Fremdenpolizei an, als Oppositioneller im Gefängnis gesessen und gefoltert worden zu sein.

Dennoch erkannte der Asylgerichtshof Malikov nicht als Flüchtling an. Auch ein Antrag auf humanitäres Bleiberecht hatte zunächst wenig Aussicht auf Erfolg – und das, obwohl der Tschetschene inzwischen gut Deutsch spricht, sich freiwillig im örtlichen Jugendheim engagiert und bereits konkrete Jobangebote hatte, die er als Asylwerber allerdings nicht annehmen durfte.
Vor wenigen Wochen schaltete sich der Bürgermeister von Waidhofen ein und intervenierte beim Innenministerium in Wien. Mit Erfolg: Familie Malikov wird vorerst nicht abgeschoben. Das hier erreichte humanitäre Bleiberecht sei seit seiner Einführung im Jahr 2009 in immerhin 1000 Fällen zur Anwendung gekommen, schätzt Anny Knapp von der Asylkoordination Österreich.

Viele EU-Mitgliedsstaaten amnestieren regelmäßig Flüchtlinge, die sich illegal im Land aufhalten oder seit Jahren auf einen Asylbescheid warten. In Spanien erhielten 2005 fast eine Million von ihnen befristete Aufenthaltspapiere. Italien führte binnen 15 Jahren gleich fünf Legalisierungsaktionen durch. Zu einem Anstieg der Flüchtlingsquote führte das nicht. Spaniens damaliger Sozialminister Jesús Caldera jubelte hingegen über das „Erblühen einer ganzen Volkswirtschaft“.

Einen Weg in die Legalität könnte Österreich etwa jenen 9749 Illegalen geben, die nicht in ihre Heimat abgeschoben werden können, weil sie von den dortigen Regierungen nicht mehr aufgenommen werden. Die Angst des Sozialministeriums, dass diese Illegalen in der ohnehin prekären Wirtschaftslage Österreichern Jobs wegnehmen könnten, ist schnell entkräftet: „Die meisten Jobs, die Asylwerber machen, will ganz sicher kein Österreicher annehmen“, sagt der Asylaktivist Michael Genner von Asyl in Not.

Befund 4: Europa lässt viele Mitgliedsstaaten mit ihren Flüchtlingsproblemen im Stich
Wie viele der weltweit schätzungsweise 42,5 Millionen Flüchtlinge versuchen, in die Europäische Union zu gelangen, ist nicht bekannt. Es sind jedenfalls definitiv mehr als 277.370 – so die offizielle Zahl der Asylsuchenden in der EU aus dem Jahr 2011. Jedes Jahr werden weit über 100.000 illegale Einwanderer an den EU-Außengrenzen aufgegriffen.

Seit dem arabischen Frühling und dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien ist vor allem Griechenland mit den Flüchtlingsströmen heillos überfordert. Das europäische Antifolterkomitee berichtete von Auffanglagern, in denen Asylwerber über Monate „wie Tiere in Käfigen“ eingepfercht seien. Ein Beispiel: 146 Männer in einem 110 Quadratmeter großen Bereich, in dem es nur eine Dusche und eine Toilette für alle Häftlinge gibt. Ähnlich desaströse Zustände beobachten Menschenrechtsorganisationen in Italien, Malta und Spanien. Sicher: Der akute Notstand ist den begrenzten Kapazitäten dieser Staaten anzulasten. Doch diese Kritik verdeckt die fehlerhaften Mechanismen der gemeinsamen Asylpolitik der EU.
Der Grenzschutz gehört zu den Fragen der nationalen Souveränität, welche die meisten Regierungen nicht an die EU abtreten wollen. Viele Mitgliedsländer im Westen und Norden Europas freuen sich über den geografischen Glücksfall, selbst an keiner EU-Außengrenze zu liegen. EU-Kommissarin Cecilia Malmström hat ausgerechnet, dass derzeit zehn Mitgliedsländer rund 90 Prozent aller Asylsuchenden aufnehmen.
Sämtliche Vorschläge von Malmström in Richtung einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik wurden von der Mehrheit der Mitgliedsstaaten abgeschmettert. Begründung: Kostenexplosion und weitere Verzögerungen bei den Asylverfahren an den ohnehin überforderten Gerichtshöfen.

Einig ist sich die Europäische Union derzeit nur in einem: Die Außengrenzen des Schengen-Raums müssen gesichert werden – mit hypertechnisierten Überwachungssystemen, mit meterhohen Stacheldrahtzäunen und mit militärischer Hilfe. Diese Politik spiegelt sich in den Zahlen wider. Das Jahresbudget der europäischen Grenzschutzorganisation Frontex beträgt knapp 82 Millionen Euro, das Budget der europäischen Grundrechteagentur gerade einmal acht Millionen Euro. Eine Zukunftsstrategie im Umgang mit den Notleidenden dieser Welt hat Europa bis heute nicht gefunden.

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Shahjahan Khan wurde vorübergehend in Schubhaft genommen, am vergangenen Dienstag aber wieder auf freien Fuß gesetzt. Khan begab sich daraufhin zu seinen Mitstreitern ins Wiener Servitenkloster. Deren Devise lautet jetzt: „Wir sind an einem anderen Ort, aber unser Kampf geht weiter.“