Geschäfte mit den Influenza-Lügen

Die Geschäfte mit den Influenza-Lügen: Vorsorge entpuppt sich als Hirngespinst

Vorsorge entpuppt sich als Hirngespinst

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Und altbekannte Warngeister wie der Wiener Sozialmediziner Michael Kunze werden mit der „einzigen Möglichkeit“ zitiert, halbwegs gesund über den Winter zu kommen: „Impfen, impfen, impfen!“ Als Ursache für den Grusel wird das Influenza-A-Virus mit der Bezeichnung „Brisbane H3N2“ genannt, das „seit 20 Jahren tödlichste Grippevirus, das im pazifischen Raum bereits hunderten Menschen das Leben gekostet hat“.

Die Lebensrettung ist keineswegs billig. Trotz Aktionspreis kostet eine Impfung in den Apotheken 15 bis 18 Euro. Dazu kommt noch ein Impfhonorar für den Arzt von – ebenfalls ermäßigten – zwölf Euro. Günstiger fährt man in den Gesundheitsämtern der größeren Städte, wo die Influenzaimpfung kräftig subventioniert wird und etwa in Wien nur 8,30 Euro kostet. „Das Immunsystem wird heuer mit etwas relativ Neuem konfrontiert“, erklärt Kunze gegenüber profil. „Doch der Impfstoff passt, weil er beide zirkulierenden Brisbane-Stämme und einen neuen Influenza-B-Typ enthält.“ Erstmals seit zwanzig Jahren seien beim heurigen Impfstoff alle drei enthaltenen Virentypen ausgetauscht worden, um für die neue Situation gerüstet zu sein.

In Wahrheit sind die Brisbane-Stämme alte Bekannte und waren bereits im Vorjahr in Europa und den USA die vorherrschenden Virentypen. Und obwohl sie damals nicht im Impfstoff enthalten waren, galt die letzte Saison dennoch als „eher leichte Grippewelle“, wie Theresia Popow-Kraupp vom Institut für Virologie der Medizinischen Universität Wien bestätigt. Doch auch wenn das Virenlotto aufgeht und zwischen WHO-Vorhersage und tatsächlich verkehrenden Viren eine hohe Übereinstimmung besteht, tun sich in der Wirksamkeit des Impfstoffs zwei schwarze Löcher auf.

Händewaschen. Bei Babys und Klein­kindern funktioniert die Impfung laut Analyse der angesehenen Cochrane-Gruppe „nicht besser als ein Placebo“. Am anderen Ende der Alterspyramide sieht die Lage ähnlich trist aus. Der britische Epidemiologe Tom Jefferson, Hauptautor einer
Serie von Übersichtsartikeln im Journal „The Lancet“, empfahl deshalb den älteren Menschen, „sich besser regelmäßig die Hände zu waschen und auf einen vernünftigen ­Lebensstil zu achten, als zum Impf-arzt ­zu ­gehen“.

Als „einseitig und in der Fachwelt sehr umstritten“ bezeichnet Ingomar Mutz, der Vorsitzende des Österreichischen Impfausschusses, diese Aussagen. „Zahlreiche andere Studien belegen den Nutzen der Influenzaimpfung.“ In der Tat gibt es viele Arbeiten, die Geimpften einen teils enormen Überlebensvorteil von 50 Prozent und mehr bestätigen. „Derartige Ergebnisse grenzen schon an ein Wunder“, kontert Jefferson ironisch. „Das würde ja bedeuten, dass die Impfung ältere Menschen vor Diabetes schützt, vor Verkehrsunfällen oder sogar vor Tod durch Ertrinken. Doch das ist natürlich völlig absurd.“ Die wahre Ursache liege vielmehr darin, dass gesündere Menschen eher zum Impfarzt gehen.

Jeffersons Verdacht wurde kürzlich gleich von zwei großen Studien bestätigt. Ein Forscherteam der Universität Edmonton in Alberta wertete die Krankenakten von mehr als 700 Patienten im Alter über 65 Jahren aus, die wegen Lungenentzündung ins Spital eingeliefert worden waren. Die Hälfte davon war gegen Grippe geimpft. Jeder neunte Patient starb. Und obwohl die Personen außerhalb einer Grippewelle erkrankten, diese also keinen Einfluss haben konnte, lag die Sterblichkeit bei den Geimpften nur halb so hoch wie bei den Nichtgeimpften.

Einen ähnlichen Effekt zeigte eine im August im „The Lancet“ veröffentlichte Studie im Auftrag einer großen US-Krankenkasse. Die Studienautoren verglichen mehr als tausend ältere Personen, die während einer von drei Grippesaisonen an Lungenentzündung erkrankt waren, mit einer doppelt so großen Gruppe, die außerhalb der Saison krank wurde. Wieder zeigte sich das gleiche Bild: Geimpfte ­waren wesentlich gesünder und hatten ein um 40 Prozent niedrigeres Lungenentzündungsrisiko. Während der Grippewelle selbst waren die Geimpften dann hingegen fast genauso anfällig wie Ungeimpfte. David Shay, Experte der US-Gesundheits­behörde CDC, zeigte sich in einem Kommentar von diesem Ergebnis enttäuscht: „Wir hätten uns einen signifikanten Schutz erhofft, da in den beobachteten Jahren eine gute Übereinstimmung zwischen zirkulierenden Viren und dem Impfstoff bestand.“

Tatsächlich zeigt eine Analyse der Sterblichkeit in den USA während der vergangenen beiden Jahrzehnte nicht das geringste Indiz dafür, dass die Influenzaimpfung einen Einfluss auf das Sterberisiko hat. Obwohl sich die älteren Menschen heute viel öfter impfen lassen und die Impfrate von 15 Prozent im Jahr 1980 auf 65 Prozent im Jahr 2001 gestiegen ist, ergab sich kein Rückgang bei den Grippesterbefällen. Im Gegenteil, die Zahl nahm sogar leicht zu.

Grippetod. Dass es sich dabei um kein rein amerikanisches Phänomen handelt, zeigten Forscher der Universität Bari. Demnach war die Impfrate bei den älteren Menschen in Italien von fünf Prozent in den siebziger Jahren auf 65 Prozent im Jahr 2001 gestiegen. Ebenfalls ohne Effekt. „Unsere Ergebnisse stellen die derzeitigen Konzepte infrage, wie ältere Menschen am besten vor dem Grippetod geschützt werden können“, schreiben die Autoren und betonen „die dringende Notwendigkeit besser kontrollierter wissenschaftlicher Studien sowie alternativer Impfstrategien“.

Woher kommen also die – je nach Schätzung von Sozialmediziner Kunze oder der von den Impfstoffherstellern finanzierten ARGE-Influenza – 2000 bis 6000 Personen, die jährlich in Österreich an Grippe versterben und durch die Impfung gerettet werden könnten? Nimmt man die in den Sterbeurkunden verzeichneten Todesursachen, die jährlich von der Statistik Austria veröffentlicht werden, so kommt man nicht einmal in die Nähe dieser Zahlen. Ganze sieben Personen sind im letzten Berichtsjahr 2006 offiziell an Grippe gestorben. Und da sind die Verdachtsdiagnosen ohne Virennachweis schon mitgezählt.

Eine gewisse Dunkelziffer besteht noch bei der Todesursache Lungenentzündung. Doch vor dieser bekannten Erkrankung des hohen Alters schützt die Impfung nicht. Mehr als 80 Prozent der 1361 Sterbefälle des Jahres 2006 traten in einem Alter jenseits von 75 Jahren auf. Das Gesundheitsministerium hat von den Fantasiezahlen auch längst Abstand genommen. Nun ist die Rede von jährlich zirka 120 Grippetodesopfern.
Eine Klärung, wie viele dieser Opfer durch die Impfung zu retten sind, sagt Tom Jefferson, könne nur eine groß angelegte, über mehrere Grippesaisonen laufende, unabhängig finanzierte Studie bringen. „Allerdings muss es dabei unbedingt eine wirk­liche Placebogruppe geben, damit die höchste Beweiskraft gewahrt ist.“ Eine Forderung, die auch die Virologin Theresia Popow-Kraupp absolut unterstützt, „weil es höchste Zeit wird, dass wir transparente Daten haben“. Peter Sawicki, der Chef des Deutschen Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), erklärt: „Dann könnte man den Leuten endlich korrekt Auskunft geben, wie viel Krankenstandstage sie sich sparen, wenn sie sich impfen lassen – oder ob die Impfung gar nichts bringt. Derzeit tappen wir ja völlig im Dunkeln.“ Eine derartige Studie ist derzeit allerdings weit und breit nicht in Sicht.

Hysterie. Damit ergäben sich endlich auch Aussagen für die beste Vorsorge im Fall einer tödlichen Pandemie, wie sie am Höhepunkt der Vogelgrippehysterie im Herbst 2005 von zahlreichen Experten als quasi unabwendbar prophezeit worden war. US-Epidemiologe Michael Osterholm, einer der Masterminds der internationalen Influenza-Community, nannte sie „das größte vorstellbare Risiko für die gesamte Menschheit“ mit etwa 150 Millionen Todesopfern. Michael Kunze setzte auf einer Pressekonferenz in Wien noch eins drauf und erklärte, dass die Pandemie „mit Sicherheit innerhalb der nächsten fünf Jahre kommt“. Sie werde vermutlich in Südostasien ihren Ausgang nehmen, in zwei oder mehr Wellen ablaufen und mehr als eine Milliarde Menschen betreffen.

„Heute würde ich mich nicht mehr trauen, eine so kesse Prophezeiung zu machen“, sagt Kunze. „Aber in der Planung muss man eben vom schlimmsten Fall ausgehen, und die Politiker haben sich das gut erklären lassen.“ Weltweit wurden enorme Summen in die Pandemievorsorge gesteckt. Österreich ging mit gutem Beispiel voran. Vor allem bei der Bestellung des Influenzamedikaments Tamiflu vom Schweizer Roche-Konzern. „Nur Frankreich hat noch mehr eingekauft als wir“, gibt sich Kunze stolz.

„52 Prozent der Bevölkerung können im Notfall aus den Lagern von Bund und Ländern mit Tamiflu versorgt werden“, erklärt Hubert Hrabcik, Generaldirektor für öffentliche Gesundheit. Dumm nur, dass die Haltbarkeit der Medikamente bei fünf Jahren liegt und die eingelagerten Pillen mit einem Apothekenabgabepreis von 44,10 Euro für die Jugend- und Erwachsenendosis demnächst ablaufen. Als weiteres Erbstück hat Hrabcik fast neun Millionen Gesichtsmasken in den Bundesbesitz übernehmen müssen. Sie harren in zwei Lagern des Bundesheeres und des Landwirtschaftsministeriums nahe Salzburg auf ihren Einsatz. Und schließlich wurde noch ein Vorvertrag mit dem US-Unternehmen Baxter über die Lieferung von 16 Millionen Dosen eines neuartigen Pandemieimpfstoffs unterschrieben. Hrabcik hält es aber für möglich, dass „aufgrund geänderter wissenschaftlicher Voraussetzungen“ der Bund im Frühsommer aus diesem Vertrag aussteigen wird. Zumal der Impfstoff derzeit auch noch gar nicht zugelassen ist.

Eventuell ergibt sich auch bei Tamiflu ein Ausstiegsszenario. Denn das als zweites Schutzschild gegen die Pandemie gefeierte Mittel gerät wissenschaftlich immer stärker in Diskussion. Zum einen mehren sich Meldungen über Resistenzen, zum anderen über schwere Nebenwirkungen. In Japan, wo dieses Medikament bereits seit der Jahrtausendwende in Verwendung ist, ereignete sich eine Serie von 54 Todesfällen unmittelbar nach Einnahme von Tamiflu. 15 Jugendliche im Alter zwischen zehn und 19 Jahren sprangen nach Einnahme von Tamiflu von Gebäuden, ein weiterer stürzte sich vor ein Auto. Diese Vorkommnisse veranlassten die japanischen Gesundheitsbehörden, die Abgabe von Tamiflu an Teenager zu verbieten.

Behördenchef Masato Tashiro äußerte die Befürchtung, das Medikament könnte bei manchen Jugendlichen die Blut-Hirn-Schranke überwinden, womit das ­abnorme Verhalten ausgelöst wird. Zu ­Jahresbeginn warnten auch US-Behörden alle Ärzte vor möglichen schweren neuro­psychiatrischen Nebenwirkungen von Tamiflu. In der EU ist die Abgabe an Teenager nach wie vor möglich, die Arzneimittelbehörde EMEA rät lediglich dazu, „auf seltsames Verhalten“ von Jugendlichen zu achten, und ordnete einen entsprechenden Hinweis im Beipacktext an.

Virenkonkurrenz. Allein am klinischen Bild ist die Infektion mit Influenzaviren nur schwer von den insgesamt rund 400 anderen Erkältungsviren zu unterscheiden. ­Einen gänzlich neuen Aspekt lieferten nun Untersuchungen über die tatsächlichen Auslöser schwerer Komplikationen. Und dabei zeigte sich, dass die gefürchtete „echte Grippe“ in Wahrheit gar nicht so herausragend gefährlich ist. Bei kranken älteren Menschen zeigten sich so genannte RS-Viren genauso oft als Verursacher eines Spitalsaufenthalts wie Grippeviren. Noch extremer ist das Verhältnis bei Kindern. Eine umfangreiche US-Studie zeigte, dass Influenzaviren gerade einmal drei Prozent aller Klinikeinweisungen verursachten und damit in der Rangliste gefährlicher Keime weit hinten lagen. Und das waren auch noch die leichtesten Fälle. So erkrankten beispielsweise 27 Prozent der mit RS-Viren infizierten Kinder an Lungenentzündung, hingegen nur fünf Prozent der Kinder mit Nachweis von Grippe.

Auch ein historischer Überblick zur Sterblichkeit der vergangenen hundert Jahre in den USA belegt, dass der Einfluss der Influenza grob überschätzt wird. Studienautor Peter Doshi vom Massachusetts Institute of Technologie (MIT) in Boston wies nach, dass nicht einmal in den großen Pandemiejahren von 1957/58 (Hongkong-Grippe) und 1968/69 (asiatische Grippe) ein merkbarer Anstieg der Gesamtsterblichkeit zu verzeichnen war. Die Pandemiejahre unterschieden sich zudem kaum von den Jahren, in denen nicht pandemische Influenzastämme unterwegs waren. „Deutlich zeigte sich hin­gegen, dass mit den Fortschrittten in der medizinischen Versorgung, der Hygiene und des allgemeinen Lebensstandards das Sterberisiko stark absinkt“, erklärt Doshi. „Die Bedrohung durch eine Pandemie wird enorm überschätzt.“

Tatsächlich bestätigen die Zahlen, dass nur die spanische Grippe vom Nachkriegswinter 1918/19 sich überhaupt in einem Anstieg der Gesamtsterblichkeit bemerkbar machte. Und hier zeigt eine Anfang Oktober publizierte Analyse von mehr als 8000 Autopsieberichten, dass nicht die Viren, sondern die nachfolgenden bakteriellen Infekte die wahren Killer waren. Und diese, so die Autoren, könnte man heute relativ einfach mit Antibiotika behandeln.

Von Bert Ehgartner