Entziehungsberechtigungen

Entziehungsberechtigungen: Diplomatische Affäre um Obsorgestreit

Affäre. Wie ein Obsorgestreit zur diplomatischen Staatsäffe eskalierte

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Seit drei Wochen hat es Peter Eipeldauer, 46, schriftlich: Er hat seinen vierjährigen Sohn Nikolaos – er nennt ihn Niki, seine Frau Niko – nicht entführt. Mit Schreiben vom 21. Jänner 2013 teilte die Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt seinem Anwalt mit, dass das Ermittlungsverfahren wegen „Verdachts der Kindesentziehung zwischen 18.5. und 17.8.2012“ eingestellt wurde. Eipeldauer ist weiterhin amtlich unbescholten, bleibt aber aus inoffizieller Sicht der Staatsanwaltschaft dennoch ein Kindesentführer. Die Einstellung, so die Behörde, sei erfolgt, weil Eipeldauer nicht wissen konnte, dass er sich schuldig macht. Anwalt und Mandant sehen darin die finale Bosheit der Justiz: Der „auf Biegen und Brechen kons­truierte Tatbestand“ hielt nicht, daher tarne der Ankläger die Blamage mit einem Freispruch zweiter Klasse.

Bevor Staatsanwaltschaft, Oberstaatsanwaltschaft und Justizministerium sich auf die Einstellung des Verfahrens verständigten, hatten die Behörden das gesamte Arsenal staatlicher Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen eingesetzt – vom Haftbefehl über Kreditkartenabfragen bis zum Anzapfen von Telefon und Internet. Was als durchschnittlicher Obsorgestreit vor dem Bezirksgericht Mödling begann, endete in einer Festnahme am Flughafen Manila und löste zwischendurch eine diplomatische Affäre aus. An deren Höhepunkt waren die Außenminister dreier EU-Länder und zumindest ein Nachrichtendienst damit beschäftigt, den angeblichen Kindesentführer und seinen Sohn über zwei Kontinente zu jagen.

Vater fühlt sich verraten
Peter Eipeldauer betreibt in Vösendorf einen Online-Versand. In den neunziger Jahren zog es ihn nach Griechenland, wo er einen Handel mit Autospezialteilen aufzog. An seinem Wohnort Xylokastro in der Nähe von Korinth lernt er seine zukünf­tige Frau Martha kennen. Im August 2008 wurde ihr Sohn Nikolaos geboren. Auf Wunsch des Vaters kam das Kind in Österreich auf die Welt. Einen Monat später heiraten die Jungeltern am Standesamt Mödling. Rein juristisch ist die Ehe trotz gegenseitiger Scheidungsklagen noch heute aufrecht.

Nach der Geburt ihres Kindes lebt das Paar in Griechenland, teils auch in Österreich. Der Bub ist Doppelstaatsbürger, wächst zweisprachig auf. Martha arbeitet als Malerin und Lehrerin. Im Laufe der Jahre überwerfen sich die Eheleute. Die späteren Verfahren vor den Familiengerichten in Griechenland und Österreich zeigen die üblichen Szenen eines Eheverfalls.
Doch zumindest auf das Wohl ihres Sohnes scheinen sich Peter und Martha Eipeldauer zu verständigen. Im Februar 2012 unterfertigen sie vor dem Bezirksgericht Mödling eine vorläufige Einigung. Danach fahren Eltern und Sohn nach Griechenland. Doch im März spitzt sich der Streit zu. Die Mutter beantragt vor dem Landesgericht Korinth bis zur endgültigen Entscheidung das vorläufige Sorgerecht und bekommt Recht.

Eipeldauer fühlt sich verraten. Anfang April holt er seinen Sohn vom Kindergarten ab und bringt ihn nach Österreich. Aus Sicht seiner Frau und der griechischen Behörden ist Eipeldauer seit diesem Zeitpunkt ein Kindesentführer.

Aus Sicht der Wiener Neustädter Staatsanwaltschaft wird er dazu Mitte Mai, als die heimische Gerichtsbarkeit Zuständigkeit und Entscheidung des ­Korinther Gerichts anerkennt und die Rückführung von Niki anordnet. Begründung: Der letzte gewöhnliche Aufenthaltsort des Knaben war in Griechenland.Aus Sicht seines Anwalts Gerald Albrecht ist Eipeldauer zu keinem Zeitpunkt ein Kindesentführer, da die diversen Urteile aufgrund von Rekursen bis heute keine Rechtskraft erlangten und sein Mandant in Österreich obsorgeberechtigt sei.

Der Wiener Anwalt der Mutter, Martin Deuretsbacher, widerspricht: „Die Gegenseite unterliegt einem Irrum. Es ist griechisches Recht anzuwenden. Und danach hat der Vater rechtswidrig gehandelt.“

Fahndung und Festnahme angeordnet
Nach der Abreise aus Griechenland lebt Niki mit seinem Vater in Gaaden bei Mödling und geht dort in den Kindergarten. Am 17. Mai 2012 eskaliert der Sorgestreit vor den Augen des Kindes. Martha Eipeldauer ist mit ihrem Bruder nach Gaaden gereist. Es kommt zu einer physischen Auseinandersetzung um den Buben. Peter Eipeldauer beschließt daraufhin, mit seinem Sohn zu einem Freund auf die philippinische Ferieninsel Boracay zu reisen.

Nach Interventionen des Anwalts der Mutter ordnet die Wiener Neustädter Staatsanwaltschaft am 3. Juli die Festnahme von Eipeldauer an und schreibt ihn zur Fahndung aus. Mobiltelefone und E-Mail-Accounts von Eipeldauer und dessen Schwester werden überwacht. Zusätzlich ordnet die Staatsanwaltschaft die Sicherstellung sämtlicher Daten über Kreditkartentransaktionen an.

Für die österreichischen Behörden ist Peter Eipeldauer nun ein Mann auf der Flucht.

Er selbst gibt später zu Protokoll, er hätte seinem Sohn absehbaren Stress bis zur Entscheidung der Gerichte ersparen und Strandurlaub machen wollen. Eine Rückkehr nach Österreich sei stets geplant gewesen. Und überdies wäre er zum Zeitpunkt der Abreise Obsorgeberechtigter gewesen, wodurch eine Kindesentführung rechtlich unmöglich sei.

„DRINGEND!!!!“
Was weder Staatsanwalt noch Eipeldauer zu diesem Zeitpunkt – Anfang Juli 2012 – wissen: Der Streit um Niki ist längst kein herkömmliches Verfahren mehr. Mittlerweile sind Kräfte am Werk, die sich Rechtsstaatlichkeit und Verfahrensordnung schlicht entziehen. Denn nach Eipeldauer und Sohn fahnden nicht nur das Landeskriminalamt Niederösterreich und die Polizeiinspektion Gaaden, sondern auch der griechische Geheimdienst.
Und dessen Aktivitäten sorgen für Hektik im österreichischen Außenministerium am Wiener Minoritenplatz.

Am 27. Juli 2012 schickt der stellvertretende Leiter der Abteilung IV.1 der Konsularsektion – zuständig für Fahndungswesen, Verbindungen zu Interpol und Polizeiangelegenheiten – ein Mail mit dem Vermerk „DRINGEND!!!!“ an den Journaldienst des Bundeskriminalamts. Demnach würden sich Vater und Sohn Eipeldauer „mit großer Wahrscheinlichkeit in den Philippinen befinden“. Auch die Quelle der Info wird genannt: „Dieser Hinweis stammt von der Tante des mj. (minderjährigen, Anm.) Nikolaos, der Außenministerin der Republik Zypern Erato Kozakou-Marcoullis, gegenüber HVK (Herrn Vizekanzler, Anm.) Spindelegger und soll aus zuverlässigen (nachrichtendienstlichen) Quellen stammen.“ Um „ehest mögliche Überprüfung dieses Hinweises“ werde ersucht. Das Bundeskriminalamt setzt sich daraufhin mit Interpol Manila in Kontakt.
Doch während die Beamten in Wien noch auf Antwort aus der philippinischen Hauptstadt warten, wird dort hyperaktiv Druck erzeugt – allerdings nicht von, ­sondern auf Österreich. Am 3. August kabelt Botschafter Wilhelm Donko ins Außenamt, er sei soeben von einem „völlig aufgelösten griechischen Konsul“ besucht worden. Dieser sei gerade „vom neuen griechischen Außenminister (Dimitris Avramopoulos, Anm.) persönlich angerufen“ und beauftragt worden, „geeignete Maßnahmen zur Rückführung“ von Nikolaos Eipeldauer nach Athen zu treffen. Laut Angabe des Konsuls habe „der griechische Nachrichtendienst“ das Hotel auf Boracay ermittelt, in dem sich Vater und Sohn aufhalten würden. Die Dringlichkeit seiner Depesche unterstützt Botschafter Donko mit dem Hinweis, bei der „Großmutter“ oder der „Tante“ des kleinen Austro-Griechen handle es sich um die „gegenwärtige Außenministerin der Republik Zypern“.

Die Berufsdiplomatin Dr. Erato Kozakou-Marcoullis, 63, ist die Schwester von Martha Eipeldauers Mutter, einer gebürtigen Zypriotin, und somit die Großtante von Nikolaos. Während der zypriotischen EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2012 stand sie an der Spitze des Rats der europäischen Außenminister. Nutzte Kozakou-Marcoullis ihren politischen Einfluss auch zu privaten Zwecken?

Polizei bleibt untätig
Die zypriotische Botschaft in Wien verzichtete auf die angekündigte Stellungnahme gegenüber profil. Außenminister Spindelegger bestätigt, von seiner Amtskollegin in der Causa angesprochen worden zu sein. Der Fall sei von den österreichischen Vertretungsbehörden wie jeder andere behandelt worden. Man habe allein nach den vorliegenden Gerichtsurteilen gehandelt.

Nach dem Auftritt des griechischen Konsuls kontaktiert die Botschaft in Manila die philippinischen Behörden. Doch trotz der Information über den Aufenthaltsort von Vater und Sohn bleibt die Polizei untätig. Ein möglicher Grund: Es existiert kein Auslieferungsabkommen mit Österreich. Ein zweiter: Die Philippinen haben das internationale Abkommen über die Rückführung von Kindern nicht unterzeichnet (siehe Kasten).
Am 15. August will Peter Eipeldauer mit seinem Sohn von Manila nach Wien zurückfliegen. Als er seinen Pass am Migration Office des Ninoy Aquino International Airport herzeigt, schlägt der Scanner an. Eipeldauer wird festgenommen. Wenig später erscheinen Vertreter der griechischen und österreichischen Botschaft. Eipeldauer wird der Pass entzogen. Die folgenden Tage verbringen er und sein Sohn im Gebäude der österreichischen Botschaft. Dort wird Niki am 17. August der inzwischen aus Griechenland angereisten Mutter und den griechischen Behörden offiziell übergeben. Auf Vermittlung einer österreichischen Konsulin finden noch mehrere Treffen mit dem Vater statt, ein Ausflug in den Ocean Park, ein Einkauf im Spielwarengeschäft. Am 21. August fliegen Mutter und Sohn nach Griechenland. Laut einem Bericht von Botschafter Donko ans Außenamt hätten sich die Elten insgesamt kooperativ verhalten. Es sei gelungen, dem Buben „ein Trauma“ zu ersparen.

Peter Eipeldauer fliegt mit einem von der Botschaft ausgestellten Notpass am 22. August zurück nach Wien. Die Festnahmeanordnung ist mittlerweile aufgehoben, da nach der Übergabe des Buben kein Haftgrund mehr vorliegt. Am 24. August erscheint Eipeldauer mit seinem Anwalt zur Einvernahme bei der Staatsanwaltschaft Wiener Neustadt. Erneut prallen die Rechtsmeinungen aufeinander, ob Nikis Vater Erziehungsberechtigter ist oder nicht. Eine zivilrechtliche Stellungnahme des Justizministeriums begünstigt eher Eipeldauers Sichtweise. Demnach seien die Entscheidungen der Gerichte im Obsorgestreit „noch nicht rechtswirksam Teil des österreichischen Rechtsbestands“ geworden.

So intensiv die Behörden hinter Eipeldauer nachforschen, so lässig behandeln sie dessen Eingaben. Am 13. Juni 2012 – Eipeldauer und sein Sohn befinden sich seit knapp einem Monat nicht mehr in Österreich – entdeckt dessen Schwester an der Unterseite ihres Autos eine per Magnet befestigte kleine Box: einen Peilsender. Spätere Anfragen bei Gericht ergeben, dass das Gerät nicht von österreichischen Kriminalisten stammt. Im November erstattet Eipeldauer Anzeigen gegen unbekannt. Sein Verdacht: Ein Nachrichtendienst oder ein Detektiv hätte seine Schwester überwacht. Die Wiener Neustädter Staatsanwaltschaft beauftragt das Landesamt für Verfassungsschutz mit Erhebungen, lässt diese allerdings wenig später einstellen.

Peter Eipeldauer hofft unverdrossen auf eine Neuauflage der Gerichtsverfahren in Österreich. Kontakt halten Vater und Sohn seit dem Abschied im August 2012 über Videotelefonie im Internet.
Anfang März 2013 findet am Landesgericht Korinth eine Verhandlung über die endgültige Obsorge statt. Eine Reise dorthin, sagt Eipeldauer, ist riskant – obwohl mittlerweile auch in Griechenland kein Haftbefehl wegen Kindesentziehung mehr vorliegt.

Infobox
Streit ums Kind

Obsorgestreitigkeiten sind schmerzhaft für alle Beteiligten. Haben Mutter und Vater unterschiedliche Staatsbürgerschaften, wird es überdies rechtlich komplex. Und entführt ein Elternteil das Kind in sein Heimatland, ist manchmal – wie im seit einem Jahr anhängigen Fall Oliver – juristische Konfusion die Folge. Im Allgemeinen sind die Behörden bestrebt, Kindesentführung durch Mutter oder Vater nicht zu kriminalisieren. In Österreich ereignen sich laut Auskunft des Justizministeriums jährlich rund 50 derartige Fälle (Entführungen nach und aus Österreich zusammen), nur wenige enden vor dem Strafrichter. Wird ein Kind gegen den Willen eines Obsorgeberechtigten ins Ausland entzogen, bestimmt das Haager Übereinkommen zur Kindesentführung (HKÜ), dass es innerhalb von sechs Monaten von den ausländischen Behörden rückgestellt werden muss.
In welchem Land der Obsorgestreit gerichtlich ausgetragen wird, bestimmen etwa das Europäische Sorgerechtsübereinkommen und – für EU-Staaten – die so genannte Brüssel-IIa-Verordnung. Prinzipiell gilt der Grundsatz, dass die Behörden jenes Landes über das Obsorgerecht entscheiden, in dem das Kind seinen letzten „gewöhnlichen Aufenthaltsort“ – also vor der Entführung – hatte. Da Dänemark als einziges EU-Land diese Verordnung nicht übernommen hat, kam es im Fall Oliver zur kuriosen Situation, dass der Vater in Dänemark und die Mutter in Österreich obsorgeberechtigt ist.

Gernot   Bauer

Gernot Bauer

ist Innenpolitik-Redakteur.