Die maßlose Kaste der Frühpensionisten

Graue Gefahr: Wie eine Kaste von Langzeit- rentnern den Jungen die Zukunft stiehlt

Die Politik kapituliert vor der Macht der Alten

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Das österreichische Senioren von jenen, die sie erhalten, unterscheidet: Sie essen weniger aufgetaute Germknödel, dafür mehr Fertiggerichte. Mischbrot ist ebenso ihres wie leicht kaubare Müslis und Butterkekse. Sie konsumieren deutlich mehr Lungenbraten, Selchfleisch, Räucherlachs, Karfiol, Bienenhonig und kaufen im Supermarkt mehr Bier und Wein. Weniger Geld als Normalverbraucher investieren Pensionisten statistisch gesehen in Staubsauger, Verhütungsmittel, Motorräder, Mobiltelefone, Flachbildfernseher, Wintersportartikel, Städteflüge und Deodorants; mehr in Büstenhalter, Waschmaschinen, Bratpfannen, Waschmittel, Hustentee, Festnetz, Blockflöten, Hundefutter, Lotto, Rubbellose, Tageszeitungen, Buspauschalreisen, Solarienbesuche, Eigenheimbündelversicherungen und Begräbnisse.

Österreichs Senioren, wie sie die Statistik Austria sieht: Zusätzlich zum Verbraucherpreisindex (VPI) ermittelt das Amt monatlich den Preisindex für Pensionistenhaushalte (PIPH), beauftragt vom Österreichischen Seniorenrat, mitfinanziert vom Sozialministerium. Die seltsame Idee dahinter: Pensionisten konsumieren zwar das Gleiche wie die übrigen Alterskohorten, aber in anderem Ausmaß. Und daher werden die 770 Produkte und Dienstleistungen aus dem Warenkorb des VPI seniorenadäquat gewichtet.

Der Effekt: Mögen die Preise in Europa im Juli krisenbedingt auch noch so deutlich gefallen sein (in Österreich gab es einen vergleichbaren Wert zuletzt 1966), im Volkswirtschaftsuniversum der 1,85 Millionen heimischen Pensionäre herrscht dennoch – statistisch abgesichert – Inflation von 0,1 Prozent. Übers Jahr wird laut PIPH mit zwei Prozent gerechnet. Und für die soll jemand zahlen: alle anderen Österreicher nämlich, deren Teuerung 2009 nur 1,5 Prozent betragen wird und für die kein Pensionistenindex zählt. So sehen das zumindest die einflussreichen Cheflobbyisten der rot-weiß-roten Pensionistenkaste, Karl Blecha, 76, Präsident des SPÖ-Pensionistenverbands, und Andreas Khol, 68, Obmann des ÖVP-Seniorenbunds. Von der Regierung fordern beide eine zweiprozentige Erhöhung der Pensionen für 2010, gemäß Pensionistenpreisindex versteht sich. Mehrkosten laut Experten: 200 Millionen Euro jährlich.

Der frühere deutsche Bundespräsident Roman Herzog, 75, warnte im April 2008 vor einer „Rentnerdemokratie, in der die Älteren die Jüngeren ausplündern werden“. Das war vor der Weltwirtschaftskrise. Im Jahr 2009 mit rasant anziehenden Arbeitslosenquoten erhält Herzogs prognostizierte Gerontokratie kleptokratische Züge, wenn die Alten ihre fantasierten wohlerworbenen Rechte verteidigen, welche die Jungen kaum mehr finanzieren können. Rund 13 Milliarden Euro muss der Bund allein 2009 für Pensionszahlungen (inklusive der Beamtenpensionen) berappen, mehr, als er für Schulen und Universitäten ausgibt. Der angesichts leerer Staatskassen absehbare Verteilungskampf wird so zum unlauteren Wettbewerb und der viel umjubelte Generationenvertrag – Junge erhalten Alte – sittenwidrig. Und die Politik? Hat vor der Macht der Alten längst kapituliert.

Der Kampf der Generationen ist zunächst eine Angelegenheit der Demografie. Wer bis vor zwanzig Jahren in den „wohlverdienten Ruhestand“ wechselte, hatte Krieg und die Armut danach als junger Erwachsener miterlebt. Warnungen weitsichtiger Experten in den achtziger Jahren, die Renten seien auf Dauer nicht finanzierbar, wurden stets mit einem Totschlagargument beiseite gewischt: Es sei geradezu frivol, der Trümmergeneration, die Österreich nach dem Krieg aus Schutt und Asche wieder errichtete, einen ausfinanzierten Lebensabend vorzuenthalten. Wer heute in Rente geht, kann sich nicht einmal an Leopold Figl mit Staatsvertrag, geschweige denn ans Kriegsende erinnern. Angehörige der betroffenen Jahrgänge 1950 aufwärts, die nun fröhlich in die (Früh-)Pension gleiten, gehören zur versilberten Generation mit Aussicht auf einen angenehmen Ruhestand. Denn Österreich wird rasant älter: Jeder Mann gewinnt pro Jahr 122 und jede Frau 100 statistische zusätzliche Lebenstage. Das Bild, das Pensionistenvertreter gern zeichnen, hat mit der Realität so nur noch bedingt zu tun. Auf jede pflegebedürftige Mindestpensionistin mit Hund kommt ein rüstiger Rentner mit ausschließlich Tagesfreizeit, die es in diversen Vereinen auszufüllen gilt. Laut jüngster Statistik des Kuratoriums für Verkehrssicherheit wurden 2008 mehr als 18.000 Senioren Opfer von Sportunfällen.

Pensionsalter sinkt. Der lange Lebensabend der Golden Girls und Boys wäre an sich begrüßenswert – wenn die Arbeitszeit mit der steigenden Lebenserwartung Schritt halten würde. Das Gegenteil ist aber der Fall: Als hätte es nie eine Reform gegeben, sinkt das Pensionsantrittsalter, statt anzusteigen. Der durchschnittliche Österreicher verabschiedete sich im Vorjahr mit 58,1 Jahren in die Pension – um einen Monat früher als im Jahr 2002, also vor der schwarz-blauen Pensionsreform. Die Gewerkschaft hätte sich ihre Proteste gegen die von ÖVP und FPÖ beschlossene Abschaffung der Frühpension getrost sparen können, die Reform scheiterte ohnehin an der Wirklichkeit.

Heuer wird das Pensionsantrittsalter weiter sinken: Denn schon in der ersten Jahreshälfte beantragten 15.000 Endfünfziger die Frühpension, so viele wie im gesamten Vorjahr. Damit könnte sich Österreich für 2009 den Titel des Frühpensionsweltmeisters sichern. Dem steht nur mehr Frankreich im Weg (siehe Grafik), in allen anderen OECD-Staaten gehen die Erwerbstätigen von Jahr zu Jahr später in Pension. Dieser ungebrochene Trend zur Frühpension kostet. Zumindest 300 Millionen Euro zusätzlich müssen heuer aus Steuermitteln ins Pensionssystem eingeschossen werden, eher noch mehr. Denn wegen der steigenden Arbeitslosigkeit verschlechtern sich die Beitragsleistungen der Beschäftigten dramatisch, was den Finanzminister laut „Salzburger Nachrichten“ noch einmal nicht budgetierte 140 Millionen Euro extra kosten könnte.

So hat sich das Winfried Pinggera nicht vorgestellt. Er war einst im Kabinett von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel Mastermind der Pensionsreformen. Nun sitzt er als Generaldirektor im neunten Stock der Pensionsversicherungsanstalt. Das kleine Ziel des annähernd zwei Meter großen Mannes lautet, das Wort „Anstalt“ aus dem Namen wegzubringen – sein großes, auch heute Jungen noch eine Pension bieten zu können. „Wenn nicht länger gearbeitet wird, verändert sich die Pension zu einer Mindestsicherung mit Minipensionen. Und dann werden sich die Jungen zu Recht fragen, wozu sie Versicherungsbeiträge zahlen“, sinniert er. Er will das Pensionssystem nicht totreden: „Das System ist sicher.“ Zusatz: „Aber nur dann, wenn wir uns nicht zu viel links und rechts der Regelpension leisten. Die Schlupflöcher in die Frühpension gehören gestopft.“ Derzeit tritt nicht einmal die Hälfte der Neorentner eine Regelpension an.

Einzelne Berufsgruppen bedienen sich besonders ungeniert. Die Invaliditätspension etwa ist für jene gedacht, die zu krank zum Arbeiten sind. Seltsamerweise bekommen Hilfsarbeiter aber so gut wie nie den Status „invalid“ und damit den Freibrief in die Frühpension. Den Bauern hingegen wird zu 66 Prozent die Invaliditätspension zuerkannt. Selbst Sozialrechtler wie Wolfgang Mazal, die das Wort Klassenkampf nur unter Folter aussprechen, urteilen: „Die Invaliditätspension trägt Züge einer Klassengesetzgebung wie aus dem 19. Jahrhundert. Sie bevorzugt die Bessergestellten.“ Noch dazu darf ein „Invalider“ in der Pension dazuverdienen – in jedem anderen Beruf als in dem, für den er zu invalid ist.

Erfahrene Skeptiker in der Arbeiterkammer vermuten, die Pensionsversicherung der Bauern gehe in ihrer eigenen Begutachtung freigiebig mit dem Status „invalid“ um. Bauern, die zu krank zum Arbeiten und daher „invalid“ sind, leben danach noch 20 Jahre – und damit genauso lang wie Bauern, die in normale Alterspension gehen. Die sind freilich in der Minderheit: Denn auch viele „Schwerarbeiter“ sind Bauern, kein anderer Berufsstand schafft es unter diesem Titel so häufig in die Frühpension.

Die so genannte Hacklerregelung wiederum ist für Beamte und Angestellte maßgeschneidert. Wahrscheinlich war es der größte Propagandaerfolg von Schwarz-Blau, diese besonders günstige Pensionsform als Zuckerl für Arbeiter im Blaumann zu verkaufen. Wahr ist das Gegenteil: Mehr als jeder zweite Bundesbeamte und jeder dritte Angestellte, die im Vorjahr in Pension gingen, nutzte die „Hacklerregelung“. In der Berufsgruppe der Arbeiter hingegen erreichen nur 14 Prozent den Status „Hackler“. Es gehört zu den gut gehüteten Geheimnissen von SPÖ und Gewerkschaft, warum sie diese privilegierte Pensionsform für ohnehin Privilegierte verteidigen. Im Vorjahr wurde die Hacklerregelung bis 2013 verlängert – Kosten: rund 800 Millionen Euro.

Dazu kommen Altersteilzeit, Zusatzpensionen für Sozialversicherung und andere teure Extras. Dutzende Beispiele teurer Sonderpensionen hat der Sozialforscher Bernd Marin über die Jahre gesammelt. Er sitzt in seinem Garten nahe Mistelbach und kann sich, nach einem Leben des Rufens nach einer gerechten Pensionsreform, immer noch in Rage reden: „Der Sinn eines Wohlfahrtsstaats kann ja nicht sein, dass ihn eine Generation mit ins Grab nimmt. Wenn wir so weitermachen, ist das Pensionssystem wie ein Pyramidenspiel, bei dem für die jeweils nächste Generation immer weniger überbleibt. Menschen, die nach 1970 geboren sind, könnten im Vergleich zur Nachkriegsgeneration nicht einmal die Hälfte des Gegenwerts ihrer Beiträge herausbekommen.“

Daran ist auch das besonders üppige System der Beamtenpensionen schuld. Die Ruhegenüsse der Staatsdiener sind nicht einmal zu 47 Prozent von Beiträgen gedeckt. Die meisten Beamten verdienen im Ruhestand mehr als in der Aktivzeit, im Schnitt 2600 Euro pro Monat. Lehrer etwa verdienen im Schnitt im Klassenzimmer 47.900 Euro pro Jahr – und in der Pension 49.300. Auch sonst sind Beamte gleicher: Bei ASVG-Versicherten wird die Pensionshöhe nach den 21 besten Verdienstjahren berechnet, bei Beamten nur nach den sieben besten. Außerdem dürfen Beamte auch in der Frühpension dazuverdienen, Arbeiter und Angestellte nicht. Marin kann vorrechnen, dass jeder Euro eines Beamten an die Pensionsversicherung 50 Prozent mehr an Pension bringt als der Euro eines ASVG-Versicherten.

Lobbymacht. Selbst die Extras für Bundesbeamte nehmen sich gegen die der 140.000 Landesbeamten wie ein Butterbrot aus. Hätten Landesbeamte die gleich hohe Pension und die gleichen Dienstjahre wie Bundesbeamte, wäre das Pensionssystem um 100 Millionen Euro jährlich billiger. Zusammenfassend fällt Marin ein vernichtendes Urteil: „Das Pensionssystem verteilt massiv um, zugunsten der Beamten und des geschützten Sektors. Und zulasten der Jungen.“

Der verantwortliche Sozialminister bleibt dennoch ein deklarierter Fan des österreichischen Rentenregimes. Rudolf Hundstorfer: „Das staatliche Pensionssystem ist krisenfest und gesichert.“ Die Lobbyisten rea­gieren empfindlich. Andreas Khol: „Wir Seniorenvertreter sind nicht unverschämt, sondern fordern nur eine Anpassung der kleinen und mittleren Pensionen. Wir wehren uns gegen diese Panikmache der Medien. Es gibt keinen Kampf der Generationen.“ Auch Karl Blecha kann keine Generationenunverträglichkeit erkennen: „Wir verlangen nichts Unbotmäßiges, sondern die Wertsicherung der Pension. Nur selbst ernannte Experten stellen immer wieder die Unfinanzierbarkeit des Pensionssystems in den Raum. Dabei bewährt sich das System Monat für Monat.“

In ihren Parteien sind die beiden ob ihrer Macht durchaus respektiert. Bei den Nationalratswahlen 2008 war rund ein Drittel der 6,3 Millionen Wahlberechtigten über 60 Jahre alt. Kein Wunder, dass rote und schwarze Strategen Rentnerversteher sind. Unter den älteren Semestern finden sie ihre treuesten Anhänger. Bei den heurigen EU-Wahlen machten die Stimmen der über 60-jährigen Wähler 42 Prozent des Gesamtergebnisses der ÖVP aus. Anti-Pensi-Rhetorik kommt da nicht gut, und so beschränkt sich die Junge ÖVP darauf, „die gerechtigkeitspolitische Schieflage“ (Ex-JVP-Chefin Silvia Fuhrmann) mit der Forderung nach billigeren Eintrittspreisen ins Museum für Junge zu bekämpfen. Einen Jugend-Verbraucherpreisindex fordert vorerst niemand.

Schon gar nicht in der SPÖ: Bundesgeschäftsführerin Laura Rudas, 28 (statistische Lebenserwartung: 95), feiert sich selbst zwar gern als personifiziertes antifaschistisches Bollwerk, die im Vergleich zu heimischen Faschisten doch zahlreicheren arbeitslosen Jugendlichen lässt sie im Verteilungskampf gegen Senioren allein: „Die Generationen gegeneinander auszuspielen sichert die Pensionen nicht.“

Und so bleibt der Seniorenteller üppig gefüllt. Selbst zarte Versuche, Schonkost zu servieren, scheitern am Widerstand der Koa­litionsparteien. Im Mai 2008 einigten sich die Minister Martin Bartenstein und Erwin Buchinger auf die so genannte „Pensionsautomatik“. Die Idee: Steigt die Lebenserwartung, sollten ohne politische Verhandlungen Beitragszahlungen erhöht oder das Pensionsantrittsalter angehoben werden. Nur wenige Wochen später war das Projekt tot, gescheitert am Widerstand der SPÖ unter klammheimlicher Freude der ÖVP-Arbeitnehmervertreter. Vor allem Michael Häupl hatte gegen die automatische Anpassung der Pensionen „durch einen seelenlosen Computer“ gewettert.

Im eigenen Machtbereich vertraut der Wiener Bürgermeister schon lieber auf moderne Verwaltungsmaßnahmen. Und so ist in Wien die automatische inflationsbedingte Anhebung von Gebühren – Kanal, Müll, Wasser, Parken – möglich. Was Häupl vielleicht nicht weiß: Laut Pensionistenpreisindex sind Seniorenhaushalte davon deutlich stärker betroffen als Normalverbraucher.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin