In Putins Gulag

In Putins Gulag: von Michail Chodorkowski bis „Pussy Riot”

Russland. Putins Gulag: 600.000 Häftlinge als Arbeitssklaven

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Am 25. Oktober 2003 stürmte ein Sonderkommando am Flughafen von Nowosibirsk den Privatjet von Michail Chodorkowski. Vor wenigen Monaten beging der ehemals reichste Mann Russlands im Straflager Nummer 7 im nordrussischen Karelien seinen 50. Geburtstag. Aus einem der fähigsten Manager des Landes ist in den vergangenen zehn Jahren ein Arbeitssklave geworden, der seine Zeit damit verbringt, Plastikfolien zusammenzuschweißen.

Die Zustände in den Haftkolonien Russlands sind himmelschreiend – im Westen aber erst wieder ein Thema, seit Nadeschda Tolokonnikova, Mitglied der feministischen Punkgruppe „Pussy Riot“ Ende September in einem offenen Brief auf der Webseite „Lenta.ru“ darauf hingewiesen hat.

„Sie geben uns verfaultes Brot“, schrieb die 23-jährige Politaktivistin, die im August 2012 zu zwei Jahren Straflager verurteilt worden war, weil sie in einer Moskauer Kathedrale 40 Sekunden lang ein Protestlied gegen Präsident Wladimir Putin und seine Verbindung zur russisch-orthodoxen Kirche gesungen hatte.

700.000 Menschen sitzen in Russland im Gefängnis, knapp 600.000 davon in Strafkolonien, wo sie vor allem damit beschäftigt sind, Uniformen für Armee und Polizei zu nähen. Manche der Lager stammen noch aus Stalins Zeiten, als der paranoide sowjetische Diktator sein Reich mit einem System von Arbeitslagern überzogen hatte. Der Dissident Alexander Solschenyzin machte dies 1973 in seinem „Archipel Gulag“ weltberühmt. Das Buch trug ihm den Nobelpreis ein und ist „all jenen gewidmet, die nicht genug Leben hatten, um dies zu erzählen“.

Von Stalins Gulag zu Putins Gefängnislagern ist der Weg kürzer als gedacht. Der amtierende Präsident ist nicht der erste russische Herrscher, der den pazifistischen Widerstand drakonisch bestraft. Das Land blickt auf eine lange Tradition des Gulag zurück. Gerade jene, die mit geistigen Mitteln gegen das jeweilige Regime kämpfen, galten und gelten in Russland als besonders gefährliche Schwerverbrecher. Schon die Zaren schickten Störenfriede im 19. Jahrhundert nach Sibirien. Der heute hoch verehrte Schriftsteller Fjodor Dostojewski verbrachte dort vier Jahre, in denen er permanent mit Hand- und Fußketten gefesselt war.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion leerten sich die Gefängnisse, unter Putin füllten sie sich wieder – nicht zuletzt deshalb, weil der Kremlherr die kapitalistischen Auswüchse der 1990er-Jahre durch Haftstrafen einzudämmen versuchte. Zehntausende Geschäftsleute, die entweder wirklich gesetzlos gehandelt hatten oder aber Opfer von korrupten Konkurrenten waren, wanderten für Jahre hinter Gitter. Im Juli 2013 verabschiedete die Duma, das russische Parlament, ein Amnestie-Gesetz, das dafür sorgen soll, dass Wirtschaftskriminelle schneller entlassen werden.

Punktuell beweist Putins Regime also durchaus Reformwillen. Für eine große Gefängnisreform aber fehlt dem korrupten, behäbigen Beamtenapparat bisher die Kraft.

Doch nicht nur der Gulag, auch der Widerstand dagegen hat in Russland Tradition. Inzwischen haben Ex-Häftlinge und Menschenrechtler überall im Land Gruppen gegründet, die gegen die Bedingungen in den Gefängnissen kämpfen – nicht ganz ohne Erfolg, wie Alexej Sokolov berichtet. Der ehemalige Sträfling hat die „Verteidiger des Ural“ ins Leben gerufen, einen Verein von Bürgerrechtlern, die das rechtlose Treiben hinter dem Stacheldraht nicht hinnehmen wollen.

Auch Nadeschda Tolokonnikova war in gewissem Sinne erfolgreich. Viele hatten ihr geraten, sich nicht gegen die Gefängnisleitung aufzulehnen, wenn sie und ihre ebenfalls inhaftierte „Pussy Riot“-Kollegin Maria Aljochina nach dem offiziellen Ende ihrer Haftstrafe am 2. März 2014 auch wirklich entlassen werden wollen. Doch die Mutter einer kleinen Tochter ließ sich davon nicht beirren und trat in den Hungerstreik. Daraufhin sandte Präsident Wladimir Putin eine Delegation von Menschenrechtlern ins Lager, um die Vorwürfe zu überprüfen. Inzwischen hat die Regierung zumindest angekündigt, das Gehalt von Näherinnen ab Jänner um einige Rubel anzuheben.

Dies sind freilich nur kleine Siege gegen ein System, dessen ungeschriebene Gesetze schwer zu brechen sind. Gegenüber Putins Menschenrechtlern wollten die meisten Häftlinge etwa gar nicht reden. Manche deuteten nur schweigend mit den Augen an die Wände: Kein Gespräch bleibe geheim, ein falsches Wort könnte die Wut der Wärter entfesseln.

profil hat in Sibirien und anderen Regionen recherchiert und Berichte von Häftlingen in Putins Gulag zusammengetragen.

„Man konnte töten, ohne Folgen fürchten zu müssen.“

Alexej Sokolow, 40, begann nach sieben Jahren Lagerhaft, sich mit der NGO „Legale Basis“ und dem „Öffentlichen Beobachtungs-Komitee“ (PMC) in Swerdlowsk für die Rechte von Häftlingen zu engagieren – und wurde daraufhin wieder eingesperrt. Inzwischen hat er eine neue Organisation gegründet, die „Verteidiger des Ural“.

Das erste Mal wurde ich 1993 verhaftet. Angeblich hatte ich Sportkleidung gestohlen. Das stimmte nicht, ich produzierte sie ja selbst. Zehn Tage lang verprügelten sie mich. Dann sollte ich ein Geständnis unterschreiben. Ich weigerte mich. Dem Richter war das egal, er verurteilte mich zu sieben Jahren Strafkolonie in Chabarowsk. Dort stellte ich fest, dass Häftlinge der Gefängnisleitung vollkommen ausgeliefert waren. Man konnte sie schlagen, foltern, aushungern, ja sogar töten – ohne Folgen befürchten zu müssen. Ich begann den Gefangenen dabei zu helfen, ihre Rechte einzufordern. Ich wandte mich an die Vorgesetzten, an die höheren Stellen. Der einzige Erfolg war, dass ich in Einzelhaft landete.
Im Jahr 2000 wurde ich entlassen. Ich fand einen Job, gründete eine Familie und setzte mich für die Rechte von Häftlingen ein – unter Berufung auf ein Gesetz, das es Menschenrechtlern erlaubt, die Bedingungen in Haftanstalten prüfen. Nach jedem Besuch im Straflager schrieb ich einen Bericht über die Missstände. Die Leiter der Swerdlowsker Gefängnisbehörde GUFSIN waren über meine Berichte nicht erfreut und luden mich zu einem Gespräch ein. Sie drohten, mich zu verhaften, falls ich nicht mit ihnen kooperierte. Ich weigerte mich. Also nahmen sie mich fest.
Die Anklage war absurd: Häftlinge erinnerten sich plötzlich, dass ich acht Jahre vorher mit ihnen irgendwelche Verbrechen begangen hatte. Russische und internationale Menschenrechtsorganisationen protestierten gegen meinen Prozess. Man sagte mir damals, dass man mich wegen der allgemeinen Aufmerksamkeit nicht fertigmachen könne, dass man mich aber „geistig brechen“ würde. Ich wurde zu drei Jahren Haft in der Anstalt für Alkoholiker und Drogenabhängige in Krasnojarsk verurteilt.
Die Arbeit dort war hart. Wir hatten zwei Gewächshäuser für Gurken und Tomaten und Ställe für Schweine und Rinder. Drei von uns bekamen 500 Rubel (umgerechnet rund 11,50 Euro) pro Monat, die anderen arbeiteten überhaupt umsonst. Es gab keine Ausfuhrlisten. Bei uns im Speisesaal sahen wir unser eigenes Gemüse nie.
Später erkrankte ich an Tuberkulose und wurde entlassen. Es wird nichts passieren, solange die Gefangenen wissen, dass es keinen Sinn hat, gegen die Leitung zu protestieren, weil die höheren Behörden mit den Wärtern gemeinsame Sache machen. Häftlinge werden in Russland auch weiterhin als Sklaven missbraucht. Wir müssen uns wehren.

„Lagerchefs leben von ­Drogenhandel oder ­Erpressung.“

Michail Chodorkowski, 50, wurde nach seiner Verhaftung 2003 in einem ersten Verfahren zunächst zu acht Jahren wegen Unterschlagung verurteilt und in einem zweiten Prozess 2010 wegen Diebstahls seines eigenen Öls zu weiteren sechs Jahren. 2012 wurde das Strafausmaß um zwei Jahre verringert, er könnte also im August 2014 theoretisch entlassen werden. Allerdings gibt es Spekulationen, dass die Behörden einen dritten Prozess mit einer Anklage wegen Mordes vorbereiten, um zu verhindern, dass er tatsächlich freigeht. Derzeit sitzt er im Straflager Nummer 7 in Karelien an der finnischen Grenze.

„Gesetzeslosigkeit in den russischen Regionen konnte man früher in ,rote‘ und ,schwarze‘ Strafkolonien aufteilen. Die Leitung der ,schwarzen‘ Gefängnisse lebte in der Regel vom Drogenhandel. Die ,roten‘ Lagerchefs dagegen profitierten einfach von Erpressung. Beiden gemeinsam war, dass Verwaltung und Gangster ihren eigenen, egoistischen Interessen nachgingen.
In letzter Zeit lassen sich ,rote‘“ und ,schwarze‘ Strafkolonien nicht mehr so einfach unterscheiden. Früher waren die schwarzen die kriminellen Kolonien, in denen Verbrecher herrschten. Die ,roten‘ dagegen wurden von der Gefängnisbehörde kontrolliert. Inzwischen aber sind sich alle ähnlicher geworden, es gibt im allgemeinen weniger physische Gewalt, dafür mehr ­Papierkrieg und selektive Umsetzung von Regeln.“

(Auszug aus der Serie „Knastbrüder“, die Chodorkowski im Moskauer Magazin „The New Times“ veröffentlicht.)

+++ Pavel Chodorkowski über die Haftbedingungen seines Vaters. +++

„Meine Freundin beging ­Selbstmord.“

Natalya Tarakina, 37, ist derzeit im Straflager ­Nummer 14 im Dorf Partsa Subowo im Bezirk Poljanski in Mordwinien inhaftiert – der gleichen Haftanstalt, in der auch Nadeschda Tolokonnikova sitzt.

Es ist ganz normal, dass wir vier oder fünf Überstunden machen müssen. Die jüngeren Näherinnen trifft der Arbeitsalltag besonders hart. Sie werden geschlagen, wenn sie nicht schnell genug arbeiten. Es gibt aber auch andere Demütigungen. Teilweise werden die Näherinnen von anderen Häftlingen gefoltert.
Ich selbst wurde oft geschlagen. Der Direktor unserer Strafkolonie, sein Name ist Ryschow, war besonders brutal. Als ich mich darüber beklagte, landete ich die ersten neun Monate in Einzelhaft. Nicht alle können diese Zustände aushalten. Meine Freundin Tatjana Chapurina zum Beispiel beging im Mai 2012 Selbstmord. Deren Freundin Alfiya Suhowa auch.

(Aussage Tarakinas vor der präsidentiellen Kommission für Menschenrechte)

„Du bist ein Sklave”

Ilia Kotow, 33, wurde 2010 wegen Diebstahl und Betrug in Nischni Nowgorod verurteilt.

Kurz nach meiner Verurteilung wurden in Russland Parlamentswahlen abgehalten. Ich weigerte mich zu wählen. Daraufhin wurde ich verprügelt. Dann zwang man mich, für die Pro-Putin-Partei Geeintes Russland zu stimmen. Die Wahlbeobachter schauten weg.
Im Straflager in der Perm-Region begann die Arbeit um vier Uhr Früh. Wir arbeiteten immer zwölf bis vierzehn Stunden. Dafür bekamen wir pro Monat 32 Rubel (umgerechnet etwa 70 Cent, Anm.). Ein Päckchen Zigaretten kostet 35 Rubel. Medizinische Versorgung gab es nicht. Als ich mir einen Finger brach, verprügelten mich die Offiziere. Einer von ihnen sagte zu mir: „Du bist ein Sklave. Du wirst umsonst arbeiten.“ Dieses Straflager war ein „rotes“ Lager, also unter offizieller Kontrolle.
Später wurde ich in die Kolonie Nr. 4 in Nischni Nowgorod transferiert – ein „schwarzes“ Lager, das komplett kommerzialisiert war. Man konnte gegen Schmiergeld alles bekommen, musste aber auch für alles zahlen. Ging etwas kaputt, wurde es etwa nur repariert, wenn die Verwandten der Häftlinge die Kosten dafür ersetzten. Ein Mobiltelefon kostete 10.000 Rubel (umgerechnet rund 230 Euro, Anm.). 2013 wurde einer der Offiziere wegen Korruption verurteilt, danach wurde es schwieriger, sich bessere Bedingungen zu organisieren.
Mitte Mai 2013, bereits in einem neuen Lager, räumte ich gerade den Speisesaal auf, als ich einen Knall hörte und einen scharfen Schmerz in meiner Hand fühlte. Jemand hatte auf mich geschossen. Die Krankenschwester sagte später, sie könne die Kugel nicht herausoperieren. Röntgen gab es auch keines. Sie desinfizierte die Wunde und schickte mich in meine Baracke. Ein Beamter erklärte mir, dass es wenig Sinn habe, mich zu beschweren. Ich sollte eine Erklärung unterschreiben, dass ich an einem Nagel hängengeblieben war.
Im Juni 2013 wurde ich entlassen. Der Staatsanwalt von Nischni Nowgorod zerriss die Erklärung über die Verbrechen im Lager, die ich ihm übergeben hatte.

„Häftlinge werden verstümmelt.“

Piotr Kurianow, 42, war in verschiedenen Straflagern in der Saratow-Region inhaftiert. Heute setzt er sich in der Gruppe „Russland sitzt“ für Gefangene in Not ein.

Ich verbrachte die meiste Zeit zwischen 1996 und 2007 in Einzelhaft. Ich war in mehreren Gefängnissen und Straflagern in der Saratow-Region, das erste Mal wegen eines Jugenddeliktes. Da ich aber die Bedingungen im Lager nicht akzeptieren wollte, galt ich schnell als Unruhestifter. Wenn ich mal einen oder zwei Tage in einer normalen Zelle saß, dann passierte immer das Gleiche. Ein Mithäftling erzählte mir, wie er misshandelt worden war, ich ging für ihn zu den Vorgesetzten und dann landete ich gleich wieder in Isolationshaft.
In den Straflagern sind nicht die einfachen Wärter das Problem. Jeder Zweite ist eigentlich ganz in Ordnung. Die Vorgesetzten aber sind oft Faschisten. Sie schlagen Häftlinge zusammen, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie legen es auch darauf an, bleibende Narben zu hinterlassen, vor allem an Armen und Bauch – als Erinnerung gewissermaßen. Die „roten“ Lager, die an sich unter offizieller Kontrolle stehen, sind in der Saratow-Region schrecklich. Häftlinge werden dort verstümmelt und zuweilen sogar umgebracht.

„Die Werkbank ist voll mit ­deinem Blut.“

Nadeschda Tolokonnikova, 23, wurde als Mitglied der feministischen Punk-Gruppe „Pussy Riot“ im Februar 2012 bei der Aufführung eines Putin-kritischen Songs in einer Moskauer Kathedrale verhaftet und zu zwei Jahren Straflager wegen Rowdytums verurteilt. Derzeit sitzt sie in Mordwinien in der Gefängniskolonie Nummer 14 in Haft.

Meine Brigade näht 16 bis 17 Stunden pro Tag. Von halb acht Uhr morgens bis halb eins in der Nacht. Wenn wir Glück haben, können wir vier Stunden schlafen. Alle sechs Wochen haben wir einen Tag frei. Eine 50-jährige Frau bat darum, einmal die Woche bereits um 20 Uhr ins Bett gehen zu dürfen, um acht Stunden Schlaf zu bekommen. Sie fühlte sich krank, und sie hatte hohen Blutdruck. Als Reaktion wurde eine Gruppenversammlung anberaumt, die Frau gedemütigt und als Schmarotzerin beschimpft. „Glaubst du, du bist die Einzige, die mehr Schlaf will? Du musst härter arbeiten, du Kuh!“
Um die Disziplin und den Gehorsam aufrecht zu erhalten, besteht ein inoffizielles Strafsystem, das sehr weit ausgelegt wird. Inhaftierte werden gezwungen, in den Lokalka (den abgezäunten Durchgängen zwischen zwei Bereichen des Lagers) zu stehen, bis die Lichter ausgeschaltet werden: Das heißt, es ist ihnen verboten, in die Baracken zu gehen – egal ob es Herbst oder Winter ist. In der zweiten Einheit, die aus Häftlingen mit Behinderungen und Alten besteht, bekam eine Frau nach einem Tag in der Lokalka so schlimme Erfrierungen, dass ihre Finger und ein Fuß amputiert werden mussten. Sie „verlieren ihre Hygiene-Privilegien“, das heißt, die Gefangenen dürfen sich nicht waschen oder zur Toilette gehen; oder ihre „Einkaufs- und Teestuben-Privilegien“, dürfen also kein eigenes Essen und keine Getränke mehr zu sich nehmen.
Im Juni habe ich 29 Rubel (70 Cent, Anm.) verdient. Meine Abteilung näht täglich 150 Polizeiuniformen. Vor zwei Wochen wurde die Arbeitsquote jeder Abteilung um 50 Stück angehoben – einfach so. Deine Hände sind durchlöchert von Nadelstichen und von Kratzern übersät, die Werkbank ist voll mit deinem Blut. Trotzdem nähst du weiter.

(Auszug aus einem offenen Brief auf der populären Nachrichtenwebseite „Lenta.ru“, in dem Tolokonnikova die Verhältnisse im Lager beschreibt.)

Tessa   Szyszkowitz

Tessa Szyszkowitz