Die neuen Herren Libyens

Libyen. Seit dem Ende von Gaddafi sorgen Rebellen im Land für Recht und Ordnung – oder das, was sie dafür halten

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Sie haben sich richtig fein gemacht für diese Verhaftung: Mou trägt einen weißen Pullover und eine dunkelblaue Jacke, die so fällt, dass sie den Knauf der Pistole in seinem Hosenbund gerade noch erahnen lässt. Neben ihm am Fahrersitz der Sheik, mit schwarzem Hemd und geputzten Schuhen statt der Tarnuniform und den Combat-Boots, in denen er sonst herumstapft.
Der schwere Toyota Landcruiser rast in halsbrecherischem Tempo über die regennasse Stadtautobahn Richtung Süden, ein zweiter mit Haitem, Mhamid und den Kalaschnikows klebt an seiner Stoßstange: Die Greifer der Abteilung 99 am Weg zu einer – ja, was eigentlich? Einer Amtshandlung? Einer Verhaftung? Einem Kidnapping?

Vollbremsung. Der Sheik holt aus seiner Aktentasche zwei amtlich aussehende Zettel. Haftbefehle sind es nicht, diese könnte nur die Polizei ausstellen: Die Papiere enthalten lediglich Aufforderungen, zu einer Befragung mitzukommen, freiwillig sozusagen. Aber dass Widerstand zwecklos wäre, macht schon die Bewaffnung der Männer mehr als deutlich.
Türen schlagen, die Männer betreten zielstrebig den Eingangsbereich der Schule, in der sie ihre Zielpersonen vermuten. Gerade verlässt eine Gruppe von Mädchen mit Kopftüchern das Gebäude. Haitem hält die Kalaschnikow schussbereit in der Hand. Es hat aufgehört zu regnen, die Sonne kommt durch.

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Tripolis, ein Jahr nach dem Beginn des Aufstands gegen Muammar al-Gaddafi, ein ­halbes nach seiner Flucht aus der Hauptstadt und vier Monate nach seinem Tod: Wo zu Lebzeiten des selbst ernannten Revolutionsführers eine straff organisierte Diktatur das Sagen hatte, gilt es nun, ein Machtvakuum zu füllen.

Die zahllosen Geheim- und Sicherheitsdienste Gaddafis sind aufgelöst, Polizei und Justiz haben ihre Autorität verloren. Ein verbindlicher Konsens darüber, wie die Strafverfolgung im befreiten Libyen funktionieren soll, existiert bislang nicht – weder was die Funktionäre des früheren Regimes noch was einfache Kriminelle betrifft. Und von einem neuen Rechtssystem kann bislang überhaupt keine Rede sein.

Die Macht im Land liegt nun in den Händen seiner Befreier: jener Rebellengruppen, die sich ab dem Februar 2011 in verschiedenen Städten des Landes formierten und es in monatelangen, blutigen Kämpfen eroberten, bis sie im vergangenen August allesamt auf dem Platz der Märtyrer im Zentrum von Tripolis standen, jede mit ihren Meriten, ihren Opfern und Verlusten.

Es war der Punkt, an dem sie ein gemeinsames Ziel erreicht hatten. Aber auch jener, an dem sie begannen, ihre eigenen Interessen zu entdecken. So wurde aus dem staatlichen Gewaltmonopol die Herrschaft einer Unzahl verschiedener Milizen, die sich niemandem wirklich unterordnen wollen – auch nicht der ohnehin schwächelnden Übergangsregierung.

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Nach ein paar Minuten kommen Mou und der Sheik, der als Kommandant der Abteilung nur selten mit seinem Vornamen Mohammed gerufen wird, wieder aus dem Schulgebäude. Mou trägt zwei Computerlaufwerke, der Sheik begleitet einen stämmigen Mann mit Schiebermütze und Schnurrbart zum Auto. Wenig später folgen Haitem und Mhamid mit dem zweiten Häftling, ohne viel Aufsehen zu erregen. Die beiden Festgenommenen sollen in der Schule eine Fälscherwerkstatt für Ausweise betrieben haben. Wenn es stimmt, was die Greifer von Abteilung 99 vermuten, gingen die Dokumente auch an ehemalige Regime-Günstlinge, die sich nun als Rebellen ausgeben wollen – ein schwerwiegender Verdacht, der die Männer ins Gefängnis bringen kann.

Mou und die anderen Kämpfer von Abteilung 99 gehören zur Nalut-Brigade, einer der größeren und einflussreicheren Milizen, die im Zuge der Revolution entstanden sind. Benannt ist die Gruppe nach der an der Grenze zu Tunesien im Nafusa-Gebirge gelegenen Stadt Nalut. Die kleine, vor allem von Berbern bewohnte Kommune hatte sich bereits in den ersten Tagen der Revolution für unabhängig erklärt und wurde daraufhin wochenlang von Gaddafi-Truppen angegriffen.

Als die Belagerer im Mai aufgaben, hatten die Bewohner von Nalut bereits Unterstützung von Hunderten Aufständischen von außerhalb bekommen, die nunmehr eine eigene, 2000 Mann starke Brigade bildeten und den flüchtenden Regierungseinheiten nachsetzten. So wie hier bildeten sich auch in anderen Städten des Landes eigene Milizen, zunächst zur Selbstverteidigung, dann zum Sturm auf die Hochburgen des Regimes.
Rund drei Dutzend Rebellengruppen waren es zu dieser Zeit, zu besonderer Bekanntheit brachten es die Brigaden von Benghazi, dem Ausgangspunkt der Revolution, und von Misrata, einem besonders schwer umkämpften Hafen – aber auch jene der westlibyschen Städte Zintan und eben Nalut.

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20 Minuten Fahrt mit den Verdächtigen am Rücksitz, dann öffnet sich das automatische Tor zum Stützpunkt der Abteilung 99, der nicht weit vom eigentlichen Hauptquartier der Nalut-Brigaden im Stadtteil Bin Ashour entfernt ist.

Abteilung 99 ist so etwas wie der allgemeine Sicherheitsdienst der Miliz und hat rund 60 Angehörige, die sich für die Fahndung nach ehemaligen Gaddafi-Anhängern ebenso zuständig fühlt wie für Drogen-, Alkohol- und andere Kleindelikte. Sie haben Quartier in der ehemaligen Villa eines Regime-Funktionärs bezogen, der offenbar eine Vorliebe für weiße Lederfauteuils hatte. Jetzt fläzen sich dort ehemalige Rebellen, und auch die beiden Verhafteten dürfen in einer der Sitzgarnituren Platz nehmen. Währenddessen machen sich Mou und der Sheik daran, die konfiszierten Computer zu überprüfen.

Mou heißt eigentlich Mohamed und ist 25 Jahre alt, ein groß gewachsener, attraktiver Bursche mit freundlichem Gesicht, der Wert auf Aussehen und Auftreten legt. Als am 17. Februar 2011 der Aufstand gegen Gaddafi beginnt, studiert er im tschechischen Brno Wirtschaft und Management.
Eine Woche später ist er bereits auf dem Weg in den Kampf.
Brno–Wien: Am 25. Februar nimmt Mou, der seinen Nachnamen lieber nicht in der Zeitung lesen will, in Wien an einer Anti-Regime-Demonstration teil. Es ist der Tag, an dem die libysche Botschaft in Döbling Gaddafis grüne Fahne einholt und stattdessen die rot-schwarz-grüne des früheren Königreichs aufzieht.

Wien–Tunis: Im März setzt er mit einer Fähre von Genua nach Tunesien über und beginnt Kontakt mit Rebellen zu suchen.
Tunis–Sousse: In der tunesischen Hafenstadt trifft er Verbindungsleute und wird auf seine Zuverlässigkeit überprüft.

Sousse–Nalut: Mitte Juli, nach einer zweiwöchigen Waffenausbildung, kommt er in Nalut an. Wenig später beginnt der Marsch auf Tripolis. Auf dem Weg gerät Mous Pick-up-Truck in einen Hinterhalt, am Beifahrersitz verblutet sein Scharfschütze. Es ist nicht das einzige Mal, dass er nur knapp dem Tod entkommt, aber im Gegensatz zu rund 70 seiner Mitkämpfer, die bei Scharmützeln sterben, schafft er es in die Hauptstadt.
Am 21. August 2011, knapp vor Mitternacht, steht Mou im Zentrum von Tripolis auf dem Grünen Platz, der wenig später in „Platz der Märtyrer“ umbenannt wird. Er und die anderen sind angekommen, und sie sind nicht mehr das, was sie vor dem Kampf waren: Aus dem Wirtschaftsstudenten Mou, aus dem Apotheker Haitem, aus dem Fischer Mhamid und aus dem gelernten Elektriker Sheik Mohammed sind Sieger geworden, die nun Verantwortung für das befreite Libyen übernehmen wollen.

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Die beiden Verdächtigen wirken etwas grau im Gesicht, wie sie so in ihren weißen Ledersofas sitzen – ihre offenkundige Nervosität wird auch dadurch nicht gemildert, dass die Stimmung im Stützpunkt von Abteilung 99 durchaus entspannt ist. Ein paar Rebellen haben den Wuzler auf die Freitreppe der Villa getragen und veranstalten dort ein Match.
Andere, die in der Nacht zu Checkpoints abkommandiert waren, schlafen sich auf Matratzen am Boden aus, ihre Kalaschnikows lehnen in der Ecke. Einer, der aussieht, als wäre er keine 15 Jahre alt, schiebt seinen Uniformärmel nach oben: Der gesamte rechte Unterarm ist von Narben überzogen. Gaddafi-Anhänger hätten ihm das angetan, erzählt er.
Dann lassen sie Essen kommen, für sich und die Verdächtigen: zwei große Schüsseln mit Fleisch, Sauce und Reis. Funkgeräte krächzen, Mobiltelefone läuten, der Fernseher läuft wie immer, und die Häftlinge verfolgen mit ausdruckslosem Blick eine Sendung, in der zu dramatischer Musik die Steckbriefe der noch am Leben befindlichen Mitglieder des Gaddafi-Clans eingeblendet werden: Saadi, dritter Sohn des Revolutionsführers, der gerade aus dem Exil im Nachbarland Niger mit dem Aufruf zur Konterrevolution für Aufregung gesorgt hat. Dann Aisha, die Tochter. Und eine Reihe anderer ehemaliger Regime-Größen.

Währenddessen durchsucht Mou die Computer nach Belegen für Dokumentenfälschung. Der Sheik schaut ihm dabei über die Schulter. Auf dem Schrank hinter ihnen steht ein geladenes Scharfschützengewehr. An der Wand hängt ein Schild: Rauchen verboten.
Die beiden sind bemüht, wie professionelle Ermittler zu arbeiten – Beweise finden und sichern, keine voreiligen Schlüsse ziehen, keine Schläge oder Drohungen. Und keine Fotos von den Verdächtigen, bitte: Es gilt die Unschuldsvermutung.

Nicht immer und überall werden Verdächtige so pfleglich behandelt wie hier und jetzt. Menschenrechts- und Hilfsorganisationen haben jüngst schwere Vorwürfe gegen mehrere Rebellenorganisationen erhoben. In Misrata etwa stellte die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen aus Protest ihre Tätigkeit ein, nachdem die dortige Miliz von den Medizinern verlangt hatte, offensichtlich gefolterte Häftlinge für weitere Verhöre fit zu machen. Amnesty International berichtet von zwölf bestätigten ­Todesfällen bei Vernehmungen. Die UN spricht von 8000 Menschen, die derzeit von Rebellengruppen festgehalten werden.

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Auf den Computern findet sich nichts, was den Verdacht gegen die beiden Festgenommenen rechtfertigen würde. Also nochmals zurück zur Schule, um weitere Datenträger zu konfiszieren.
Eine halbe Stunde später haben Mou und der Sheik entdeckt, was sie suchen: Grafikprogramme, eingescannte Stempel und Layouts, teils schon zu fertigen Ausweisen zusammengebastelt. Die Männer in der weißen Sitzgarnitur versuchen sich zu rechtfertigen – sie arbeiteten selbst für eine Miliz und hätten die Dokumente im Auftrag ihres Vorgesetzten hergestellt.
Der Sheik informiert den angeblichen Kommandanten der beiden und ersucht ihn, ebenfalls vorbeizukommen. Situationen wie diese haben in jüngster Vergangenheit immer wieder zu blutigen Gefechten zwischen Rebellengruppen geführt. Nimmt eine Miliz Angehörige einer anderen fest, bleiben bewaffnete Befreiungsversuche oft nicht aus. „Die Kämpfe könnte man auch Wirtshausraufereien auf Libysch nennen“, sagt David Bachmann, der österreichische Handelsdelegierte in Tripolis, mit der Abgeklärtheit des langjährigen Landeskenners.

Die Auseinandersetzungen haben auch damit zu tun, dass die Zahl der Milizen und Milizionäre seit dem Ende des Regimes nachgerade explodiert ist. Aus wenigen Dutzend sind inzwischen Hunderte geworden, und Tausende Libyer stellen sich auf der Suche nach einem Job bei den größeren Verbänden an.

„Es sind viel zu viele geworden“, murrt Mou, der kampferprobte Veteran: „Jetzt werden auch Leute aufgenommen, die überhaupt keine Erfahrung haben – und ehemalige Gaddafi-Anhänger versuchen anscheinend auch, bei Milizen unterzukommen.“ Zudem wird das Mäntelchen des Revolutionären vermehrt auch dazu herangezogen, kriminelle Umtriebe zu kaschieren. Checkpoints, um an Geld von unbeteiligten Zivilisten heranzukommen: Das hätte es in den glorreichen Tagen des Aufstands nicht gegeben.

Bei der Unzahl von Kontrollpunkten, die dieser Tage von unterschiedlichen bewaffneten Gruppen betrieben werden, soll aber auch das vermehrt vorkommen.
Woher kommt ihr?
Wohin seid ihr unterwegs?
Was habt ihr im Kofferraum?
Gib mir deine Kamera!
Der Versuch scheitert, diesmal zumindest.

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Einer der Festgenommenen wird heute nicht nach Hause gehen, so viel steht fest. Es ist aber nicht der eigentlich Hauptverdächtige – er hat sich nach einem Gespräch mit dem Kommandanten der Miliz in den Augen des Sheiks als unschuldig erwiesen. Auf dem Computer des zweiten hat Mou aber mehr belastendes Material gefunden als erwartet.
Der Mann mit der Schiebermütze wird in den Keller des Stützpunkts geführt: Hier befindet sich das Untersuchungsgefängnis der Abteilung 99, einer von Dutzenden Kerkern im Land, die unter der Kontrolle von Milizen stehen.

Dort gewährt Abteilung 99 Außenstehenden keinen Zutritt, wohl aber zum Gefängnis „Insara“ südwestlich von Tripolis, das formell unter der Verantwortung des Innenministeriums steht, aber von den Nalut-Rebellen geführt wird. Im Moment sitzen hier 70 Gefangene ein, vor allem ehemalige Gaddafi-Kämpfer – die meisten sind Libyer, der Rest Schwarzafrikaner, die als Söldner angeworben wurden. Sie wissen ebenso wenig wie die Jus-Studenten und Anwälte, die das Gefängnis verwalten, wie es nun weitergeht. Bislang wurden weder Anklagen gegen sie erhoben noch Gerichtsverfahren eingeleitet. Strafausmaß? Art der Strafe? Vertretung durch Verteidiger? Nichts von alledem ist klar.
Auf eine ähnlich ungewisse Zukunft muss sich auch der mutmaßliche Fälscher mit der Schiebermütze einstellen, den die Abteilung 99 mithilfe der Computerkenntnisse von Mou heute einkassiert hat.

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Als der Einsatz vorbei ist, lenkt Mou seinen Wagen durch den dichten Verkehr im Zentrum von Tripolis. An einer Straßenecke nahe dem Märtyrer-Platz grinst er: Hier ist er während der Schlacht um die Stadt mit einem zweiten Kämpfer gekauert, von seiner Miliz getrennt. Plötzlich das Geräusch schwerer Fahrzeuge – Gaddafi-Truppen, die auf das versprengte Duo zukamen. Die beiden flüchteten in den Eingang eines Gebäudes, jemand ließ sie in seine Wohnung, versteckte ihre Waffen und gab ihnen Zivilkleidung zum Überziehen.

Mou fährt langsam weiter. Gestern war er auf einem Termin mit der Architektin, die das Haus für ihn und seine zukünftige Frau entwirft. Heute muss er noch zur Hochzeit eines Freundes, er hat versprochen, den Wagen für die Fahrt von der Zeremonie ins Hotel zur Verfügung zu stellen. Und einen soliden Job sucht er auch noch immer. Irgendwer hupt, aber hier hupt immer irgendwer.

„I miss my Nalut days“, sagt Mou, der ­Rebell.