"Mitgefühl mit Männern und Jungs"

"Mitgefühl mit Männern und Jungs": Starfeministin Alice Schwarzer im Mail-Rap

Starfeministin Alice Schwarzer im Mail-Rap

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Interview: Angelika Hager

profil: Sie haben bei den letzten Bundestagswahlen eine klare Wahlempfehlung für Angela Merkel abgegeben. Hat sie Ihre Erwartungen erfüllt?
Alice Schwarzer: Da muss ich Sie enttäuschen: Ich habe noch nie in meinem Leben eine Wahlempfehlung gegeben, auch nicht für Merkel. Im Gegenteil: Ich habe in der „Emma“ zur Wahl ein kritisches Interview mit der Kandidatin geführt, wie sich das für Journalisten gehört. Allerdings habe ich nach der Wahl und nach dieser absurden Wahlnacht – in der der abgewählte Kanzler Schröder gegrölt hat, „Die kann das nicht!“ und das Volk wolle, dass er weiterregiert – gesagt: So geht es nicht!

profil: In welchen Punkten hat sie Sie enttäuscht?
Schwarzer: Da ich mir keine Illusionen über die Möglichkeiten eines Kanzlers bzw. einer Kanzlerin mache, hat mich Merkel auch nicht enttäuscht. Ich finde allerdings, die Kanzlerin macht ihre Sache gut, vor allem außenpolitisch.

profil: Wie kommentieren Sie Merkels Krisenmanagement?
Schwarzer: Beruhigend. Es scheint mir richtig, in diesen krisengebeutelten Zeiten nicht überhastet noch weitere Milliarden hinterherzuwerfen.

profil: Beide deutschen Großparteien sacken in den Umfragewerten total ab, die „Linke“ ist im Vormarsch. Gibt es neue Hoffnung für das linke Lager?
Schwarzer: Wenn das linke Lager, das keines ist, sich einig wäre, gäbe es sicherlich Hoffnung.

profil: Würden Sie Merkel heute wieder wählen?
Schwarzer: Wer sagt Ihnen denn, dass ich Merkel gewählt habe?

profil: Wie schwach oder stark ist der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering?
Schwarzer: Müntefering ist ein Parteisoldat, notwendig, aber eher der Mann im Hintergrund.

profil: Auf einigen Fotos des G20-Gipfels, wo Merkel mit Obama zu sehen ist, scheint fast mädchenhafte Schwärmerei im Spiel zu sein. Ist das einer Kanzlerin unwürdig?
Schwarzer: Wie hätten Sie die deutsche Kanzlerin denn gerne? Mit Leichenbittermiene?

profil: Wie kommentieren Sie die Dekolleté-Debatte, die Merkel vor einem Jahr anlässlich eines Besuchs der Osloer Oper hervorgerufen hat?
Schwarzer: Gar nicht. Ich persönlich finde, Anzüge stehen Angela Merkel am besten. Aber auch eine Kanzlerin will eben mal „ganz Frau“ sein.

profil: Michelle Obama verkörpert einen neuen Typ von US First Lady. Dennoch sind ihre Oberarme und ihre Outfits auch in den seriösen Medien Debattenpunkt Nummer eins. Wie erklärt man sich das?
Schwarzer: Auch bei profil ist das Aussehen von Frauen Thema, wie wir sehen. Ich finde, dass Michelle Obama wirklich Geschmack hat. Und ihre Größe, Kraft und Körperhaltung signalisieren Gleichheit mit ihrem Mann.

profil: Hat Michelle Obama das Zeug dazu, das Frauenbild der Welt zu verändern?
Schwarzer: Diese First Lady kann ja schon mal damit anfangen, das Bild von schwarzen Frauen in Amerika zu verändern – bei Schwarzen wie Weißen. Damit wäre bereits viel gewonnen.

profil: Warum ist Hillary Clinton im Rennen gegen Obama gescheitert?
Schwarzer: Vielleicht, weil es doch leichter ist, einen Schwarzen zu wählen als eine Frau. Vielleicht auch, weil Hillary als Ehefrau von Clinton für das Alte stand und Obama das Neue versprach. Vermutlich beides.

profil: Stimmen Sie in die allgemeine „Oba­mamania“ ein, oder haben Sie gewisse Vorbehalte?
Schwarzer: Schwärmerei ist in der Politik nicht meine Sache. Natürlich gefallen mir Obamas locker-bescheidener Auftritt und sein partnerschaftlicher Stil. Er findet den richtigen respektvollen Ton, vor allem auch mit den Ländern der Dritten Welt. Und es ist auch erleichternd, dass gerade ein Präsident der Atommacht Amerika vom Ende der Atomära zumindest einmal spricht. Nun muss er Schrittchen für Schrittchen einlösen, was er verspricht. Wir werden sehen.

profil: Wie lautet Ihre Prognose für die Weltwirtschaftskrise?
Schwarzer: Das ist erst der Anfang.

profil: Wie soll Deutschland mit seinen Millionen Arbeitslosen umgehen?
Schwarzer: Sie nicht via Abwrackprämie in noch mehr Schulden und Konsum hetzen. Sondern die Gesellschaft fundamental umgestalten: Mehr Arbeitsplätze schaffen in Krippen, Schulen und Altersheimen; mehr investieren in ein würdigeres und sinnvolleres Leben für alle.

profil: Werden die Frauen die Hauptleidtragenden der Wirtschaftskrise sein?
Schwarzer: Davon ist auszugehen. Es trifft ja immer die Letzten in der Kette am härtesten.

profil: Sie haben in einem Interview gesagt, dass die Männer die Hauptverursacher der Wirtschaftskrise sind, was natürlich auch quantitativ zu erklären ist. Wie lautet Ihre psychologische Erklärung dafür?
Schwarzer: Meine materialistische Erklärung dafür lautet: Die Männer haben ja auch das große Geld. Meine psychologische Erklärung: Für Männer ist Geld nicht gleich Mittel zum Zweck wie für Frauen, sondern gleichbedeutend mit Macht und Potenz. Darum zocken sie so enthemmt.

profil: Der Mann wird von der Sachliteratur neuerdings zum Krisengebiet erklärt: Muss er uns in seinem heutigen Zustand leid tun?
Schwarzer: Nein, Mitleid ist immer falsch. Aber Mitgefühl dürfen wir schon haben mit diesen Jungen und Männern, die in ihrem alten Selbstverständnis erschüttert sind und ein neues noch nicht so recht gefunden zu haben scheinen.

profil: Existiert so etwas wie eine Männerbewegung?
Schwarzer: Kennen Sie eine?

profil: Die US-Feministin Susan Faludi und auch andere Feministinnen erklären die Krise des Mannes mit seinem kaputten Selbstwertgefühl, das sie im Schwinden der Ernährer- und Versorgerrolle begründet sehen. Wie lautet Ihre These dazu?
Schwarzer: Ich schließe mich der klugen Susan Faludi an.

profil: Studien belegen, dass Scheidungsväter durch Alkoholismus, Depressionen und andere psychische Erkrankungen besonders gefährdet sind. Wieso können Männer so schlecht allein sein?
Schwarzer: Weil sie es so gar nicht gewohnt sind. Aber ich denke, dass die zunehmende Isolation und Vereinsamung in unserer kapitalistischen Welt keinem Menschen guttut, egal, welches Geschlecht er hat.

profil: In einem profil-Interview haben Sie vor ein paar Jahren gesagt, dass die sexuelle Verweigerung die letzte Machtbastion des Mannes ist, um die emanzipierten Frauen zu bestrafen. Hat sich diese Tendenz noch verstärkt?
Schwarzer: Ich sehe heute in der Sexualität eher zwei Tendenzen: Die eine ist die einer zunehmend gleichberechtigten kommunikativen Sexualität auf Augenhöhe zwischen den Geschlechtern. Die andere ist die einer zunehmend ungleichen Sexualität, die nicht zuletzt von einer frühen Pornografisierung und Frauenverachtung der Männer geprägt ist.

profil: Die in der „sexuellen Marktwirtschaft“, wie die Schweizer Autorin Sibylle Berg das nennt, schwer vermittelbaren Frauen sind die gut situierten Akademikerinnen um die 40. Ist weiblicher Erfolg noch immer das Anti-Aphrodisiakum schlechthin?
Schwarzer: Für manche Männer. Nicht für alle. Siehe meine vorige Antwort.

profil: Heidi Klum und ihre Sendung „Germany’s Next Topmodel“ erfreut sich vor allem bei jungen Frauen großer Beliebtheit. Wie erschreckend ist der Erfolg einer solchen Sendung für Sie?
Schwarzer: Diese Sendung ist wirklich eine traurige Angelegenheit. Es ist bedrückend zu sehen, wie kaltherzig Heidi Klum die Mädchen deklassiert – und wie ergeben diese Mädchen das mit sich geschehen lassen. Auch ist die Prämisse, Erfolg könne auf reiner Äußerlichkeit beruhen, fatal.

profil: Glauben Sie, dass dieser Typus von Sendung auf die Anorexie- und Bulimiequote Auswirkungen zeigen wird?
Schwarzer: Die Hungersucht ist auch ohne diese Sendung die Sucht Nummer eins bei den Mädchen und Frauen der westlichen Welt. Mindestens jede zehnte der in pathologische Diäten kippenden Frauen stirbt ­daran. Der Diätwahn ist eines der größten Probleme der Frauen.

profil: Wie beurteilen Sie generell das Selbstverständnis weiblicher Teenager heute?
Schwarzer: Ein Problem junger Frauen ist, dass sie mehr Illusionen haben, als wir sie hatten. Ansonsten gibt es genau wie in meiner Generation Mutige und Feige, Klarsichtige und Verlogene. Schon seit Jahren sind übrigens die meisten der Neuleserinnen von „Emma“ sehr jung und hat „Emma“ laut Leserinnenanalyse 2006 die jüngsten Leserinnen aller deutschen Frauenzeitschriften. Ich habe also kein Problem mit den so genannten „jungen Frauen“, weniger als mit meiner Generation.

profil: Wo sind Alice Schwarzers seelische Töchter, Enkelinnen, die das Frauenthema weiter vorantreiben? Sehen Sie Nachfolgerinnen, junge Mitstreiterinnen, Hoffnungsträgerinnen?
Schwarzer: Ja, viele! Die Frauen gehen, trotz der Rückschläge wie Schönheits- und Schlankheitswahn, ihren Weg weiter.

profil: Der Islam ist neben der Pornografie noch immer Ihr großes Streitthema. In einem Interview mit der „FAZ“, ge­gen das vonseiten einer islamistischen Organisation Klage erhoben wurde, haben Sie Parallelen zwischen Islamismus und Nationalsozialismus konstatiert. Stehen Sie nach wie vor zu dieser Aussage?
Schwarzer: Halt! Ich habe mich noch nie zum Islam geäußert. Ich warne allerdings seit dreißig Jahren vor dem Islamismus, dem Islam als politischer Strategie. Dass es bei dem Kreuzzug der Gottesstaatler, die Menschenrechte und Demokratie abschaffen wollen, Parallelen zum Nationalsozialismus gibt, ist ja wohl unübersehbar.

profil: Welche Fehler wurden in der Integrationspolitik gemacht, und wie könnte man sie beheben?
Schwarzer: Es war ein enormer Fehler, nicht das Gespräch mit der schweigenden Mehrheit der Menschen im islamischen Kulturkreis zu suchen, sondern sich von den islamistischen Funktionären einen falschen „Dia­log“ diktieren zu lassen. Und es scheint mir einer der größten Fehler der Linken in den letzten Jahrzehnten, dass sie die Kritik am Islamismus – nicht Islam! – und das berechtigte Unbehagen als „rassistisch“ den Rechten überlassen hat.

profil: Charlotte Roche, die Autorin von „Feuchtgebiete“, hat sich in Interviews häufig von einem „Feminismus im Sinn von Alice Schwarzer“ distanziert. Wie kann man sich erklären, dass eine junge, erfolgreiche Frau von Grillzangen und Avocadokernen, die sie sich vaginal einführt, erzählen will?
Schwarzer: Na ja, Charlotte war ja mal begeisterte „Emma“-Abonnentin … Ich habe die „Feuchtgebiete“ überflogen. Es ist ein billig provokantes, aber auch ein sehr trauriges Buch: über Einsamkeit und Sehnsucht. Die Käufer des Buches von Roche sollen vor allem junge Frauen und ältere Männer sein. Beide versprechen sich etwas davon – wenn auch nicht dasselbe.

profil: Es gibt eine Reihe von bildenden Künstlerinnen wie die Britin Tracy Emin und neben Roche auch einige Schriftstellerinnen, die sich mit Sexualität auf einer sehr pornografischen Ebene auseinandersetzen. Wie ist diese Strömung zu erklären?
Schwarzer: Das sich sexuell Anbieten hat bei Frauen, gerade auch bei Künstlerinnen, oft etwas mit frühen Erfahrungen zu tun. Zu Kunst, die ja augenöffnend und verstörend sein sollte, kann es allerdings erst werden, wenn die Pornografie nicht nur reproduziert wird, sondern transzendiert.

profil: Das Sorgenkind Nummer eins in allen Bildungsdebatten sind die Jungs, die von den Mädchen überholt werden. War­um ist das so?
Schwarzer: Jetzt, wo auch Mädchen Zugang zu Bildung haben, suchen die Jungen sich ein neues, exklusives Terrain. Und so mancher greift zurück auf die traditionelle Verknüpfung von Männlichkeit und Gewalt. Was fatal ist. Nicht nur für die Opfer, auch für die Täter.

profil: Wie sollten Bildungspolitik und Pädagogik mit dieser Entwicklung umgehen?
Schwarzer: Nicht in Form einer speziellen Jungenerziehung, sondern im Gegenteil: in Form der totalen Aufhebung der Trennung von Jungen und Mädchen. Erziehen wir endlich Kinder zu Menschen!

profil: Ist der Amokläufer von Winnenden die brutale Konsequenz dieser genderspezifischen Entwicklung?
Schwarzer: Ja, der frustrierte Tim K. hat sich mit seinen 200 Pornos und seiner Beretta in die Rolle des allmächtigen Helden geflüchtet, des Herrn über Leben und Tod. Er hat in der Schule mit gezielten Kopfschüssen acht Schülerinnen und einen Schüler (der als „Frauenflüsterer“ galt) exekutiert, plus drei Lehrerinnen. Da ist es beklemmend, dass in Deutschland weder die Journalisten noch die Ermittler sehen wollen, dass das selbstverständlich etwas mit Frauenhass zu tun hat.

profil: Wird Frauenhass bei jungen Männern noch ein großes Thema werden?
Schwarzer: Er ist schon ein großes Thema. Das zeigen wir auch in der nächsten „Emma“-Ausgabe, für die ich mit einem jungen Beinahe-Amokläufer gesprochen habe.

profil: Die schwedische Autorin Maria Sveland hat mit ihrer feministischen Polemik „Bitterfotze“ einen neuen Gender-Diskurs angeregt. Die Quintessenz des Buches ist die wachsende weibliche Frustration bei der Familiengründung. Genau ab diesem Punkt werden auch in liberalen Beziehungen die Karten zuungunsten der Frauen neu gemischt. Wie kann man dagegen ankämpfen?
Schwarzer: Indem man auch in der Liebe weniger zu Illusionen und Selbstbetrug neigt und mehr zur Wahrheit und Eigenverantwortung.

profil: Simone de Beauvoir sagte: „Mutterschaft ist eine Form der Sklaverei.“ Hat sie noch immer Recht?
Schwarzer: Bis vor gar nicht so langer Zeit war das so. Heute wird das besser, allmählich. Aber noch fast immer sind die Mütter mehr in der Pflicht mit den Kindern als die Väter.

profil: Wie lautet Ihre Prognose für den Gebärstreik der Frauen? Wird sich diese Tendenz verschärfen?
Schwarzer: Ich habe eher den Eindruck, dass Frauen es wieder zunehmend wagen, Kinder und einen Beruf zu wollen.

profil: Sind Sie müde, ständig als Deutschlands einziges feministisches Gewissen die Stellung zu halten?
Schwarzer: Ich verstehe mich nicht als „feministisches Gewissen“. Im Gegenteil: Ich verstehe mich als Aufklärerin und möchte zum Selberdenken beitragen.

profil: Denken Sie irgendwann an Rückzug? Und wie würde eine Alice Schwarzer im Ruhestand ihre Tage zubringen?
Schwarzer: Ich bin weder eine erschöpfte Fabrikarbeiterin, die nach Stechuhr arbeiten muss, noch eine resignierte Beamtin, die in Pension geschickt wird. Ich bin eine unabhängige Blattmacherin und Autorin, und was Sie „Ruhestand“ nennen, ist mir fremd.

Die Interviewfragen wurden aus Termingründen per E-Mail beantwortet.