Das Natascha-Syndrom

Natascha Kampusch. Krude Verschwörungstheorien halten sich hartnäckig

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Für Dagmar Belakovic-Jenewein, Abgeordnete zum Nationalrat und Gesundheitssprecherin der FPÖ, stecken alle unter einer Decke. In der ORF-Diskussionssendung "Zur Sache“ am vorvergangenen Sonntag schrie sie den Grazer Staatsanwalt Thomas Mühlbacher an: "Haben Sie den Kampusch-Akt frisiert?“ Im profil-Gespräch wiederholt Belakovic-Jenewein: "Mühlbacher lügt. Die Staatsanwaltschaft insgesamt hat den Akt frisiert und ihn nicht vollständig an den parlamentarischen Unterausschuss übermittelt.“ Die Staatsanwälte seien "die Einzigen, die noch die Einzeltätertheorie vertreten, weil sie riesige Ermittlungsblamagen vertuschen wollen“. Doch sie muss zugeben: Die nicht übermittelten Aktenteile bestehen aus einem Foto von Natascha Kampusch und einigen inhaltlich nichts sagenden Vernehmungsprotokollen, deren Unterschlagung keinerlei Sinn ergäbe. Belakovic hält an ihrer diffusen These fest: "Da versucht jemand etwas zu vertuschen.“

Mit ähnlichen Tönen hatte Belakovic im Vorjahr schon auf sich aufmerksam gemacht, als sie eine parlamentarische Anfrage zum Tod der damaligen Innenministerin Liese Prokop einbrachte. Zwischen den Zeilen klang ihr Verdacht durch, dunkle Mächte könnten den Tod Prokops herbeigeführt haben. Auch heute sagt sie: "Das war ja nicht irgendwer, sondern die Innenministerin. Warum hat man eineinhalb Stunden gebraucht, um sie ins Krankenhaus zu bringen?“ Und Belakovic antwortet gleich selbst: "Weil es Interessen gegeben haben muss, dass sie es nicht rechtzeitig schafft.“

Wie ticken die Verschwörungstheoretiker, die stets noch eine andere "Wahrheit“ wittern, wenn Fakten längst eine andere Lesart vorgeben? Der Glaube an den Teufel ist laut Historikern die geistesgeschichtliche Wurzel aller Verschwörungsideologien: Wenn "guten“ Menschen "Böses“ angetan wird, ist nicht Gott schuld, sondern die zerstörerische Energie jener, die sich mit dem Teufel verbündet haben. In der säkularisierten Welt hat der Teufel ausgedient, da sind es stattdessen mächtige, konspirative Gruppen, die die Fäden in der Hand halten und alles und jeden zu lenken verstehen. Auf besonders fruchtbaren Boden fallen diese Thesen laut dem Münchner Psychiater Norbert Nedopil bei Personen mit Selbstwertproblemen, die eigene Unrechtserfahrungen auf andere übertragen und wenig in der Lage sind, Perspektiven zu wechseln. Sie beurteilen Sachverhalte nicht nach Fakten, sondern nach ihrem Weltbild. Ihr Glaubensgrundsatz lautet: Eliten hintergehen die Masse, wann immer sie können. Und sie können immer, denn sie verfügen über komplexe Geheimhaltungsstrategien. Verschwörungstheoretiker operieren mit nicht widerlegbaren, "sich selbst erneuernden Thesen“: Was gegen die These spricht, entkräftet sie nicht, sondern stützt sie. Jedes Gegenargument wird als weiterer Vertuschungsversuch und daher als Beweis für deren Richtigkeit gewertet. Jede neue Sonderkommission, jeder neue Untersuchungsausschuss, jeder neuerlich beauftragte Staatsanwalt, der zum alten Ergebnis in der Causa Kampusch kommt, liefert nichts als den Beweis dafür, dass "irgendwas“ vertuscht werden soll.

Der wegen des Todes des Täters Wolfgang Priklopil nicht restlos klärbare Entführungsfall scheint unter vielen Kampusch-"Experten“ mittlerweile ein "Natascha-Syndrom“ ausgebildet zu haben. Der Vorarlberger Psychiater Reinhard Haller nennt das ein "Psychotop“ von vorgefassten und zementierten Meinungen, in dem eine unvoreingenommene Evaluierung nicht mehr möglich sei. Haller ruft nach einem ausländischen Schiedsrichter, der zu einem Schlusspfiff fähig ist, der für alle Beteiligten zu hören ist. Haller spricht von "querulatorischen Entwicklungen“ bei Persönlichkeiten, die "in ihrem Leben eine Leere und wenig Bedeutsamkeit verspüren und eine Idee zum Lebensinhalt machen, die ihnen verlorene Wichtigkeit zurückgibt“. Außerdem gehörten alle Unterlagen zum Fall offen auf den Tisch.

Selbst Ludwig Adamovic, Ex-Präsident des Verfassungsgerichtshofs, Vorsitzender der "Kampusch-Evaluierungskommission“ und wohl einer der größten Juristen der Zweiten Republik, klebt an "Verdachtsmomenten“ wie dem Umstand, dass Kampusch in einem Interview vermutete, dass der Fall wohl nie ganz aufgeklärt werde: "Woher weiß sie das?“

Und Johann Rzeszud, Ex-Präsident des Obersten Gerichtshofs, lässt nicht locker bei der einzigen "Tatzeugin“, einer damals Zwölfjährigen, die mehrmals aussagte, zwei Männer gesehen zu haben, als die damals zehnjährige Natascha Kampusch am Morgen des 2. März 1998 in einen weißen Kleinbus gezerrt wurde. Dabei schloss die Zeugin selbst zuletzt nicht mehr aus, sich möglicherweise getäuscht zu haben. Psychiater Haller zitiert zur Frage der Präzision von Langzeiterinnerungen ein Experiment: Personen wurden als "Augenzeugen“ auf lange zurückliegende Ereignisse wie Raubüberfälle angesprochen, die nie stattgefunden hatten. So mancher "Augenzeuge“ sprudelte förmlich über vor Erinnerungsdetails.

Anhänger der "Mehrtätertheorie“ sind wenig zugänglich für logische Gegenfragen: Warum sollte Natascha Kampusch, die immer nur Priklopil gesehen haben will, lügen, um weitere Täter zu decken? Und wäre Kampusch in ihrer mitgenommenen psychischen Verfassung überhaupt in der Lage, vor Einvernahmeprofis komplex und glaubhaft zu lügen? Hätte sie dann überhaupt erwähnt, dass Priklopil kurz nach der Entführung telefoniert und danach gesagt habe: "Die kommen nicht“? Einer von mehreren Widersprüchen in diesem Fall, der längst als unaufklärbar gilt.

Weitere Indizien für die Mehrtätertheorie gibt es schlichtweg nicht. Drei Staatsanwaltschaften (Wien, Graz, Innsbruck) haben ermittelt, Sonderkommissionen der Polizei, Privatdetektive, Evaluierungskommissionen von Experten sowie parlamentarische Ausschüsse haben jahrelang untersucht. Ergebnis: nichts Neues. Für Verschwörungstheoretiker nur ein Beweis, das etwas vertuscht wird.

Am Natascha-Syndrom im fortgeschrittenen Stadium scheint auch ein Polizist und FPÖ-Mitglied zu laborieren, der sich vor zwei Wochen eigenmächtig in eine Volksschule in Niederösterreich einschmuggelte, um an die DNA einer Schülerin zu gelangen, die er für die in Gefangenschaft gezeugte und geborene Tochter von Natascha Kampusch hielt - obwohl das jahrealte Gerücht für jeden vernunftbegabten Menschen erledigt war, seit ein gynäkologisches Gutachten das Gegenteil bewies.

Freilich: Was es in vielen großen Kriminalfällen gab, ist auch im Fall Kampusch nicht zu kurz gekommen und hat den Boden für wuchernde Verschwörungstheorien aufbereitet:

Intransparentes, misstrauenauslösendes Verhalten der Behörden, schlecht oder gar nicht ermittelte Detailfragen, ein nach dem Selbstmord des Täters Priklopil allzu eilig geschlossener Ermittlungsakt.

Eine nach ihrer Flucht katastrophal schlecht beratene Natascha Kampusch, deren öffentliche Auftritte in der Folge von vielen als unglaubwürdig empfunden wurden, weil sie Wesentliches (etwa Skiausflüge mit Priklopil) verschwieg, was dem Image des Opfers Schaden hätte zufügen können.

Parteipolitisch motivierte Einflussnahme auf die polizeilichen Ermittlungen. Diese gab es in der Frage des "Diensthundeführers“ nachweislich - freilich nicht, um etwa einen "Porno-Ring“ zu decken, sondern aus vergleichsweise banalen, sehr österreichischen Gründen: Kampusch war Ende August 2006 nach acht Jahren Gefangenschaft wieder aufgetaucht - nur sechs Wochen vor den Nationalratswahlen. Kein guter Zeitpunkt für einen Polizeiskandal. Bei einer Pressekonferenz führte Innenministerin Liese Prokop (ÖVP) daher die Selbstbefreiung von Kampusch darauf zurück, "dass wir den Fahndungsdruck erhöht haben“, obwohl niemand mehr gefahndet hatte und alle dachten, Kampusch sei längst tot.

Am Tag nach Kampuschs Rückkehr saß Herwig Haidinger, damals Chef des Bundeskriminalamts, mit seinen Mitarbeitern über der Aufarbeitung des Falls. Dabei fiel auf, dass bereits wenige Tage nach der Entführung ein Polizei-Diensthundeführer einen Hinweis auf Wolfgang Priklopil geliefert hatte: Der "Eigenbrötler“ Priklopil habe einen Hang zu minderjährigen Mädchen. Doch niemand war dem Verdacht nachgegangen. Eine Riesenpanne. Haidinger ordnete die Einvernahme des Hundeführers an. Doch der damals zuständige Polizist und jetzige Wiener Landespolizeikommandant Karl Mahrer erhielt eine Weisung aus dem Kabinett: Franz Lang, derzeit Chef des BKA und stellvertretender Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, sowie Bernhard Treibenreif, damals Kabinettsmitglied und heute Chef der Sondereinheit Cobra, erteilten Mahrer die Weisung, den Diensthundeführer nicht einzuvernehmen. Mahrer bestätigte dies vor einer Disziplinarkommission unter Wahrheitspflicht (das Protokoll liegt profil vor). Herwig Haidinger wurde in weiterer Folge unter Druck gesetzt, angezeigt, versetzt und schließlich entfernt. Haidinger heute: "Lang und Treibenreif haben erklärt, man brauche vor den Wahlen keinen Polizeiskandal. Die haben mich angelogen und behauptet, der Diensthundeführer wolle nicht sprechen, dabei waren zwei Beamte bei ihm, um ihn aufzufordern, nichts zu sagen, weil Wahlen vor der Tür stehen.“

Doch offenbar ist das alles noch zu wenig. Der derzeit in der Causa Kampusch aktive "geheime“ parlamentarische Unterausschuss wird demnächst dem Justizministerium empfehlen, den Fall neu aufzurollen. Auch das FBI möge beigezogen werden. Denn die Einzeltätertheorie sei sehr unwahrscheinlich.