Der tragische Kanzler

profil-Serie, Teil 3 - Der Kanzler gegen Hitler: Das Scheitern des Kurt Schuschnigg

Teil 3 der profil-Serie

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Als die Zeitungen im November 1977 meldeten, Kurt Schuschnigg sei gestorben, wunderten sich viele: Der hatte noch gelebt? Der letzte Bundeskanzler vor Hitlers Machtübernahme war im März 1938 mit seinem morschen Ständestaat untergegangen – und kaum jemand hatte später noch einmal von ihm gehört. Nach 1945 in die USA ausgewandert, hatte er in St. Louis, Missouri, eine Professur und später die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen.

Gesinnungsfreunde von einst hatten ihn nach Kriegsende ersucht, nicht mehr nach Österreich zurückzukehren. Der damalige Bundeskanzler Leopold Figl, ab 1930 Funktionär in Schuschniggs „Ostmärkischen Sturmscharen“, einer Kampftruppe gegen die Sozialdemokraten, hielt eine Rückkehr des Ständestaat-­Kanzlers für eine unnötige Provokation des Koalitionspartners SPÖ. Auch wenn die Ereignisse zwischen 1933 und dem Anschluss mehr als 70 Jahre zurückliegen – aufgearbeitet sind sie noch lange nicht. Das Dollfuß-Bild im ÖVP-Parlamentsklub echauffiert die Sozialdemokraten bis heute. Erst Anfang Februar hatte SPÖ-Bundesgeschäftsführer Josef Kalina die ÖVP wieder einmal an die Despotie ihrer christlichsozialen Vorgängerpartei erinnert. Die Reaktionen des schwarzen Regierungspartners fielen, dem heiklen Thema entsprechend, heftig aus.

Vor allem Bruno Kreisky, selbst mehr als ein Jahr in Lagern und Gefängnissen des autoritären Ständestaats inhaftiert, hatte seine Partei stets auf eine unversöhnliche Haltung gegen den Austrofaschismus eingeschworen. „Eine politische Clique, die sich am Ende auf bestenfalls 30 Prozent der Bevölkerung stützen konnte, hat sich mit den Mitteln des Polizeistaats an der Macht gehalten. Als das Ultimatum Hitlers kam, sind sie nackt und wehrlos dagestanden“, schrieb Kreisky bitter in seinen Me­moiren. Eine „politische Clique“: Damit waren vor allem der 1934 von Nazis erschossene Kanzler Dollfuß und dessen Nachfolger Kurt Schuschnigg gemeint, zwei Männer höchst unterschiedlicher Provenienz. Auf der einen Seite Dollfuß, Bauernsohn aus einer entlegenen Ecke des niederösterreichischen Mostviertels, extrovertiert, leutselig und brutal, „wenn ihm auch die letzte Bedenkenlosigkeit des faschistischen Führers fehlte“, wie der Historiker Gerhard Jagschitz befand.

Schuschnigg hingegen war Spross einer alten, vom Kaiser geadelten Offiziersfamilie aus „Welschtirol“, erzogen im streng katholischen Internat Stella Matutina in Vorarlberg und in Innsbruck zum Juristen ausgebildet. Er war ein Mann der Regeln, mehr Advokat als Politiker, in seinen Auftritten oft linkisch und gehemmt. Als eine der ersten Maßnahmen hatte sein autoritärer Staat die Habsburgergesetze beseitigt, worauf sich der Kanzler – wie vor 1919 – wieder Kurt von Schuschnigg nannte. Er war Legitimist, Kaisertreuer, der sich sein Leben lang an seinen Eid gebunden fühlte.
Und er war ehrgeizig. Schon mit 30 saß Schuschnigg für die Christlichsozialen im Nationalrat, mit 35 wurde er Justizminister, mit 37 Bundeskanzler. Zuvor hatte er, zusätzlich zur Justiz, auch noch das Unterrichtsministerium übernommen.

So unterschiedlich Herkunft und Naturell der beiden Hauptexponenten des österreichischen „Imitationsfaschismus“ (so der Historiker Ernst Hanisch) auch waren, so deckungsgleich war ihr politisches Denken: Nie hatten sie sich mit der Republik abgefunden, nie Demokratie und Parlamentarismus akzeptiert. Hilflos waren sie der Weltwirtschaftskrise gegenübergestanden, für die bigotten Politiker eine Art Strafe Gottes. Das rote Wien erschien ihnen als eine Ausgeburt der Hölle. Nur durch eine Koalition mit den Deutschnationalen und den gewalttätigen Heimwehren hatte ihre christlichsoziale Partei nach den Nationalratswahlen 1930 (41,1 Prozent für die Sozialdemokraten, 35,7 für die Christlichsozialen) die Übernahme des Kanzleramts durch die Roten verhindert.

„Übel“ Aufklärung. Dollfuß und Schuschnigg verstanden die neue Zeit nicht. Zuflucht suchten sie folgerichtig im Antimodernismus. Nicht bloß hinter 1918 wollten sie zurückgehen, sondern hinter 1789. Der Ursprung allen Übels waren für sie die Französische Revolution und der „Ungeist der Aufklärung“. Nun gehe es darum, die „Fehler der letzten 150 Jahre in der Geistesgeschichte unseres Landes“ wiedergutzumachen, donnerte Dollfuß am 1. September 1933 bei seiner Rede vor dem Katholikentag am Wiener Trabrennplatz. Das Parlament war zu diesem ­Zeitpunkt schon seit einem halben Jahr aufgelöst.

Dollfuߒ Ideal war die berufsständisch gegliederte Gesellschaft des Mittelalters, „jener Zeit, in der der Arbeiter nicht gegen den Herrn aufstand und organisiert war“. Den Staat wollte der Mostviertler „wie einen großen Bauernhof führen“. Nicht viel anders sah der weitaus gebildetere Justizminister Kurt Schuschnigg die Welt. In seinem Vorwort zu einer Broschüre über „Vaterländische Erziehung“ empfahl er, „der österreichischen Jugend das deutsche Geschehen, das sich um Burg und Kapuzinergruft gruppiert, vor Augen zu führen“. Eile sei geboten: „Der Sozialismus hat unter der Parole der Freiheit der Zügellosigkeit Tür und Tor geöffnet. Solche Entartungen führen zu Vergiftungserscheinungen des jungen Volkes.“ Die „Geistesbildung“ in den Schulen überantwortete der neue Unterrichtsminister Schuschnigg katholischen Priestern. Der Besuch der Schulmessen war verpflichtend, Schüler, die nicht zur Beichte gingen, bekamen eine schlechtere „Sittennote“. Wer aus der Kirche austreten wollte, musste nach einem Erlass Schuschniggs aus dem August 1933 seinen gesunden Geisteszustand nachweisen. In Salzburg wurden Kirchenaustritte mit sechs Wochen Arrest bedroht. Es gab tatsächlich ein Dutzend Verurteilungen.
Der oft schrille Atheismus der Linken wurde dadurch noch weiter angestachelt. Die Sozialdemokraten verteidigten zwar die republikanische Verfassung von 1920 und den Parlamentarismus; die „bürgerliche Demokratie“ sahen sie – der Marx’schen Lehre folgend – als Fortschritt, sie war ihnen aber nur Durchgangsstation: „Demokratie, das ist nicht viel/ Sozialismus heißt das Ziel“, wurde bei den Maiaufmärschen skandiert.
Mit Demokratie hatten auch die rechten Regierungsparteien nichts am Hut, mit Sozialismus aber noch viel weniger. Schikanöse Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Zensur der sozialdemokratischen Presse und Veranstaltungsverbote provozierten schließlich den jämmerlich vorbereiteten Aufstand vom 12. Februar 1934 mit mehr als 300 Toten, 10.000 Verhafteten und neun zum Tode verurteilten Sozialdemokraten.

In den fünfziger Jahren tauchte ein Brief von Kardinal Theodor Innitzer an Schuschnigg aus dem Februar 1934 auf, in welchem der geistliche Würdenträger dem Justizminister die Begnadigung der neun vor der Hinrichtung stehenden Roten empfahl. Schuschnigg blieb hart und ließ die zum Teil schwer verletzten Männer hängen. Eine Lichtgestalt war der Kardinal dennoch nicht: Er verteidigte vehement alle diktatorischen Maßnahmen des Ständestaats, um an dessen Ende den „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland zu begrüßen.

Neue Gegner. Schuschnigg selbst rechtfertigte 1937 in seinem Buch „Dreimal Österreich“ das Agieren der Regierung im blutigen Februar ’34 mit krausen Behauptungen: „Die Sozialdemokraten hatten beabsichtigt, eine Terrorherrschaft aufzurichten, mit vorbereiteter Sprengung von Amtsgebäuden, Einrichtung von bereits ernannten Revolutionstribunalen, vorbereiteten schwarzen Listen.“ Durch das Niederschlagen der Linken habe der Ständestaat „das gesamte deutsche Volk und seine Kultur vor dem schwersten, vielleicht nicht wiedergutzumachenden Schaden bewahrt“.
Diese frei erfundene Botschaft richtete sich bereits an einen neuen, weit gefährlicheren und rücksichtsloseren Gegner, als es die Sozis jemals gewesen waren: Adolf Hitler.

Fast hätten Rote wie Schwarze Anfang der dreißiger Jahre in ihrem Hass aufeinander übersehen, dass in Deutschland Schreckliches heranwuchs. In Österreich hatte die NSDAP bei den Nationalratswahlen 1930 schließlich auch nur drei Prozent eingefahren, vernachlässigbar, wie man meinte. Nach einer Serie von Landtagswahlen im Frühjahr 1932 war jedoch klar, dass die Nazi-Bewegung auch in Österreich Fuß fasste: 14 Prozent hatte die NSDAP in Niederösterreich errungen, 17 in Wien und gar 21 in Salzburg. Die Analysen ergaben Überraschendes: In Wien etwa hatten die Nazis in den bürgerlichen Beamtenbezirken Wieden und Währing am besten abgeschnitten. Im Jänner 1933 übernahm Hitler in Deutschland die Macht; eineinhalb Jahre später, im Juli 1934, erschossen österreichische Nazi-Putschisten Bundeskanzler Dollfuß im Ecksalon des Kanzleramts. In seinen letzten Atemzügen habe Dollfuß – das Blut schoss ihm schon aus dem Mund – angeordnet, Schuschnigg solle die Regierung übernehmen, erklärten drei anwesende Polizeibeamte übereinstimmend.

Kurz zuvor hatte Dollfuß noch einen Plan entworfen: „Die braune Welle können wir nur auffangen, wenn wir das, was die Nazis in Deutschland versprechen und auch schon getan haben – was ohnehin ­gemildert wird bei uns –, selber machen.“ Man müsse die ­Nazis „überhitlern“, befand Heimwehr-Führer Odo Neustädter-Stürmer schlau. Schuschnigg hielt sich daran und gab sich deutscher als deutsch: Blut, Boden, Disziplin, Mutterschaft, Wehrbereitschaft, Volksgemeinschaft – das waren zentrale Bestandteile in Schuschniggs wie in Hitlers Ideologiegemenge. In Schuschniggs Ständestaat gab es mehr Bigotterie, dafür weniger Brutalität und nur den ortsüblichen Antisemitismus katholischer Provenienz.

Spiegelbilder. Die Kulturpolitik förderte Heimatliteratur, in der die dampfende Urkraft des dörflichen Lebens der dekadenten Verkommenheit der Stadt gegen­übergestellt wurde. In Karl Heinrich Waggerls gefeiertem Roman „Schweres Blut“ etwa wird abgehandelt, wie der Klassenkampf verderblicherweise in stille Täler getragen wird. „Brot“ hieß ein anderes, fetter Ackerkrume gewidmetes Œuvre des knorrigen Salzburgers. Maria Grengg („Der Weg zum grünen Herrgott“) und Johann Friedrich Perkonig („Bergseen“) waren andere geförderte Autoren des Ständestaats. Bezeichnenderweise reüssierten sie später auch unter den Nazis. Mit „Front Heil!“ begrüßte man sich in Schuschniggs „Vaterländischer Front“, der an die Stelle der Parteien getretenen Sammelorganisation. „Österreich macht alles genau dem deutschen Nationalsozialismus nach“, wunderte sich die NS-Größe Hermann Göring in einem Brief an einen Gesinnungsfreund in Wien: „Man braucht nur statt des Kruckenkreuzes das Hakenkreuz zu setzen und statt des Wortes ,vaterländisch‘ das Wort ,nationalsozialistisch‘, so wäre Österreich das lebendige Spiegelbild von Deutschland.“

Zu diesem Zeitpunkt waren die Institutionen des Ständestaats – Schulen wie Amtsstuben – längst unterwandert. 90 Prozent der Wiener Gestapobeamten nach 1938 waren zuvor als illegale Nazis bei der Wiener Polizei gewesen.
1936 verlor Schuschnigg auch noch seinen Schutzherren im Süden: Italiens Faschis­tenführer Benito Mussolini musste sich nach seinem miss­glückten Afrika-Abenteuer enger an Deutschland anlehnen – und gab im Gegenzug Österreich preis. Nun konnte Hitler umso kühnere Forderungen nach mehr Macht für die österreichischen Nazis erheben. Beim letzten Treffen, jenem vom 24. Februar 1938 am Obersalzberg, trat Hitler dem eingeschüchterten Österreicher in unverhohlener Brutalität gegenüber (siehe Kasten Seite 44). Schuschnigg musste das Innenministerium mit dem NS-Mann Edmund Glaise-Horstenau besetzen und hunderte inhaftierte Nazis frei lassen. Johlend marschierten sie mit ihren Anhängern durch die Straßen und übernahmen in Graz schon eine Woche vor dem deutschen Einmarsch die Macht.

Mutig setzte Schuschnigg nun für den 15. März eine Volksabstimmung über den Anschluss an. Im Bundesrat hielt er am 27. Februar 1938 die wahrscheinlich beste Rede seines Lebens: „Bis hierher und nicht weiter! Österreich ist lebensfähig und zum Leben gewillt. Freiwillig wird es nie abdizieren.“ Und dann der Ausbruch – ganz ungewohnt bei diesem sonst so gehemmten Menschen: „Rotweißrot bis in den Tod!“ Selbst George Gedye, der Schuschnigg äußerst kritisch gegenüberstehende Korrespondent der „New York Times“ in Wien, war beeindruckt: „Die Rede eines Mannes, dessen persönlicher Mut ihn über sich selbst wachsen und alle Selbstbeschränkungen vergessen lieߓ, kabelte er nach New York. Aber nicht einmal jetzt, in der Stunde größter Not, suchte Schuschnigg den Schulterschluss mit den Sozialdemokraten. Eine Zulassung der Partei komme nicht infrage: „Darüber kann es keine Verhandlungen geben.“ Noch am 3. März kam es zu einem Geheimtreffen zwischen Schuschnigg und dem hohen Metallgewerkschafter Friedrich Hillegeist. Hillegeist sicherte Schuschnigg die Unterstützung der Vertrauensleute in den 14 wichtigsten Betrieben Wiens zu, sollte dieser im Gegenzug wenigstens freie Betriebsratswahlen zulassen. Der Starrkopf winkte ab.

Noch am Tag des Einmarsches wurde Schuschnigg verhaftet und später ins Gestapo-Hauptquartier am Wiener Morzinplatz gebracht. Als er im Herbst 1938 nach München verlegt wurde, wog der 1,83 Meter große Schuschnigg knapp mehr als 40 Kilo. Im Münchener Gestapo-Haus bekam er hingegen eine Art Wohnung zugewiesen, in der er auch seine zweite Frau Vera, eine geborene Gräfin Czernin von Chudenitz, empfangen durfte (seine erste Frau war 1935 bei einem Autounfall ums Leben gekommen). Vera Schuschnigg wurde sogar während der Haft ihres Mannes schwanger und brachte 1940 eine Tochter zur Welt. Ein Jahr später wurde die kleine Familie in eine Promi-Enklave im KZ Sachsenhausen bei Berlin übersiedelt. Den Schuschniggs stand ein kleines Einfamilienhaus mit eigenem Gemüsegarten, Zeitungszustellung und Radio in einem abgetrennten Teil des Geländes zur Verfügung. Vera Schuschnigg durfte das Lager zum Erledigen von Einkäufen jederzeit verlassen. Sohn Kurt aus Schuschniggs ers­ter Ehe besuchte ein Internat und ­diente dann bei der Marine. Hatte er ­Urlaub, nächtigte er beim Vater im KZ.

Als sich die Rote Armee Berlin näherte, wurden die Sachsenhausener Promi-Häftlinge evakuiert und nach Südtirol verbracht. Dort erlebte der Ex-Kanzler die Befreiung. 1947 wanderte er mit seiner Familie in die USA aus und unterrichtete bis zu seiner Emeritierung an der Universität von Missouri.
Erst knapp vor seinem 70. Geburtstag kehrte Schuschnigg, von der Öffentlichkeit unbeachtet, in seine Heimat Tirol zurück. Als ihn der damalige Fernsehdirektor Helmut Zilk 1968 zu einem ORF-Interview bat, sagte der Altkanzler ohne Begründung ab. Zeitungsinterviews gab er ohnehin nicht.
Zu seinem Begräbnis reiste kein einziger Politiker aus Wien an. Nur Otto Habsburg erwies dem unbeugsamen Legitimisten, der das Heil im Gestern gesucht hatte, die letzte Ehre.

Von Herbert Lackner