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Chancengleichheit: Bildung wird in Österreich nach wie vor vererbt

Chancengleichheit. In Österreich wird Bildung nach wie vor vererbt

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Wenn Anfang dieser Woche drei Kinder geboren werden - Marie, Kevin und Bülent -, dann würde selbst der unseriöseste Wettanbieter keine brauchbaren Quoten stellen. Der Weg der Kinder ist zu deutlich vorgezeichnet.

Maries Eltern sind Akademiker in Wien. Also wird Marie studieren und mindestens doppelt so viel verdienen wie Kevin. Dessen Eltern sind über die Pflichtschule nicht hinausgekommen, damit ist Kevins Zukunft klar: Hauptschule, höchstens eine Lehre. Er wird sechs Jahre früher sterben als Maries Bruder (ebenfalls Akademiker). Besonders schlecht hat es Bülent in der Geburtslotterie erwischt: türkische Eltern, Hilfsarbeiter, die am Land leben. Bülent kann froh sein, wenn er den Pflichtschulabschluss schafft - und er wird drei Mal so oft arbeitslos sein wie Marie.

Marie, Kevin und Bülent sind erfunden, ihre Biografien aber Realität: Bereits im Moment der Geburt ist weitgehend festgelegt, wer einmal aufs Gymnasium gehen oder die Universität besuchen, ein höheres Einkommen, eine höhere Lebenserwartung haben wird - und wer nicht. Die Idee, dass alle, die sich anstrengen, den Aufstieg schaffen, ist Illusion. Bildung wird nach wie vor vererbt. Der Status der Eltern ist entscheidend für den Bildungsweg der Kinder - und die Schule verstärkt diesen Startvorteil, anstatt ihn auszugleichen.

Man kann die Vererbung von Bildung, wie SPÖ-Bildungsministerin Claudia Schmied, als "unerträglichen Zustand“ sehen. Oder, wie Raiffeisen-Banker Georg Kraft-Kinz, als ökonomisch dumme Vergeudung von Humanressourcen, weil "zu viele Talente nicht zum Zug kommen“.

Solche Erkenntnisse sind relativ neu. Lange Zeit wiegte man sich in der Illusion, dass hierzulande Bildungschancen einigermaßen gerecht verteilt wären. Erst seit der ersten Pisa-Studie im Jahr 2000 sickerte die Erkenntnis, dass der Klub der Gebildeten sich selbst reproduziert - und die Türen für Nicht-Mitglieder verschlossen bleiben. Seither enthält jede Studie, vom Bildungsbericht der OECD bis zum Lesetest, denselben unbarmherzigen Befund: Das Bildungssystem in Österreich ist von Chancengerechtigkeit meilenweit entfernt.

Die Zahlen sprechen für sich, die Schieflage zieht sich vom Kindergarten bis zur Hochschule: Eltern mit akademischem Abschluss lassen ihre Kinder zu 84 Prozent vorschulisch bilden, Eltern mit Pflichtschulabschluss lediglich zu 33 Prozent. In der Volksschule sind dann die Unterschiede zwischen Schülern aus "gutem“ und benachteiligtem Elternhaus, etwa beim Lesetest, bereits riesig - und nur in wenigen Staaten, etwa den USA, größer als hierzulande. Zudem ist die Notengebung eine Lotterie, in der Kinder gebildeter Eltern, die gern bei den Lehrern vorstellig werden, sicher gewinnen. Die Konsequenz: Mehr als die Hälfte der Akademikerkinder werden wieder Akademiker - aber nur fünf Prozent jener Kinder, deren Eltern maximal Pflichtschulabschluss haben (siehe Grafiken). Und die österreichische Halbtagsschule mit ihrer frühen Selektion zwischen vermeintlich "begabten“ und "weniger begabten“ Kindern ist der beste Garant dafür, dass die Verhältnisse zementiert bleiben. Das ist insofern besonders dramatisch, als sich in kaum einem anderen westeuropäischen Staat formale Bildung derart finanziell lohnt wie in Österreich: statistisch betrachtet führt jedes zusätzliche Jahr in Ausbildung zu sieben Prozent mehr Nettostundenlohn.

Seit dem schönen Versprechen aus der Ära Kreisky, dass Bildung für alle da sein soll, hat sich lediglich der Prototyp des klassischen Bildungsverlierers gewandelt: In den 1970er-Jahren waren es die Mädchen vom Land, heute sind es junge Türken in der Stadt. Ansonsten erwies sich das Erbgut Bildung als erstaunlich konstant. Sieben Etappen des Versagens.

1. Der Begabungsschwindel

Die Rede von der Ausschöpfung aller Begabungsreserven ist eine Phrase geworden. Sie geht davon aus, dass es feststehende Begabungen gibt, Goldadern, die es bloß zu entdecken gelte. Das entspricht auch dem schlichten Hausverstand: Jeder kennt gescheite und dumme Menschen und Jahrhunderttalente. Wer im Gymnasium oder später an der Universität scheitert, ist wohl selbst dran schuld. Wer es schafft, ist entsprechend begabt.

Die Irritation besteht darin, dass die Statistik nicht dazu passt. Wenn die derzeitige Verteilung der Bevölkerungsschichten auf Pflichtschulen, Gymnasien und Universitäten tatsächlich ein Ausfluss der biologischen Intelligenz und der Begabung wäre, müsste das humanistische Menschenbild revidiert werden.

Vor einem halben Jahrhundert warf der große Liberale Ralf Dahrendorf in seiner Inaugurationsrede die Frage auf, warum es gerade in Deutschland und Österreich so wenige Arbeiterkinder an die Universität schaffen, obwohl es keine formellen Barrieren gibt? Eine "affektive Distanz“ auf beiden Seiten machte Dahrendorf dafür verantwortlich. Kinder armer Eltern würden vom Schulsystem und dessen Lehrern aus der Mittelschicht mit dem Vorurteil, sie seien eher praktisch begabt, von höherer Bildung ferngehalten. Andererseits herrsche in der Unterschicht selbst ein Ressentiment gegenüber Bildungsbürgern und Intellektuellen. Dort dominiere die Angst, die eigenen Kinder würden sich durch höhere Bildung von ihrem Milieu entfernen. Arbeiterkinder, die sich doch durchbeißen, fühlten sich dann weder hier noch dort zu Hause, würden einsame Aufsteiger und von niemandem ermutigt.

Der französische Soziologe Pierre Bourdieu, selbst das Kind eines kleinen Postbeamten und mit einem scharfen Auge für die feinen Unterschiede ausgestattet, untersuchte von den 1960er-Jahren an, wie sich neben den finanziellen Verhältnissen die kulturellen und sozialen Bedingungen auswirken: Ob es daheim Bücher und Bilder oder gar ein Klavier gibt, ob Kunst oder Kitsch vorherrschen, ob im Dialekt oder in der Hochsprache geredet wird, ob klassische Musik oder Schlager gehört werden, welche Freunde die Eltern haben und welche Netzwerke daraus entstehen. Überraschend war, dass sich kulturelle Nachteile für die Zukunft eines Kindes negativer auswirkten als etwa wenig Geld. Auch Kinder aus neureichen Milieus konnten den bildungsbürgerlichen Hintergrund nicht aufholen.

"Die Chancen eines Kindes auf schulischen Erfolg sind viel direkter eine Funktion seiner sozialen Klasse als seiner Talente“, befand Bourdieu im Jahr 2001.

2. Das Elitenprivileg

Bildung war über Jahrhunderte hinweg ein Elitenprivileg und die Schule ein "Politikum“, wie Kaiserin Maria Theresia in ihrem Hofdekret zur Allgemeinen Schulpflicht für alle sechsjährigen Buben und Mädchen im Jahr 1770 feststellte. Die Mehrheit der Kinder besuchte damals die "Trivialschule“, in der sie Schreiben, Lesen und Rechnen lernte, ein dem Bauernstande "angemessener Unterricht“. Von daher stammen auch die langen Ferien im Sommer, um am Feld zu helfen. Vorgeschrieben wurden die Schulbücher, aber auch die Art des Unterrichtens: frontal und für alle gemeinsam.

Ein Jahrhundert später gab es eine Bildungsexplosion seitens des liberalen Bürgertums. Dessen Söhne wurden auf die Universitäten geschickt - das Bildungsbürgertum, die führende intellektuelle Schicht. In dieser Zeit entstanden auch die ersten Arbeiter-Bildungsvereine, die Keimzelle der Arbeiterbewegung.

Mit dem Zusammenbruch der Habsburger-Monarchie wuchs unter Führung der erstarkten Sozialdemokratie in Wien ein ganzes Reich an Bildungseinrichtungen für die Arbeiterschaft: Volkshochschulen, Leihbüchereien, Musik- und Theatervereine. Im Roten Wien wurden Schulreformen verwirklicht, die heute noch modern anmuten: Einheitsschule der Zehn- bis 14-Jährigen, innere statt äußere Differenzierung, Verbot der körperlichen Bestrafung. "Bildung macht frei“ und "Wissen ist Macht“ - das war das zentrale Politikfeld der Sozialdemokratie. Doch nach Bürgerkrieg, Austrofaschismus und Nationalsozialismus wurde das ideologisch aufgeladene Thema Schulpolitik zwischen SPÖ und ÖVP außer Streit gestellt und in einem institutionalisierten Kompromiss für Jahrzehnte praktisch lahmgelegt.

Erst in der Alleinregierung unter SPÖ-Kanzler Bruno Kreisky wurden neue Versuche gestartet, Kinder aus bildungsfernen Schichten zu höherer Bildung zu animieren. Das lag auch im Interesse von Industrie und Wirtschaft. Die Aufnahmeprüfung an den Gymnasien wurde abgeschafft, Schülerfreifahrt und kostenlose Schulbücher eingeführt. 20 Jahre später stellte sich heraus, dass davon vor allem Mädchen aus der Mittelschicht, Arbeiter- und Bauernkinder aber viel weniger profitiert hatten. Das liegt laut dem Bildungssoziologen Ingolf Erler auch daran, dass in der Lehrerausbildung das soziale Thema völlig ausgeblendet wird: "Lehrer kennen ihre Milieus, also vor allem die Mittelschicht. Auf die Lebenswelten vieler Kinder geht das Bildungssystem nicht ein.“

3. Bildung ohne Rendite

Hilde Hawlicek, Unterrichtsministerin unter Kanzler Franz Vranitzky, kann sich noch gut an die 1960er-Jahre erinnern: "An Gymnasien gab es nur ein Drittel Mädchen und an den Unis ein Viertel.“ Im Grunde sind die Mädchen die großen Gewinnerinnen der Bildungspolitik. Seit den 1970er-Jahren hat sich die Zahl der Maturanten in Österreich verdreifacht - ein Anstieg, der vor allem auf die Frauen zurückzuführen ist: Seitz 1970 sank die Anzahl der Frauen, die lediglich über Pflichtschulabschluss verfügen, von 73 auf 41 Prozent. Binnen einer Generation haben sich die Geschlechterverhältnisse beim Bildungsgrad umgekehrt: Mädchen haben Buben mittlerweile bei der Schulbildung überholt und stellen auch die Mehrheit der Hochschulabsolventen. Der Überholeffekt bei den Einkommen hingegen lässt weiter auf sich warten.

4. Du bleiben Hilfsarbeiter

Die ersten Deutschtests für Fünfjährige in Wien vor wenigen Jahren waren eine große Überraschung: Ein sattes Viertel aller Kinder, dem mangelnde Deutschkenntnisse attestiert wurde, kam aus eingesessenen Wiener Familien. Damit war unfreiwillig der Beleg erbracht, dass der soziale Hintergrund für den Spracherwerb fast ebenso wichtig ist wie das Herkunftsland.

Dennoch sind Migranten die Bildungsverlierer in Österreich. Sie werden häufiger in die Sackgasse Sonderschule gesteckt und haben deutlich schlechtere Bildungschancen: Von allen 15- bis 34-Jährigen, deren Eltern lediglich Pflichtschulabschluss haben, schaffen 14 Prozent der Nicht-Migranten ebenfalls nur die Pflichtschule - bei der Gruppe mit Migrationshintergrund schnellt dieser Wert hingegen auf 53 Prozent. Wobei Zuwanderer nicht gleich Zuwanderer ist: Migranten aus Osteuropa weisen einen deutlich höheren Bildungsgrad auf als Kinder mit türkischen Wurzeln. Das hat auch historische Gründe: "Die Nachfahren der so genannten Gastarbeitergeneration wurden blockiert, etwa bei der Lehrstellensuche. Das wirkt nach. Bis heute ist der Anteil der Risikoschüler aus Zuwandererfamilien in Österreich im internationalen Vergleich extrem hoch“, analysiert Barbara Herzog-Punzenberger, die über Migration und Bildung forscht. Die Chancen, das Milieu zu verlassen, sind gering: Daten für die Tests über die Bildungsstandards in der vierten Volksschulklasse zeigen, dass Schulnoten zwar über den Eintritt ins Gymnasium entscheiden - aber wenig mit Leistung zu tun haben: "Wenn die Eltern Hilfsarbeiter sind, und das ist bei Migranten öfter der Fall, wird das Kind bei gleicher Leistung tendenziell schlechter benotet als andere in der Klasse“, sagt Herzog-Punzenberger. Und fragt sich: "Wir haben 50.000 Schüler, die Türkisch sprechen, und 50.000, die Bosnisch, Kroatisch oder Serbisch sprechen. Warum gibt es dennoch gibt es viele Schulen, die Französisch oder Russisch als lebende Fremdsprache anbieten - aber keine, in der Türkisch gelehrt wird?“

5. Was wollen Lehrer eigentlich?

Das Theaterstück "Klassenzimmer“ vom preisgekrönten "Theater am Bahnhof“ in Graz ist ein Renner, bis in den Herbst hinein ausgebucht. Es handelt vom Lehreralltag in einem Grazer Gymnasium, das von einer ambitionierten Direktorin geführt wird, die mit Vorzeigeprojekten glänzen will. Es wirft die Frage auf, was einen guten Lehrer ausmacht und ob es "die Arschlöcher immer am leichtesten haben“. Es ist ein wahres, intelligentes, lustiges und trauriges Stück, aber das Problem von Herkunft und Chance wird nicht angeschnitten. "Vielleicht, weil Ausländer- und Strukturdebatten alles andere verstellen“, sagt Autor Lorenz Kabas.

Wo sind eigentlich jene Lehrer geblieben, die sich selbst aus einfachsten Verhältnissen hochgearbeitet, die von den kreiskyschen Reformen profitiert und ihresgleichen helfen wollten?

Gerhard Buchgraber, 56 Jahre alt, unterrichtet seit 20 Jahren an einer Gesamtschule am Stadtrand von Graz Geografie und Informatik.

Als Buchgraber noch studierte, gab es eine sogenannte Lehrerschwemme. Wer damals zu einer Partei ging oder jemand Wichtigen kannte, bekam schneller einen Job. Die anderen mussten warten. Buchgraber half damals mit, eine beim Landesschulrat einsehbare Warteliste zu erkämpfen. Bei einer der Lehrerorganisationen von ÖVP und SPÖ ist er bis heute nicht.

Warum ist er Lehrer geworden? Er wollte es besser machen als die dünkelhaften und autoritären Lehrer seiner Jugend, sagt Buchgraber. Ein paar seiner Träume musste er aufgeben. Er fand sich damit ab, dass die Schule nicht alles wieder gutmacht, dass unglückliche Familiengeschichten, ein brutales Zuhause, bildungsfeindliche oder desinteressierte Eltern für ein lernendes Kind immer von Nachteil sein werden. Er hat gelernt, dass die neuen didaktischen Formen - Freiarbeit, Projekte, Eigenverantwortung - Kindern aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht, wo die Eltern mithelfen und nachfragen, am meisten nützen. Die anderen blieben so jedoch leicht auf der Strecke. Sie würden eine stärkere Anleitung brauchen und eher vom traditionellen Frontalunterricht profitieren. Nicht die Individualisierung des Lernens, sondern die Einrichtung von Coachs könnte solchen Kindern helfen. "Viele Schulideen, die neuerdings in aller Munde und anerkannt sind, sind Reformen von Bildungsbürgern für Bildungsbürger“, sagt Buchgraber.

Das derzeitige Schulsystem habe keine Strukturen, die das Manko der Familie ausgleichen, auch nicht im Dienstrecht.

Buchgraber ist Realist geworden und doch ein glühender Befürworter der Gesamtschule, jedenfalls im städtischen Bereich. "Kinder entwickeln sich unterschiedlich, und die Entscheidung mit zehn Jahren ist zu früh. Ich kenne Schüler, da hätte ich traurig darauf gewettet, dass sie es nicht schaffen. Die sind dann später durchgestartet.“

In der Gesamtschule lernten nicht alle das Gleiche, korrigiert Buchgraber ein weitverbreitetes Vorurteil. Aber wer einmal miteinander im Klassenzimmer gesessen sei, schlage sich in der Welt draußen nicht so leicht die Köpfe ein. Er staune auch immer wieder über den Zusammenhalt der Cliquen und was Jugendliche so alles voneinander lernten.

Eva   Linsinger

Eva Linsinger

Innenpolitik-Ressortleitung, stellvertretende Chefredakteurin