Das Kettensägen-Moussaka

Euro-Krise. In Griechenland blüht die Rezession, die Armut greift um sich, die Schulden steigen ­weiter.

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Wenn die Arbeitslosigkeit den Rekordwert von 19,2 Prozent erreicht hat; wenn staatliche Spitäler Operationssäle sperren, weil sie kein neues Personal einstellen dürfen; wenn die Selbstmordrate sprunghaft ansteigt; wenn das Bildungsministerium Lebensmittelgutscheine an Schüler verteilen muss, weil immer mehr Kinder und Jugend­liche an Mangelernährung leiden; und wenn gleichzeitig die nationale Wirtschaft im internationalen Ranking der Wettbewerbsfähigkeit um sieben Plätze auf den 90. Rang abgestürzt ist: Dann ist eigentlich alles so weit okay.

So funktioniert die Griechenland-Hilfe. Die griechische Bevölkerung hat dabei einen bedeutenden Part zu spielen, und sie erfüllt ihn ohne Tadel: Sie muss der Armut anheimfallen, und zwar möglichst anschaulich. Das übrige Europa verfolgt mit wohligem Grusel die Meldungen von Not und Elend und von Eltern, die ihre Kinder aussetzen, weil sie sich außerstande sehen, die Kleinen ordentlich zu versorgen.

Europa hat versprochen, es den Griechen zu zeigen, und hat damit nicht zu viel versprochen. Im Sinne der europäischen Solidarität ist das Aushungern der griechischen Bevölkerung durchaus sinnvoll, denn der europäische Steuerzahler soll davon überzeugt werden, ein Volk zu unterstützen, das pleitegegangen ist, weil es – so die gängige Diktion – über seine Verhältnisse gelebt hat. Dass sogar die Kältewelle vergangene Woche Athen erreicht hat, ist als Fall von höherer Gerechtigkeit zu begrüßen.

Im Übrigen verlassen sich die Retter des bankrotten Eurostaats auf Maßnahmen irdischer Weisheit – seltsamerweise allerdings vor allem auf solche, die überall sonst als wirtschaftspolitischer Voodoo verworfen würden, nämlich: radikales Sparen mitten in der Rezession; Erhöhung bestehender Massensteuern; Einführen neuer Belastungen; Lohnkürzungen.
Eine wirtschaftspolitische Richtung sucht man in diesem Programm vergeblich. Es ist nicht schlüssig neoliberal – dagegen sprechen die maßlosen Steuererhöhungen; es ist nicht sozialdemokratisch – die Steuern treffen die breite Masse; und es ist ganz bestimmt nicht keynesianisch – durch Stellen- und Gehaltsabbau wird der Wirtschaft das Geld ent­zogen. Das Austeritätsprogramm vereint vielmehr das Schlimmste aus allen Welten – nennen wir es doch Sado-Ökonomie.

Seltsamerweise regt sich nirgendwo außerhalb Griechenlands Widerstand, ganz egal, welche drakonischen Maßnahmen verordnet werden. Konservative Regierungen wie die schwarz-gelbe in Berlin haben in Athen plötzlich kein Problem mit Solidaritätsabgaben, Erhöhungen der Einkommensteuer oder einer neuen Immobiliensteuer. Sozialdemokraten wie Österreichs Kanzler Werner Faymann schreien nicht auf, wenn die Mehrwertsteuersätze schwungvoll angehoben und die Budgets für Soziales und Gesundheit mit der Kettensäge reformiert werden.
Wenn es Griechenland trifft, ist alles erlaubt, zumal die europäischen Staats- und Regierungschefs das Sparprogramm nicht selbst präsentieren müssen. Es ist nicht einmal klar, ob sie es im Detail absegnen. Ein gesichtsloses Triumvirat aus Abgesandten des Internationalen Währungsfonds (IWF), der EU-Kommission und der Europäischen Zentralbank (EZB) nutzt Stippvisiten in Athen, um darzulegen, was getan werden muss. Die Griechen demonstrieren deshalb notgedrungen mit Transparenten, auf denen „Troika raus“ steht, und ein solcher Slogan ist ziemlich abstrakt und geht letztlich ins Leere.

Unterstützt werden sie nun zumindest vom deutschen Wirtschaftsweisen Peter Bofinger. „Durch die Sparmaßnahmen wurde die Wirtschaft abgewürgt, das ließ die Defizite steigen, woraufhin die Troika noch schärfere Sparanstrengungen forderte“, kritisiert der Ökonom.
Würden europäische Regierungen die Sinnhaftigkeit dessen, was in Griechenland passiert, auch dann behaupten, wenn ihr eigenes Land betroffen wäre?

Zurzeit stöhnen viele EU-Mitgliedsländer – darunter Österreich – angesichts des selbst auferlegten Zwangs, eine „Schuldenbremse“ gesetzlich zu verankern und vor allem einzuhalten. Die Spar- und Belastungspakete, die zu diesem Zweck diskutiert werden, würden in Griechenland Jubelstürme auslösen, so harmlos sind sie im Vergleich. Gustav Horn vom deutschen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung bezeichnete gegenüber dem Sender ARD das heiß umstrittene Reformvorhaben „Agenda 2010“ der früheren rot-grünen Regierung unter Kanzler Gerhard Schröder als „Micky-Maus-Programm gegen das, was in Griechenland gerade passiert“.

Auch in Österreich wäre ein Sparpaket griechischen Ausmaßes das Ende der Republik, wie wir sie kennen.

Im Gesundheitsbereich hat Griechenland binnen eines Jahres bereits 3,6 Milliarden Euro eingespart. Umgelegt auf Österreich – dessen Bruttoinlandsprodukt 1,6-mal so hoch ist wie das griechische –, entspräche das einer Reduktion von mehr als 5,7 Milliarden Euro. Das gesamte Sparvolumen, um das derzeit in Österreich gestritten wird, soll in den kommenden fünf Jahren etwa zehn Milliarden Euro betragen.
Die Ausgaben der Sozialversicherung in Griechenland werden jedes Jahr um mehr als eine Milliarde gekürzt, obwohl die Ansprüche aufgrund sozialer Notlagen laufend steigen.

Auch die Bildung wird nicht verschont. 1976 Schulen werden entweder geschlossen oder zusammengelegt, 2000 Stellen in diesem Bereich eingespart.

Die Liste der Belastungen ist lang, und dennoch lautet der ewig gleiche Satz am Ende jeder Aufzählung so: Griechenland hat seine Sparziele verfehlt. Das wird auch weiterhin so bleiben, und der Grund dafür ist ganz einfach: Als die Europäische Union den Griechen im Juni des vergangenen Jahres ein weiteres Sparpaket abverlangte, sollte dieses einen möglichst hohen Betrag versprechen, um weitere Hilfsgelder zu rechtfertigen. Also wurden neben 28 Milliarden Euro Einsparungen auch 50 Milliarden Euro an ­Privatisierungserlösen in den kommenden Jahren veranschlagt.
Wieder umgerechnet auf Österreich, wäre das ein Privatisierungsvolumen von 63 Milliarden Euro. Das würde konkret bedeuten, die Republik müsste sich von Besitz trennen, der den derzeitigen Marktwert aller Unternehmen, die den ATX-Index bilden, bei Weitem übersteigt.

Weil nun die hellenische Republik wenig überraschend kaum hochprofitable Konzerne in ihrem Portefeuille hält, um die sich die Investoren reißen würden, bleiben die Privatisierungserlöse auf bescheidenem Niveau. Das aber musste jeder wissen, der die griechischen Staatsbetriebe kennt. Der frühere Wirtschaftsminister Stefanos Manos etwa urteilte kurz nach Veröffentlichung des Plansolls in der ARD: „Das ist lächerlich. Sie wollen die Eisenbahngesellschaft verkaufen. Aber wer mit klarem Verstand soll das kaufen? Man müsste komplett verrückt sein, um das zu tun!“
Eine gewisse Verrücktheit begleitet den gesamten vermeintlichen Rettungsvorgang Griechenlands von Anfang an. Die bisherigen drei Sparpakete bescherten dem Land eine Rezession, die jedes Jahr schlimmer wurde – 2009 schrumpfte die Wirtschaft um 3,2 Prozent, im Jahr darauf waren es bereits 3,5 Prozent und im vergangenen Jahr 5,5 Prozent. Logische Folge: Die Schulden steigen weiter.

Noch ist die Troika nicht am Ende ihrer Weisheit angelangt. Als Nächstes soll der Mindestlohn in der Privatwirtschaft fallen, der in Griechenland bei 750 Euro liegt. Davon verspricht man sich eine Dynamisierung des Arbeitsmarkts. Allerdings sprechen sich selbst die Unternehmerverbände gegen eine solche Maßnahme aus, weil sie wissen, dass dadurch der private Konsum weiter zurückgehen würde.

Poul Thomsen, Delegationsleiter des IWF, forderte Athen vergangene Woche zu einer Beschleunigung der Strukturreformen auf. Er gab zu, dass bisher zu viel Gewicht auf neue Steuern gelegt worden sei. Das nächste Sparpaket sollte demnach besser die Löhne senken. Beides ist freilich längst geschehen. Munter wird an allen Schrauben weitergedreht.
Griechenland ist ein Feldversuch für Schizo-Wirtschaftsexperten geworden, wo ausgaben- und einnahmenseitig alle Ideen gleichzeitig ausprobiert werden dürfen. Sollten Armut und Defizit dennoch weiterhin steigen, steht einer weiteren Dosis an gesamteuropäischem Mitleid inklusive noch exaltierterer Sparvorschläge nichts im Wege. Und falls Griechenland am Ende kollabiert, gibt es noch eine Alternative: Vielleicht klappt dasselbe Experiment ja in Portugal.