35 Jahre nach dem Überfall auf die OPEC in Wien

Zeitgeschichte: 35 Jahre nach dem Überfall auf die OPEC in Wien

Zeitgeschichte. Neue Dokumente zeigen, der Anschlag hatte auch groteske Züge

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Der Polizeibeamte Helmut C. erinnerte sich danach recht gut an die jungen Leute, die da mit Adidas-Taschen das OPEC-Gebäude am Wiener Ring, gegenüber der Universität, betraten: „Die Herrschaften haben freundlich gegrüßt. Ich glaube, sie haben ,Grüß Gott‘ gesagt oder ,Guten Tag‘.“ Dann wandte sich Inspektor C. wieder den Falschparkern zu.

Dass das Haus, in dem die Erdölminister der größten Förderländer an jenem 21. Dezember 1975 tagten, nur von einem Verkehrspolizisten bewacht wurde, gehört zu den Grotesken, die sich um den spektakulärsten Anschlag in Österreichs jüngerer Geschichte ranken. Diese und andere Merkwürdigkeiten hat nun der Historiker Thomas Riegler zutage gefördert. Riegler bearbeitete bisher unveröffentlichtes Material, wie etwa das Tagebuch des früheren Handelsministers Josef Staribacher und ein nicht publiziertes Interview mit einem Mitglied des Terrorkommandos. Und er befragte die noch lebenden Einsatzleiter der Polizei. Ende des Jahres sollen seine Erkenntnisse in Buchform erscheinen („Im Fadenkreuz: Österreich und der Nahostterrorismus 1973–1985“1).

Das Fehlen ernsthafter Sicherheitsvorkehrungen war umso absurder, als zwei Jahre zuvor ein Zug mit jüdischen Auswanderern aus der Sowjetunion in Marchegg von einem Palästinenser-Kommando gekapert worden war. Dennoch tagten die OPEC-Minister praktisch unbewacht. Auf dem Konferenz-Stockwerk versahen zwei Kriminalbeamte Dienst: der 60-jährige Anton Tichler und der 59-jährige Josef Janda. Beide waren angewiesen, im Gefahrenfall möglichst nicht von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Funkgeräte hatten sie nicht. Der Sicherheitsbeauftragte der OPEC war überhaupt unbewaffnet. Mangels Torkontrollen konnte sich einer der Terroristen bereits Tage vor dem Anschlag mit den Räumlichkeiten vertraut machen.

So lasch die Security, so gefährlich waren die Hintermänner des Kommandos, das an jenem Sonntag, 11.45 Uhr, mit in Sporttaschen gepackten Maschinenpistolen das Haus am Ring betrat. Auftraggeber war Wadi Haddad, geboren 1927 in Palästina – ein Arzt, dem Arafats PLO zu zahm war. Haddad spaltete sich mit seiner Gruppe von der PLO ab. Bei fast allen Flugzeugentführungen der frühen siebziger Jahre zog er die Fäden. Haddad unterhielt Kontakte zu Gesinnungsfreunden in Europa. Den Revolutionären Zellen (RZ) in Deutschland überwies er jeden Monat 3000 Dollar. Zwei der Attentäter von Wien kamen von den RZ: der 28-jährige Hans-Joachim Klein und die 24-jährige Gabriele Kröcher-­Tiedemann. Drei weitere Kommandomitglieder waren Palästinenser.

Die schillerndste Figur jedoch war ihr Anführer, Ilich Ramírez Sánchez, Kampfname Carlos, geboren 1949 als Sohn eines venezolanischen Anwalts und glühenden Kommunisten. Carlos studierte folgerichtig in Moskau, wurde aber wegen „antisowjetischer Propaganda“ ausgewiesen. Radikalinskis waren den Kreml-Herren seit jeher ein Gräuel.

Seit Anfang der siebziger Jahre verübte Carlos im Auftrag extremistischer Palästinenser in Paris und London Anschläge auf jüdische Geschäftsleute und stieg damit in die Promi-Liga des Terrors auf. „Carlos, der Schakal“ nannten ihn die Medien, seit man in einer seiner Wohnungen Frederick Forsyths gleichnamigen ­Roman über einen Profikiller gefunden hatte. Carlos genoss es, zum Mythos stilisiert zu werden – und er stilisierte sich selbst. Vor dem OPEC-Anschlag kaufte er sich in einem Wiener Geschäft eine Baskenmütze, um wie Che Guevara auszusehen. Den Erdölministern stellte er sich mit den Worten vor: „Ich bin der berühmte Carlos!“ Noch nach 13 Jahren in einem französischen Gefängnis versucht er, den Glamour zu wahren. Vergangene Woche protestierte er aus dem Knast gegen den am Mittwoch beim Filmfestival in Cannes gezeigten „Carlos“-Film: Darin würden seine Leute als „Hysteriker“ gezeigt, obwohl es sich doch um Vollprofis gehandelt habe.

Mordauftrag.
Carlos’ sechsköpfiges Kommando – auch drei „echte“ Palästinenser waren dabei – hatte Befehl von ganz oben. Kaum jemand zweifelt heute daran, dass Wadi Haddad nur der Zwischenträger war – bestellt und bezahlt wurde der Anschlag von Libyens Staatschef Muammar al-Gaddafi. Der wollte die konservativen, mit den USA kooperierenden Erdölstaaten Iran und Saudi-Arabien bestrafen. Sein Auftrag: Entführung der OPEC-Minister und Erpressen von Lösegeld. Die Ölminister des Iran und Saudi-Arabiens, Amouzegar und Yamani, seien zu töten.

Als die Terroristen das Gebäude betraten, warteten im Foyer Journalisten schon auf die Pressekonferenz. Ob die Sitzung noch im Gang sei, fragte Carlos auf Französisch. „Noch eine Weile“, antwortete ein Reporter. Die Truppe stürmte ins obere Stockwerk. Der knapp vor der Pensionierung stehende Kriminalpolizist ­Tichler erkannte den Ernst der Lage und wollte in den Lift flüchten. Kröcher-Tiedemann alias „Nada“ war schneller und tötete ihn mit einem Genickschuss. Carlos selbst erschoss just einen flüchtenden libyschen Delegierten. Wer das dritte Opfer auf dem Gewissen hat, einen irakischen Sicherheitsmann, wurde nie geklärt.

14 Minuten später traf das Einsatzkommando (EKO) der Wiener Polizei ein – und setzte die Sicherheitsgroteske fort, wie die Recherchen von Zeithistoriker Thomas Riegler ergaben. Anders als die heutige Cobra waren die EKO-Männer nicht für derartige Einsätze geschult. Nur zwei der acht Beamten trugen schusssichere Westen, 15 Kilo schwere Uralt-Modelle, wie der damalige Einsatzleiter Ernst Wallaschek dem Autor verriet. Das EKO bestand aus Beamten, die jahrelang Straßendienst geleistet hatten und so vermeintlich über die größte Erfahrung verfügten.

Völlig unkoordiniert stürmte der kleine Trupp älterer Herren ins Gebäude – an der Spitze der 52-jährige Großvater Kurt Leopolder, zu 40 Prozent kriegsversehrt. „Die müssen verrückt gewesen sein“, meinte der Terrorist Hans-Joachim Klein noch viele Jahre später bei seiner Einvernahme. Wild ballerte Leopolder mit seiner „Uzi“ los, ein Querschläger traf Klein in den Bauch. Sekunden später brach der Polizist, in Gesäß, Wirbelsäule und Oberschenkel getroffen, selbst zusammen. Leopolder starb acht Jahre später an den Folgen dieser Verletzungen.

Dann zog sich das EKO zurück. Das Kommando verlegte Drähte und Sprengstoff im Sitzungssaal. Mehr als 60 Geiseln befanden sich jetzt in seiner Gewalt, darunter elf Ölminister.

Kreisky fährt Ski.
Inzwischen waren die Stapo-Spitzen im OPEC-Haus eingetroffen. Mit der Zentrale im Innenministerium konnten sie sich nur über das Telefon in der Portiersloge verständigen. Als Erstes verlangte Carlos Scheren und Stricke, um die Geiseln zu fesseln. Da müsse er Geduld haben, entgegnete die Einsatzleitung bierernst: Es sei Sonntag, alle Geschäfte in Wien hätten geschlossen.

Im Kanzleramt hatten sich vier Stunden nach Beginn des Anschlags fast alle Regierungsmitglieder eingefunden. Nur einer fehlte: Bruno Kreisky war schon auf Weihnachtsurlaub in Lech und musste erst nach Wien gebracht werden.

Wie die folgenden dramatischen Stunden abliefen, illustrieren ein internes Protokoll und das Tagebuch von Handelsminister Staribacher. Gegen 16 Uhr übermittelte Carlos sein Ultimatum: Um spätestens 17.30 Uhr sei eine Propagandabotschaft in französischer Sprache im ­Radio zu verlesen, andernfalls werde die erste Geisel, der iranische Ölminister, ermordet. Um sieben Uhr Früh müsse dann ein Bus vorfahren, am Flug­hafen sei eine betankte DC9 vorzubereiten.

Finanzminister Hannes Androsch plädierte für Zeitgewinn:
Man solle die Terroristen vertrösten, bis der für 18 Uhr erwartete Kreisky eingetroffen sei. „Wir sollten die harte Tour einlegen“, meinte Landwirtschaftsminister Oskar Weihs zu seinem Sitznachbarn Staribacher. Den Umschwung brachte laut Protokoll des Kanzleramts eine Wortmeldung von Wissenschaftsministerin Hertha Firnberg: „Ich bin dafür, dass die Proklamation im ORF verlesen wird.“

Unmittelbar danach traf ein völlig durchfrorener Kreisky ein. Man hatte ihn mit einem Helikopter nach Salzburg und von dort in einer Cessna nach Wien geflogen. Sprechkontakt hatte man nicht zu ihm herstellen können.
Kreisky, das wurde schnell klar, wollte auf alle Forderungen des Kommandos eingehen und hatte auch schon eine pfiffige Begründung für das Nachgeben ausgeheckt: Die OPEC sei exterritoriales Gelände, auf dem nur die Ölminister selbst das Sagen haben. Auf deren Wunsch müsse Österreich sie sogar ausfliegen. Man benötige aber entsprechende schriftliche Ersuchen der Geiseln, so der schlaue Kanzler.

Dass ihm das eine gute Presse garantiere, glaubte Kreisky realistischerweise nicht: „Am ekelhaftesten sind sicher wieder die Journalisten. Zuerst werden sie uns die Schuld geben“, vermerkte das interne Protokoll. Die sich abzeichnende Lösung drohte noch an für Österreich nicht untypischen Details zu scheitern. So beknirschte sich der ORF, er habe keinen Französisch sprechenden Mitarbeiter parat. Der im Foyer lauernde profil-Reporter Thomas Fuhrmann, der von der Sache Wind bekommen hatte, bot an, den Text zu verlesen. Kreisky lehnte ab: „Ziehts da niemanden hinein, das soll der Fritz Gehart machen.“ So kam der junge ­Diplomat, Mitarbeiter des Kanzlerkabinetts, zu einem großen Auftritt.

Kaum war dieses Problem gelöst, machten die AUA-Piloten Probleme: Sie weigerten sich zu fliegen, sollte das Kommando nicht vorher die Waffen abgeben – eine höchst unrealistische Forderung. Auch die Post hatte Sorgen: Man habe keine Busse mit Vorhängen, wie die Terrorgruppe sie wünsche. Sollen sie halt etwas anderes hinhängen, murrte Kreisky.
Als die Ärzte im AKH, wo der verletzte Terrorist Klein behandelt wurde, monierten, sie hätten kein für ein Flugzeug geeignetes Beatmungsgerät, fuhr ihnen Kreisky in die Parade: In Rettungsautos werde doch auch beatmet, man müsse eben ein solches Gerät ausbauen.

Telefonisch informierte der Kanzler den Oppositionsführer, ÖVP-Obmann Josef Taus, über den Stand der Dinge. „Also Sie geben den Forderungen der Terroristen nach“, habe Taus spitz geantwortet, erzählte Kreisky seiner Ministerrunde, war darob aber nicht empört: „Ich erwarte von den Herren in der Opposition ja nicht, dass sie unsere Verantwortung übernehmen.“
Inzwischen hatte im Burgtheater die Abendvorstellung begonnen, wie Hannes Androsch konsterniert feststellte – obwohl der mit Sprengstoff beladene Tatort kaum 100 Meter entfernt lag.

Noch in letzter Minute gab es eine haarsträubende Panne: Zwei Bauarbeiter traten just in dem Moment aus der Universität auf die Straße, als Carlos und seine Geiseln in den Bus stiegen – man hatte schlicht auf die Sicherung des Geländes vergessen.

Handschlag.
Am Flughafen streckte Carlos plötzlich dem neben der Maschine stehenden Innenminister Otto Rösch die Hand hin. Dieser ergriff sie. Das verstörende Bild ist heute Teil der Ikonografie der Zweiten Republik.
Die Sache endete glimpflich: Nach einem Zwischenstopp in Libyen landete die AUA-Maschine in Algier, wo Carlos seine Geiseln freigab. Der Iran und die Saudis mussten je zehn Millionen Dollar Lösegeld bezahlen. Carlos residierte für einige Tage in einem Luxushotel und tauchte dann im Jemen unter.

In den folgenden Jahren wurden vier der sechs Täter in anderen Ländern geschnappt. Das in Terrorangst lebende Österreich tat alles, um ihre Auslieferung zu verhindern. In den Prozessen wurden abenteuerliche Ermittlungs­pannen bekannt. So hatten es die österreichischen Behörden unterlassen, die Kommandomitglieder zu fotografieren. „Kameras mit Teleobjektiven zählen offenbar nicht zum technischen Standard der Hauptstadt-Polizei“, ätzte der „Spiegel“. Auch Fingerabdrücke hatte man nicht genommen. Das deutsche Bundeskriminalamt hatte den Österreichern ein Band mit Bildmaterial über „Nada“ Kröcher-Tiedemann geschickt, um diese von Zeugen identifizieren zu lassen. Das Band ging unbesehen zurück. Begründung: Nur der ORF verfüge über ein entsprechendes Abspielgerät – und ­dieser habe es gerade selbst gebraucht. Beim Prozess in Frankfurt wurde Kröcher-Tiedemann mangels Beweisen freigesprochen.

Nur einer zeigte sich vom Kooperationswillen Wiens angetan. Zwei Jahre später erteilte Staatschef Muammar al-Gaddafi der Voest den Auftrag zu einem Kraftwerksbau im Umfang von zwei Milliarden Euro.