Diese kleine Traurigkeit: Michael Ostrowski über Elfriede Ott

Zum Tod von Elfriede Ott: Diese kleine Traurigkeit

Mit dem Chihuahua in der Garderobe: Michael Ostrowski zum Tod der großen Volksschauspielerin Elfriede Ott.

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Ich bin aufgewachsen mit von Heinz Prüller kommentierten Formel-1-Rennen und vom ORF aufgezeichneten Boulevardstücken aus den Wiener Kammerspielen. Meine Favoriten waren stets Niki Lauda und Maxi BöhmLauda, weil er aus den Flammen auferstanden war, und Böhm, weil er anarchisch lustig durch eine Szene waten konnte wie durch ein Flammenmeer. Und an seiner Seite, immer wieder: Elfriede Ott, die durch ihre markante Stimme und ihre leicht raunzige Art auffiel. Man hat ihr die Spielfreude angesehen, ihre Lust am Blödeln, und man konnte sie einfach nicht vergessen, wenn man sie einmal gesehen und gehört hatte. Etwas fast Gekränktes war an ihr, diese kleine Traurigkeit, ich konnte es nie ganz fassen. Sie war ein großer Star, und sie war ein Rätsel. Und sie hatte es wohl nicht immer leicht bei meiner Generation. Nicht jeder war ein Fan.

„Wir sind auch nur Menschen“

Im Kulturhauptstadtjahr 2003 fand auf der Murinsel in Graz eine Woche lang jede Nacht der „Club Acconci“ statt, eine ziemlich durchgeknallte Late Night Show des Theaters im Bahnhof. Ein Fixpunkt dabei war das imaginäre Telefonat des Moderators Schallbert Gilet, der mein Trash-Alter-Ego war, mit Elfriede Ott. Der „Act“ bestand darin, dass Schallbert ins Telefon redete – und zurück kam Frau Otts Stimme von einer CD. Sie erzählte Anekdoten aus ihrem Theaterleben, ihre ersten Treffen mit Theatergrößen wie Hans Moser und Oskar Werner, und alles kulminierte in ihrem fast gehauchten Satz: „Wir sind auch nur Menschen.“ Gemeint waren „wir Theaterleute“, „wir Künstler“, „wir“, die wir so oft von anderen als „besonders“ gesehen werden, und doch, so sagte Frau Ott letztlich, „sind wir halt auch nur Menschen“. Sie ließ sich durch die versuchten Einwürfe des Moderators nicht beirren, immer und immer wieder erzählte sie ihre aufgezeichneten Anekdoten, bis ihm das Telefon aus der Hand fiel und er kapitulierte.

Als wir kurz darauf die Nestroy-Gala im Ronacher inszenierten, rief ich Frau Ott erstmals tatsächlich an. Wir wollten ihren Satz „Wir sind auch nur Menschen“ erneut benutzen, ihn immer dann einspielen, wenn jemand auf der Bühne den Kühlschrank öffnete. Sie sagte, ja, ja, kein Problem, gerne, fragte nicht groß nach. In diesem Telefonat fiel ganz nebenbei die Bemerkung, dass zwei Freunde von mir an einem Drehbuch schrieben, für das wir sie gerne als Hauptdarstellerin hätten. Sie sagte wieder ganz nonchalant, ja, gut, sie hätte da eh schon was gehört, wir sollten ihr das Buch gern einmal schicken, warum nicht.

„Ganz ehrlich, die erste Hälfte hat gereicht“

Sieben verflixte Jahre und unzählige Drehbuchfassungen später wurden Regisseur Andreas Prochaska und ich bei Elfriede Ott in ihrer winzigen Garderobe in den Wiener Kammerspielen vorstellig. Ihr Chihuahua Pipsi saß daneben und beäugte uns sehr intensiv. Es war die Pause einer Vorstellung, und wir waren gekommen, um sie für uns zu gewinnen, die Elfriede und die Pipsi. Wir bestanden den Test, bei beiden. Wir verabredeten uns zu einer Art Drehbuch-Leseprobe, dann verabschiedeten wir uns und gingen stante pede ins nächstbeste Lokal. Glücklich und zufrieden zwitscherten wir zwei, drei Biere in ausgelassener Stimmung, denn ohne die Frau Ott war unser Film nicht zu machen, das war allen Beteiligten klar. Es gab keinen Plan B.

Als wir uns wenig später trafen, fragte Frau Ott, ob wir uns denn auch die zweite Hälfte des Stücks angeschaut hätten. Die Frage ging glücklicherweise mehr an Andreas Prochaska als an mich. Bei mir war ihr das nicht so wichtig, dachte ich, ihn wollte sie testen, ihren neuen Regisseur. Und während ich innerlich alle gängigen und guten Notlügen durchging, sagte der Andreas: „Nein, ganz ehrlich, die erste Hälfte hat gereicht.“

„Ich kann von euch Jungen so viel lernen“

Ab diesem Moment war alles geritzt. Die „Evi“, wie wir sie nun als Eingeweihte ihres inner circle nennen durften, die Evi hatte den Andreas ins Herz geschlossen. Seine entwaffnende Ehrlichkeit war ihr lieber als jede anbiedernde Schmeichelei. Sie wusste, er würde gut mit ihr umgehen, und sie bedankte sich wenig später mit der unglaublichen Bereitschaft, sich selbst als 85-jährige Doyenne der Josefstadt nicht zu blöd dafür zu sein, im Nachthemd auf einem Bett stehend im Ketamin-Rausch abwechselnd „Ich bin ein Mädel aus der Vorstadt“ singend und wiehernd acht Minuten lang zu improvisieren, um dann ächzend umzufallen. Und wie es sich für eine wahrhaft Große geziemt, spielte sie jeden noch so großen Unsinn mit höchster Ernsthaftigkeit.

Sie beklagte sich niemals über lange Drehpausen, behandelte niemanden von oben herab, war zu jedem freundlich, mit dem sie zu tun hatte. Sie war dankbar, dass wir einen Film drehen durften. „Ich kann von euch Jungen so viel lernen“, war einer ihrer Stehsätze, den wir immer leicht beschämt wegkomplimentierten. Sie fand uns „so professionell“, dabei war sie der Profi. Wir schrieben in der Früh noch schnell am Set einen Dialog, sie las ihn sich durch, lernte ihn, und dann drehten wir die Sache. No big deal. Sie ließ sich durch halb Graz im Rollstuhl kutschieren, einen Topf aufsetzen und unter Drogen setzen. Sie heizte uns ordentlich ein, haute mir ohne Weiteres eine saftige Watschn runter und trällerte das vom Kollegium Kalksburg geschriebene Schluss-Quodlibet, während sie mit „da Puffn“ in der Hand ihren angeschossenen Neffen in Schach hielt. Sie hatte ein unglaubliches Gespür für Timing, schön zu sehen in ihrer ersten Krankenhausszene, als sie kurz verwirrt aufwacht, dem Chefarzt bei der Visite sehr exakt ansagt, was sie gerne in welcher Reihenfolge zum Frühstück hätte, um dann blitzartig wieder einzuschlafen.

Sie ließ sich nicht in die Ecke drängen

Während wir auf unsere Szenen warteten, fragte ich sie aus über ihr Leben, ihre Kollegen, alles, was ich kriegen konnte. Sie erzählte mir, dass sie früh ihren Vater verloren hatte, der sie von den Bahngleisen gezogen hatte und dabei selbst verunglückt war. Und sie sagte sehr offenherzig, dass sie dies langfristig traumatisiert habe und ihre Männer meist viel älter waren als sie und dass sie, trotz allem, viel Glück gehabt habe im Leben. Sie erzählte mir auch, dass Maxi Böhm so unglücklich war. Dass er immer den Lustigen gespielt hat, weil er dachte, die Leute wollen nur das sehen, dass er sogar auf die Bühne ging, kurz nachdem sein Kind gestorben war, dass er Antidepressiva nahm und zeitweise nicht mehr leben wollte. Dass ihn der Druck, immer auf der Bühne zu stehen, fertiggemacht hat – und dass er trotzdem nicht anders konnte. Der Maxi Böhm, der Humorist im Flammenmeer. Er wollte und konnte irgendwann nicht mehr.

Sie war da anders. Sie nahm die Dinge in Angriff und ließ sich nicht in die Ecke drängen. Und ich glaube, dass sie sich, weil sie sich dessen bewusst war, viel erspart hat. Vielleicht hatte sie nur den Wunsch, neben all der Anerkennung und Lobpreisung durch das Publikum, einfach normal zu sein. Wir sind auch nur Menschen. Das war ihr Mantra, das sie so lange wiederholt hat, bis sie’s selbst geglaubt hat.

Sie war Schauspielerin und Sängerin, Autorin, Regisseurin, Intendantin, Schauspielschulleiterin und Doyenne – und irgendwie auch nur ein Mensch. Ein lustiger und lieber noch dazu. Adieu, Evi.

Michael Ostrowski, 46, begann seine Karriere in den 1990er-Jahren als Mitglied der Grazer Bühnentruppe Theater im Bahnhof. 2001 absolvierte er seine erste Filmrolle, seither gehört der gebürtige Steirer zu den gefragtesten Schauspielern Österreichs; vor allem sein komödiantisches Talent gab Erfolgsfilmen wie „Nacktschnecken“ (2004) und „Contact High“ (2009), deren Drehbücher er auch mitverfasste, und TV-Serien wie „Schlawiner“ (2009–2012) und zuletzt „Labaule & Erben“ (2019) ihren ganz eigenen Tonfall. Als Regisseur debütierte Ostrowski 2016 mit „Hotel Rock’n’Roll“. 2010 war Ostrowski in der von ihm mitgeschriebenen Komödie „Die unabsichtliche Entführung der Frau Elfriede Ott“ zu sehen.