Historiker und Großbritannien-Kenner Philipp Blom

Historiker Blom: "Wir bleiben die Affenart, die wir immer waren"

Der Historiker und Großbritannien-Kenner Philipp Blom über den verheerenden Brexit, politische Bauchentscheidungen und den Fluch, in interessanten Zeiten zu leben.

Drucken

Schriftgröße

profil: Sie haben in London gelebt und schreiben als Journalist für Zeitungen wie „The Guardian“ und „Financial Times“. Wie sehr hat Ihr Herz beim Brexit geblutet? Blom: Ich war schockiert. Ich hatte nicht damit gerechnet, meine britischen Freunde nicht, schon gar nicht David Cameron. Die Tatsache hat etwas Tragisches, dass eine ganze Nation aus Ignoranz und Wut sich selbst und allen anderen ins Knie schießt.

profil: Waren Sie mehr in Ihrer Funktion als Historiker oder als Zeitgenosse bestürzt? Blom: Sowohl als auch. Der Brexit könnte die EU durchaus dazu animieren, ein stärkeres Europa zu werden. Weil aber in vielen – um nicht zu sagen: in so gut wie allen Ländern des Kontinents – ähnliche Kräfte stark und stärker werden, scheint es wahrscheinlicher, dass die beim Brexit schlagend gewordenen Dynamiken Europa auseinandertreiben. Das wäre verheerend, dumm, zutiefst gefährlich.

profil: Als Historiker bleibt Ihnen der Trost, aus der Geschichte lernen zu können. Blom: Ich habe Geschichte auf der Uni so zu interpretieren gelernt, als würde man als Historiker auf einem Berg stehen, die Landschaft überblicken und jedes Detail sehen und analysieren können. Als Beobachter, der in der Gegenwart steht, befindet man sich aber gleichsam auf einem Raketenflug, der mit enormer Geschwindigkeit in unbekannte Gefilde unterwegs ist. Es gibt keinen Ankerpunkt der Analyse. Man ist vom Geschehen betroffen. Intellektuell und emotional.

profil: Als Zeitgenosse dürften Sie wohl so etwas gedacht haben wie: „Ihr Dummköpfe, was macht ihr denn da?“ Blom: Cameron hat mit unglaublicher Arroganz mit der Zukunft seines Landes gespielt, um seine Position innerhalb der Partei zu stärken. Er hat ein Referendum angekündigt, das niemand ernsthaft wollte, um seinen rechten Parteiflügel zu befrieden. So haben verängstigte Pensionisten in postindustriell-verarmten Städten den Brexit gewählt und damit der kommenden Generation ihre Zukunft verbaut. Die Brexit-Wahl war verantwortungslos. Viele Menschen stimmten gegen alles Mögliche ab, nur nicht gegen Europa: Sie votierten gegen die Migration, gegen ihre eigene Regierung. Sie wollten Cameron zeigen, was sie von ihm halten und sie wollte ihr Land zurück, was zwar verständlich, in einer globalisierten Wirtschaft aber schlicht nicht mehr möglich ist.

Nie und nimmer hätte ich von der britischen Psyche geglaubt, dass sie sich für den Brexit entscheiden könnte!

profil: Großbritannien ist bekanntlich das Mutterland des gesunden Menschenverstandes. Dieser blieb bei der Brexit-Entscheidung offenbar auf der Strecke. Blom: Nie und nimmer hätte ich von der britischen Psyche geglaubt, dass sie sich für den Brexit entscheiden könnte! Ich war davon überzeugt, wenn es ein Argument gäbe auszutreten, wäre es ein ökonomisches. Was der Brexit tatsächlich bedeuten würde, das haben alle seriösen Ökonomen und Wirtschaftsleiter unisono vorausgesagt. Es gab also kein wirtschaftliches Brexit-Argument.

profil: Wo bleibt also der common sense? Blom: Der ist unter einer Welle von Angst und Trotz begraben worden. Dabei war er schon immer auch für Europa wichtig. England war immer jenes Land, das mit den anderen an einem Tisch saß und irgendwann sagte: „Alles gut und recht. Aber funktioniert es auch?“ Das war eine wertvolle Frage, gerade bei Tischnachbarn mit so gigantisch-idealistischen Traditionen wie Frankreich und Deutschland, die sich öfters zu Dingen hinreißen ließen, die für den Kontinent gelinde gesagt suboptimal waren. Ironischerweise ging gerade diese Frage – „Funktioniert es auch?“ - jedoch verloren in einer zutiefst emotional und populistisch aufgeladenen Ausstiegsdebatte.

profil: Viele Brexit-Befürworter dürften nach dem Motto gewählt haben: Es geht sowieso alles den Bach runter, aber so kann es nicht weitergehen. Blom: Unlängst war auf BBC eine Dokumentation zu sehen, in der in Wales, einem EU-Zentralfördergebiet, ein junger Mann interviewt wurde. Er stand vor einem frisch renovierten Bergwerksgebäude, das heute als Kulturzentrum dient, just vor dem blauen EU-Förderschild. Die EU bezuschusste den Bau mit 50 Millionen Euro, den nahen Bahnhof mit acht Millionen, das Jugendzentrum mit einer halben Million. Der junge Mann wurde gefragt, inwiefern er von der EU profitiere. Seine Antwort: Gar nicht, er wähle den Brexit, weil sich irgendetwas ändern müsse.

Es braucht wieder Menschen, die aus Überzeugung aufstehen, etwas anpacken, ihre Position argumentativ vertreten.

profil: Der Brexit als eine Entscheidung aus dem Bauch heraus? Blom: Europa wurde entlang politischer Überzeugungen und mit einem bestimmten Idealismus erbaut. Lange Zeit glaubten wir, die Welt funktioniere allein aufgrund ökonomischer Daten und Zahlen, sozusagen ideologiefrei. Das war aber ein gigantischer Fehlschluss. Die Zeit der überzeugungslosen Verwaltung des nationalen Wohlstands ist vorbei. Es braucht wieder Menschen, die aus Überzeugung aufstehen, etwas anpacken, ihre Position argumentativ vertreten. Was dem entgegensteht ist der Kult der Meinung. Unsere Medien unterscheiden kaum zwischen profilierten Meinungen – die durchaus falsch sein können – und dem alten Prinzip vox populi - vox dei. Jede Meinung gilt irgendwie als heilig, als würdig, gleichberechtigt neben anderen zu stehen, auch wenn sie alle Fakten vernachlässigt und nur auf einem Bauchgefühl beruht. Meinungen sind heute wie Mode. Jeder hat auf Twitter und Facebook das Recht, alles anzuziehen. Dabei vergisst man eins: Man hat nicht auch automatisch das Recht, darin gut auszusehen.

profil: Wie werden Historiker in 50 Jahren wohl über die maßgeblichen Brexit-Akteure von heute urteilen? Blom: Unsere Generation wurde in dem Glauben groß, dass die Probleme der Vergangenheit durch Fragen an die Großväter zumindest nachvollziehbar seien: „Wie war das alles möglich, und was hast du damals getan?“ Wir werden dagegen gefragt werden: „Wie habt ihr das alles zulassen können?“ Wir sind die Generation der Verschwendung: Wir verbrauchen die meisten Ressourcen, wir produzieren den meisten Müll, wir sind für die meisten irreversiblen Veränderungen in der Natur verantwortlich. Wir leben von Sklaverei in anderen Ländern, die für unsere billigen Konsumgüter sorgt und wir sehen zu, wie unsere Demokratien langsam ausgehöhlt werden.

profil: Werden wir auch für den Niedergang der EU verantwortlich gemacht werden? Blom: Wir nehmen uns die Freiheit, dass Gesellschaften, die als gigantisches Friedensprojekt geschaffen wurden und hervorragend funktionieren, langsam unter unseren Händen zerbröseln. Wir schenken diese Errungenschaften her und leisten dabei nicht einmal Widerstand. Wir haben längst akzeptiert, dass Gesellschaften Märkte sind und das Bruttosozialprodukt der wichtigste Indikator dafür ist, was ein Land wert sei.

profil: Wir werden also als zerstörerische Generation in die Geschichte eingehen? Blom: Aber nicht deshalb, weil wir mit eigenen Händen Menschen umbringen. Wir nehmen aus Bequemlichkeit Dinge hin, die verheerende Konsequenzen haben werden – die Geschichte der europäischen Desintegration zeigt genau das. In Zeiten, in denen es uns gut geht, nehmen wir all dies sehenden Auges hin, allein deshalb, weil alle Alternativen zu unbequem wären.

Europa hat fürchterliches Elend in die Welt exportiert, andere Länder und deren Gesellschaften zerstört.

profil: Der Brexit wäre demnach ein alarmierendes Syndrom der heraufziehenden Katastrophe? Blom: Würde morgen in Frankreich abgestimmt, wäre auch Frankreich für den Exit. Sollte Marine Le Pen Präsidentin werden, wird es in dem Land fraglos ein Referendum geben. Dann wäre die Europäische Union an ihrem Ende angelangt.

profil: Die Briten als Miterfinder der Globalisierung stellen sich gegen die Globalisierung – ist das nicht paradox? Blom: Überhaupt nicht. Europa hat fürchterliches Elend in die Welt exportiert, andere Länder und deren Gesellschaften zerstört. Es hat in Zusammenhänge eingegriffen, diese zerrissen, etwas anderes daraus gemacht. Europa hat etliche Grenzen willkürlich neu gezogen, völlig disparate Gebiete zu Nationalstaaten erklärt: Natürlich sind dadurch Formen postkolonialer Unterdrückung entstanden. All das kommt jetzt in den Köpfen der Menschen zu uns zurück. Die Menschen, die auf den Flüchtlingsrouten nach Europa gelangen, bringen zurück, was wir einst in die Welt trugen. Diese Menschen sind Repräsentanten einer elenden Welt, die auch deshalb so geworden ist, weil sie unseren Wohlstand mitfinanziert hat. Auch darum, aus einem diffusen Schuldgefühl heraus, werden sie gehasst.

profil: Weshalb ist ein großer Teil der Briten gleichsam über Nacht zu Globalisierungsgegner geworden? Blom: Schon unter Tony Blair hat sich die Labour-Partei von ihren traditionellen Wählern abgewandt und sich umorientiert. Im postindustriellen Großbritannien fand sich eine ganze Klasse von Menschen ohne Verbindung zu der politischen Partei, die immer für sie gesprochen hatte, und Camerons Austeritätspolitik hat diese Situation noch verschlimmert. Die Mittelklasse ist so stark unter Druck wie noch nie und beide empfinden eine wirtschaftliche und politische Veränderung vor allem als kulturellen Verlust, als Verlust der eigenen Identität. Das führt unter anderem zu einem Rückzug auf alte Sicherheiten. Nigel Farage gibt sich gern traditionell, am Tresen lehnend und sein Bier trinkend. Dazu laufen im britischen Fernsehen zahllose nostalgische Serien. Glückliche Menschen meist weißer Hautfarbe feiern darin in bukolischen Dörfern ein fröhliches Dasein. Großbritannien träumt sich in eine andere Zeit, in eine Epoche eigener Größe.

profil: Das Idyll steht der komplexen Realität vollkommen entgegen. Blom: Ich glaube, es stellt eine wirkliche Tragödie dar, dass die Politik zu feige ist, mit der Wählerschaft den Dialog darüber zu beginnen, dass sich unsere Gesellschaften radikal ändern wird müssen. Die Digitalisierung und der Klimawandel werden weiter tief in unsere Gesellschaften eingreifen. Was wir haben, wird nicht mehr zu halten sein – von der Energiepolitik bis zur Arbeits- und Migrationsproblematik müssen völlig neue Lösungen gefunden werden. Der Stolz jedoch, etwas Richtiges gesagt zu haben, ist vielen Politikern weniger wert als das sichere Ticket zur Wiederwahl.

Es ist Europas Tragödie, dass sich die Menschen hier längst damit abgefunden haben, keine Zukunft zu haben.

profil: Brecht schrieb, man habe kein besseres Volk. Blom: Die Menschen fühlen sich betrogen, und sie werden es ja auch. Es ist zugleich aber nicht so, dass die armen Bürger von einer grundbösen politischen Kaste perfid hinters Licht geführt werden. Es ist Europas Tragödie, dass sich die Menschen hier längst damit abgefunden haben, keine Zukunft zu haben. Zukunft wäre Veränderung, und diese Veränderung wäre immer hin zum Schlechteren – ob Klimawandel oder der Zusammenbruch der Sozialsysteme. Deswegen verlangen wir nach keiner Zukunft, sondern nach einer immerwährenden Gegenwart. Und nur dafür bekommt man ein Wahlmandat.

profil: Welche unliebsamen Wahrheiten müsste die Politik denn aussprechen? Blom: Der Brexit ist das Symptom einer Entwicklung. Durch die Digitalisierung werden allein in Europa künftig Millionen von Arbeitsplätzen verloren gehen. Wir werden völlig neu darüber nachdenken müssen, was Produktivität und Arbeit für eine Gesellschaft bedeuten. Die Politik ist aber immer noch dabei, die Vollbeschäftigung als wichtiges Ziel zu preisen. Dazu kommt, dass als Sekundäreffekt des Klimawandels sehr viele weitere Migranten nach Europa drängen werden und wir Strategien erarbeiten müssen, wie wir damit umgehen, welche Verantwortung wir den Flüchtlingen gegenüber haben und welche unserem eigenen sozialen Frieden gegenüber - und wie wir allgemein weniger ein Teil des Problems sein können und mehr Teil einer Lösung.

profil: Es wäre mehr politische Aufklärung vonnöten? Blom: Ich beschäftige mich gerade intensiv mit der Zeit der Aufklärung. Viele Aufklärer glaubten, dass, sobald man den Menschen die Freiheit bringe, sie sich bilden, verantwortlich handeln und füreinander einstehen würden. Was aber, wenn viele Menschen einfach nur vor dem Fernseher sitzen und mit dem Trost eines vollen Kühlschranks leben wollen? Wer immer ihnen das gewährleistet, bekommt ihre Wahlstimmen. Natürlich existieren historische Momente, in denen sich durch kollektiven Enthusiasmus vieles zum Besseren wendet. Abgesehen davon bleiben wir aber die Affenart, die wir immer waren. Damit müssen wir realistisch umgehen, das ist die Grundlage aller pragmatischer Politik. Man kann andere Menschen nicht dafür schuldig sprechen, dass sie die Ideale, die man selbst hat, nicht teilen.

profil: Sind Sie nicht allzu pessimistisch? Blom: Es ist eine delikate Situation. Wir brauchen Wohlstand, um sozialen Frieden zu gewährleisten, aber wenn man allein auf die Vermehrung des Wohlstands achtet, verliert man jedes Gemeinschaftsgefühl. Eine Gesellschaft aber muss Ziele haben, eine Art von Transzendenz leben.

profil: Wer sorgt heute für transzendente Erlebnisse? Blom: Das Internet und die Werbeindustrie. Werbung schafft eine Form der Transzendenz, die an Ikonen und Heiligenbilder von früher erinnert. Faktoren wie Fußballclubs und Designerklamotten schaffen Ersatz-Identitäten.

profil: Die englische Fußballnationalmannschaft kann nach ihrem frühen Aus bei der EM nicht mehr damit dienen. Blom: Die Chinesen kennen den Fluch: „Mögest du in interessanten Zeiten leben.“ Wir leben leider in interessanten Zeiten.

Interview: Wolfgang Paterno Mitarbeit: Stefanie Krejci

Zur Person

Blom, 45, wuchs in Hamburg auf. Von 1997 bis 2001 lebte der Historiker und Philosoph in London, wo er als Verlagslektor, Autor und Auslandskorrespondent für deutsche, schweizerische und britische Zeitungen, Zeitschriften und Radiosender arbeitete. Seine Epochenstudie „Der taumelnde Kontinent. Europa 1900–1914“ schrieb er wie die meisten seiner Bücher auf Englisch und übersetzte diese dann selbst ins Deutsche. Blom, der in dem Kultursender Ö1 regelmäßig die Sendung „Von Tag zu Tag“ moderiert, lebt und arbeitet in Wien.

Wolfgang   Paterno

Wolfgang Paterno

ist seit 2005 profil-Redakteur.