Christian Rainer: Die Türkei, unser fremdes Land

Kurz & Kern haben recht. Die EU hat auch recht. Die Möglichkeit von Integration steht daher generell infrage.

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Sie haben an dieser Stelle mehrfach über die Türkei gelesen und über ihr Verhältnis zur Europäischen Union. Warum? Weil die Türkei durch ihre geografische Lage zwischen zwei Zivilisationen, durch ihre Größe, in Menschen und ökonomischem Gewicht gemessen, durch den wieder zur Staatsreligion werdenden Islam sowie durch ihre Geschichte Chance und Gefahr für Europa darstellt. Auch weil die Türkei in all den eben genannten Parametern eine Art Kriterienkatalog ist für die Möglichkeiten und Hindernisse der globalen Entwicklung.

Österreich steht im Zentrum des Konflikts und ist dabei isoliert innerhalb der EU

Genau dieses Verhältnis ist einmal mehr angespannt. Österreich steht im Zentrum des Konflikts und ist dabei isoliert innerhalb der EU. Treppenwitz und Widersinn dieser Positionierung: Österreich ist nicht wie üblich isoliert, weil es einen wenig solidarischen Standpunkt eingenommen hat, vielmehr und im Gegenteil, weil Außenminister und Kanzler eine europäischere Position bezogen haben als der Rest Europas. Sebastian Kurz hat in Kontinuität mit seiner Monate zurückliegenden Argumentation bekräftigt, die EU solle die Beitrittsverhandlungen abbrechen. Die Vorgänge in der Türkei seien unvereinbar mit westlichen Werten, die Gespräche eine Chimäre, eine Chance auf den Beitritt daher nicht gegeben. Christian Kern musste diesem Kurs beim jüngsten Gipfel folgen, wohl mehr gedrängt als aus eigenem Antrieb. Österreich blockiert damit eine gemeinsame europäische Taktik – gegen die 27 anderen Mitglieder, die sich verschnupft zeigen, und gegen die Türkei, die Österreich in rüpelhaftem Ton droht.

Wer hat nun recht, wir oder wir?

Außen vor lassen darf man bei dieser Frage die Kritik, Kurz und dann auch Kern betrieben die Abschottung gegenüber der Türkei aus billigen innenpolitischen Motiven. Dieses Kalkül hat zweifellos zur außenpolitischen Aufrüstung beigetragen, muss aber die Peilung der eingeschlagenen Richtung nicht ablenken.

Journalisten und Oppositionelle bauen auf diese Verbindung zur EU, nicht obwohl, sondern gerade weil sie verfolgt werden

Ernsthafter: An dieser Stelle habe ich im September die Meinung vertreten, wir sollten die Gespräche trotz der unerträglich überzogenen Retorsionsmaßnahmen von Recep Tayyip Erdoğan aufrechterhalten, und sei es nur zum Schein. Dieser Wunsch wurde mehrfach von türkischen Journalisten und Oppositionellen an mich herangetragen, obwohl sie von Erdoğan verfolgt, ja mit dem Tod bedroht werden. Der Grund: Sie bauen auf diese Verbindung zur EU, nicht obwohl, sondern gerade weil sie verfolgt werden. Ohne die Beitrittsgespräche, so etwa Can Dündar, der nach Deutschland geflüchtete ehemalige Chefredakteur der Zeitung „Cumhuriyet“, würde die letzte Verbindung mit den Guten gekappt und Erdoğan vollends entfesselt.

Die Situation stellt sich nun jedoch verändert dar: In der EU steht es 27 zu eins für Gespräche. Da gewinnt diese eine abweichende Meinung Sinn. Die Türkei, ihr politisches Establishment, der mit diktatorischen Vollmachten regierende Präsident müssen wissen, dass sich die Beschwichtigungsstrategie der Union ändern und sie isolieren könnte – selbst wenn ihnen das nur das scheinbar kleine Österreich zu verstehen gibt. Man sollte die Folgen einer derartigen Isolation für Erdoğan nicht unterschätzen, vor allem die ökonomischen Auswirkungen. Good guys and bad guys – so würde man die Taktik der EU nennen, wäre sie abgesprochen, was sie freilich nicht ist.

Dass die Bewertung der Beitrittschancen der Türkei durch Kurz & Kern wider all das diplomatische Gesudere ehrlich, weil realistisch ist, dürfen wir als Bonustrack für Österreich abspeichern.

Wir sehen hier einmal mehr, wie komplex sich Integration darstellt

Die vierte Seite dieser europäisch-österreichisch-türkischen Beziehungskiste: Wir sehen hier einmal mehr, wie komplex sich Integration darstellt (und ich meine ausnahmsweise nicht die Einbindung Österreichs in Europa): am Beispiel der Türkei als fremdes politisches Gebilde; am Beispiel der Türken mit ihrem eigenen Wertekanon; am Beispiel des monarchisch regierenden Erdoğan und seines willfährigen Hofstaates. Offensichtlich ist es unmöglich, einen Staat und seine Menschen in die Union einzugemeinden, die sich selbst als Teil Europas sehen, die sich über Jahrhunderte mit der westlichen Zivilisation ausgetauscht haben, die über eine formal demokratische und säkulare Verfassung verfügen. Wie soll es dann möglich sein, Syrien als Staat nach westlichen Kriterien zu behandeln, syrische Flüchtlinge innerhalb einer Generation zu integrieren? Wie Afghanistan und die Afghanen? Wie afrikanische Staaten und Afrikaner?

Ich halte den Glauben an diese Möglichkeit von Staatenbildung und Integration für naiv und daher zum Scheitern verurteilt.