Martin Staudinger: Der Einwanderungskontinent

Die Flüchtlingskrise wird auf lange Sicht der Normalzustand in Europa bleiben. Die Herausforderung besteht darin, das zu akzeptieren – und pragmatisch damit umzugehen.

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Bei aller Bedrohlichkeit hat der Begriff „Krise“, per Definition der „Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung“, auch einen tröstlichen Aspekt: das implizite Versprechen, dass die damit verbundene Ausnahmesituation zeitlich begrenzt ist.

Es ist zwar schlimm, aber es wird vorübergehen – diese Hoffnung schwingt derzeit immer mit, wenn von einer „Flüchtlingskrise“ die Rede ist. Und das Handeln der politisch Verantwortlichen scheint sich ebenfalls daran zu bemessen.

Das ist zumindest eine fundamentale Fehleinschätzung – oder, schlimmer noch: Selbsttäuschung und Realitätsverweigerung.

Was wir derzeit erleben (und Tausende von Flüchtlingen auf dem Weg hierher tragischerweise nicht überleben), ist nämlich keine Krise, sondern der Normalzustand der nächsten Jahre, möglicherweise auch Jahrzehnte.

Manchmal wird die Zahl der Menschen, die nach Europa zu gelangen versuchen, geringer sein – zur Zeit der Winterstürme im Mittelmeer beispielweise; manchmal größer – wenn wieder ein Staat im Nahen Osten oder in Afrika implodiert. Aber das sind letztlich nur statistische Schwankungen.

Faktum ist: Auf unabsehbare Zeit werden Zehn- oder gar Hunderttausende pro Jahr kommen. Dafür braucht es gar keinen Krieg wie in Syrien, es reicht allein die Auswanderungsdynamik auf den angrenzenden Kontinenten.

Einen Kontinent mit mehr als 14.000 Kilometern Festland-Außengrenze abschotten zu wollen, ist illusorisch.

Dagegen helfen keine Bündnisse mit afrikanischen Despotien, die Europa eingeht, um die Drecksarbeit der Migrationsabwehr weit hinter den Horizont zu verlagern; nicht die Grenzzäune, die Ungarn jetzt wieder aufstellt; nicht die Hundestaffeln, die Großbritannien auf die französische Seite des Kanaltunnels schickt; und auch nicht das harte Vorgehen gegen Schlepper, das gerne gefordert wird: Diese schaffen keine Nachfrage nach ihren Diensten, sie befriedigen nur die vorhandene. Einen Kontinent mit mehr als 14.000 Kilometern Festland-Außengrenze abschotten zu wollen, ist illusorisch. Das beweist das Beispiel der USA, die Ähnliches an der Grenze zu Mexiko (3144 Kilometer) erfolglos versucht haben.

Es bringt auch nichts, es den Ankömmlingen möglichst schwer zu machen, wie Österreich in Traiskirchen gerade auf besonders empörende Art und Weise vorexerziert: Diejenigen, die verzweifelt genug sind, ihr Leben bei einer Fahrt über das Mittelmeer aufs Spiel zu setzen, schreckt das sicher nicht ab – egal ob Kriegs- oder sogenannte Wirtschaftsflüchtlinge. Und solange Europa nicht alle seine Werte verrät, haben sie es hier allemal besser als in ihren Herkunftsländern.

Die Herausforderung besteht also weniger darin, den akuten Andrang zu bewältigen (das sollte eine Staatengemeinschaft, zu der einige der reichsten Länder der Welt zählen, ja wohl noch schaffen), sondern darin, einzugestehen, dass sich an diesem Andrang nicht viel ändern wird, und mit pragmatischer Vernunft darauf zu reagieren – statt die Verantwortung zwischen den Staaten hin und her zu schieben.

Sage keiner, das sei einfach. Es bedingt einen Paradigmenwechsel in der Einwanderungspolitik, der Immigration zur Normalität erklärt und akzeptiert, dass sich das Gesicht des Kontinents dadurch ändern wird. Wenn es schon nicht zu unterbinden ist, dann soll es besser legal und geordnet stattfinden als illegal und chaotisch.

Warum nicht Asylwerbern mit Kompetenzen, für die Bedarf besteht, möglichst rasch Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen?

Damit würde einerseits Druck aus dem Asylsystem genommen, das nicht zuletzt deshalb so überlastet ist, weil es praktisch keine Möglichkeiten zur Zuwanderung mehr gibt. Zudem bekommt Europa damit Entwicklungshilfe frei Haus. Nach Prognosen der Weltbank werden Migranten aus Drittweltländern allein heuer umgerechnet mehr als 450 Milliarden Euro nach Hause überweisen. Diese „Remittenzen“ sind ein nicht zu unterschätzender Beitrag zur Stabilisierung krisengeschüttelter Regionen und vermutlich effizienter als die offizielle Entwicklungszusammenarbeit.

Warum also nicht für klassische Zuwanderer in Fluchtländern EU-Arbeitsämter einrichten, die Jobs vermitteln – durchaus auch bloß befristet? Einwanderungswilligen, die ein Geschäftsmodell mitbringen, finanzielle Starthilfe geben? Remittenzen steuerlich begünstigen?

Warum nicht Asylwerbern mit Kompetenzen, für die Bedarf besteht, möglichst rasch Zugang zum Arbeitsmarkt verschaffen – beispielsweise, indem man die zahlreichen offenen Hausarztstellen in ländlichen Regionen mit syrischen Medizinern besetzt? Warum nicht in größerem Maßstab versuchen, was im kalabrischen Dorf Riace offenbar ganz gut klappt: die gezielte Ansiedlung von Flüchtlingen (profil 20/2011)? Warum nicht all das (und noch viel mehr) europaweit koordinieren, etwa durch ein Kommissariat für Einwanderung und entsprechende Ministerien in den Nationalstaaten? Warum nicht gezielt darin investieren, ein Fait accompli produktiv für alle zu gestalten?

Schon klar: All das sind keine Lösungen, sondern höchstens Ansätze dazu. Aber Europa sollte besser heute als morgen damit beginnen, ernsthaft in diese Richtung nachzudenken, statt an einer Vorgangsweise festzuhalten, die im Lauf der nächsten Jahre Millionen Menschen vorsätzlich in die Illegalität treibt. Andernfalls wird der Normal­zustand, den wir momentan als Krise erleben, auf Dauer tatsächlich nicht zu bewältigen sein.