Martin Staudinger: Mehr Merkel!

Noch eine Amtszeit für Deutschlands Langzeit-Kanzlerin? Ja, bitte – selbst wenn man ihr in vielem nicht folgen will.

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Wenn jemand zu Amt oder Funktion das BeiwortLangzeit“ verpasst bekommt, ist das so gut wie nie respektvoll gemeint: Es klingt nach Machtversessenheit, Unersetzbarkeitswahn, Selbstüberschätzung, Reformverweigerung und ein paar anderen Eigenschaften, die demokratische Politiker nicht haben sollten.

Spätestens seit Sonntag vergangener Woche gilt Angela Merkel im allgemeinen Sprachgebrauch als „Langzeitkanzlerin“. So wurde sie nach ihrer Ankündigung, ein viertes Mal als Kanzlerkandidatin anzutreten, in vielen Medien apostrophiert. Sollte sie im September 2017 noch einmal gewinnen und eine volle Legislaturperiode durchdienen, wird sie 2021 insgesamt 16 Jahre im Amt gewesen sein – genauso lange wie ihr Mentor Helmut Kohl, der ihr in mancher Hinsicht ein mahnendes Vorbild sein dürfte. Obwohl nach jahrelanger politischer Stagnation bereits als Kanzler abgewählt, beharrte der damals 69-Jährige als zur Bewegungslosigkeit erstarrtes Denkmal seiner selbst auf dem Parteivorsitz, bis er 1999 schließlich gestürzt wurde. Erledigt hat das ironischerweise ausgerechnet Angela Merkel.

Merkel wird Kohl“, titelte die linksalternative Tageszeitung „taz“ am Tag nach der Bekanntgabe der Wiederkandidatur spöttisch. Unter normalen Umständen müsste man also appellieren, es mit zwölf Jahren an der Regierungsspitze doch lieber gut sein zu lassen. Aber was ist derzeit schon normal, wenn man sich unter den Mächtigen der Welt umsieht? In den USA hat sich ein Präsidentschaftskandidat durchgesetzt, dessen moralische Obergrenze im Wahlkampf der Appell an niedrige Instinkte war und der nun von heute auf morgen nicht mehr weiß, was er alles versprochen hat (wobei das teilweise sogar ein Segen ist).

In Großbritannien amtiert ein Außenminister, der nur deshalb zu seinem Amt kommen konnte, weil er die europäische Idee und die Zukunft seines Landes ungeniert für die eigene Karriere zu opfern bereit war.

In der Türkei regiert ein Staatschef, der sein Land skrupellos in die Diktatur führt, Gegner zu Zehntausenden ins Gefängnis werfen lässt und Flüchtlinge als menschliche Schutzschilder für seine politischen Ziele missbraucht.

In Russland betreibt ein ehemaliger Geheimagent vom Kreml aus die Destabilisierung Europas, indem er Obskuranten am rechten und linken Rand unterstützt. In vielen anderen Ländern verfolgen populistische Glücksritter ohne Rücksicht auf Verluste ihre Eigeninteressen.

Was Merkel jedenfalls niemand andichten kann, ist ein Mangel an politischen Tugenden, die momentan ziemlich aus der Mode gekommen zu sein scheinen.

Aus diesem ganzen Irrsinn sticht die gegenwärtige deutsche Bundeskanzlerin als mächtigster Mensch der Welt hervor, der „weder autoritär ist noch einen an der Waffel hat“, wie die deutsche „Zeit“ vor Kurzem so schön schrieb.

Es wäre unsinnig, Merkel zu verklären. Man muss sie nicht einmal ideologisch mögen. Es gibt vieles, was gegen ihre Politik vorgebracht werden kann. Aus linker Perspektive kann man zum Beispiel finden, dass die Austeritätsfixierung der deutschen Bundesregierung kontraproduktiv war; aus konservativer Sicht, dass sie die CDU zu weit nach links geführt und dadurch erst Platz für den Rechtspopulismus vom Schlage der AfD geschaffen hat; aus rechtem Blickwinkel, dass sie in der Flüchtlingskrise versagt hat. „Man muss mit Merkel nicht immer einer Meinung sein, aber fest steht, dass sie stets in bester Absicht handelt“, konzedierte vergangene Woche sogar die „Kronen Zeitung“, die eher nicht im Verdacht steht, ein Fanzine der Willkommenskultur zu sein.

Gemessen an der Komplexität der Gesamtlage findet man bewundernswert wenig, was der deutschen Kanzlerin tatsächlich vorzuwerfen wäre – und schon gar nichts, was bloß einer raschen politischen Bedürfnisbefriedigung geschuldet war.

Was Merkel jedenfalls niemand andichten kann, ist ein Mangel an politischen Tugenden, die momentan ziemlich aus der Mode gekommen zu sein scheinen (wenn sie denn je wirklich en vogue waren): etwa ein grundsätzlich vernunftgeleitetes Handeln, gerade bei Themen, die in der eigenen Bevölkerung hoch emotionalisiert sind – beispielsweise im Umgang mit der Türkei. Da führt die Regierung in Berlin vor, dass man einem autoritären Regime standhaft und mit Blick auf das größere Ganze gegenübertreten kann, ohne Außenpolitik mit erkennbar innenpolitischer Motivation zu betreiben, wie es Österreich gerne tut.

Zu den gefährdeten Tugenden zählt auch die Widerstandsfähigkeit gegenüber reflexhaften populistischen Lösungen. Und nicht zuletzt gehört dazu auch der unbedingte Respekt für humanitäre Grund- und Menschenrechte – gerade in Phasen, in denen es politisch und möglicherweise auch finanziell schwierig ist, sie einzuhalten. Denn welchen Wert hätten diese Rechte, wenn sie ausgerechnet in Krisenzeiten, in denen ihnen besondere Relevanz zukommt, ihre Gültigkeit verlören?

Was all das betrifft, hat sich Angela Merkel bislang untadelig verhalten. Und das macht sie in der aktuellen Situation zu einer stabilisierenden Instanz, die sich niemand wegwünschen kann. Jetzt muss sie nur noch dafür Sorge tragen, dass diese Tradition erhalten bleibt. Dann kann sie es guten Gewissens und zur rechten Zeit durchaus gut sein lassen.