Peter Michael Lingens: Krokodilsbetroffenheit

Es gibt keine befriedigende, humane Lösung für Lampedusa – nur eine etwas weniger inhumane.

Drucken

Schriftgröße

Keine öffentliche Stellungnahme ohne das Bekenntnis tiefer Betroffenheit über den Tod der 800 Bootsflüchtlinge vor Lampedusa. Nachdem sie einander Donnerstag in Brüssel trafen, werden Europas Staatsmänner noch mindestens zwei Wochen in Betroffenheit geradezu ertrinken. Glaubwürdig ist für mich nur der deutsche Journalist Elias Bierdel, der mit einem gemieteten Boot selbst 37 Afrikaner aus Seenot gerettet hat. Ansonsten möge jeder an sich selber prüfen, ob die 800 eben im Mittelmeer Ertrunkenen und die 2500, die ihnen heuer vorangingen, ihn auch nur im gleichen Ausmaß berührt haben wie die 150 Germanwings-Toten vor drei Wochen.

Emotional sind die meisten von uns – ich schließe mich ausdrücklich ein – Neandertaler mit einer verdrängten Neigung zum Rassismus: Wir finden es keineswegs abwegig, eingehend zu diskutieren, ob der Beschluss der EU, „Triton“ und „Poseidon“ wieder – wie „Mare Nostrum“ – mit mehr Rettungsboten auszustatten, nicht noch mehr Afrikaner zur Flucht animieren wird. Gute Menschen beschwichtigen mit dem Hinweis, dass nach dem Ende von „Mare Nostrum“ weit mehr Flüchtlinge die Überfahrt riskierten als in der Zeit seiner Geltung. Böse Skeptiker wie ich wenden ein, dass das nur daran liegt, dass das Morden in Syrien, der Vormarsch des IS und das Chaos in Libyen sich erst jetzt summieren.

Natürlich soll man die Rettungsboote vermehren – aber ohne die Augen davor zu verschließen, dass sie den Flüchtlingsstrom sehr wohl verstärken werden.

Das leitet zu einer Feststellung über, die selbst die besten Menschen selten leugnen: Europa kann unmöglich alle Menschen aufnehmen, die Afrika verlassen wollen.

Ich werde es daher als großen humanitären Erfolg betrachten, wenn wir uns darauf einigen, in Zukunft alle Flüchtlinge zu uns durchzulassen, denen Asyl völkerrechtlich zusteht – also so gut wie alle Syrer.

Technisch funktioniert das meines Erachtens am ehesten mit den von Innenministerin Johanna Mikl-Leitner vorgeschlagenen EU-Außenstellen an der Küste Afrikas. Im Chaos von Libyen mögen sie sich nicht verwirklichen lassen – dann muss man es eben in Ägypten, Tunesien und Marokko versuchen. Noch leichter können schwimmende Prüfstellen eingerichtet werden.

Es war segensreich, dass wir mit Sebastian Kurz einen Integrationsverantwortlichen bestellt haben – es wäre mindestens so segensreich, einen Flüchtlingsminister zu bestellen.

Ob die Schlepper wirklich alle so kriminell sind, wie wir behaupten, stelle ich so lang infrage, als wir die eigene Politik nicht ändern. Ein Indiz für eine solche Änderung wäre, dass die EU endlich übereinkommt, wie die Asylanten auf ihre Mitglieder aufzuteilen sind. Theoretisch ist das nämlich einfach: Bis 2050 wird die Bevölkerung der EU gemäß allen seriösen Studien um 50 Millionen Menschen schrumpfen – so viele Flüchtlinge kann sie bis dahin also jedenfalls aufnehmen. Da Deutschland bis 2050 um sieben Millionen schrumpft, wäre das die Deutschland angemessene Quote. (Zumal es ohnehin die reichsten Volkswirtschaften sind, deren Bevölkerung am meisten schrumpft.) Auf längere Sicht stellt die Aufnahme der Flüchtlinge aber gar keine Belastung, sondern einen Zugewinn dar, weil eine schrumpfende Bevölkerung im Konkurrenzkampf mit anderen Volkswirtschaften ein ökonomischer Nachteil ist. Trotzdem bin ich nicht sicher, dass das auch Neandertaler begreifen.

Damit zu Österreich. Es war segensreich, dass wir mit Sebastian Kurz einen Integrationsverantwortlichen bestellt haben – es wäre mindestens so segensreich, einen Flüchtlingsminister zu bestellen. Am besten anstelle der überflüssigen Familienministerin – denn das Flüchtlingsproblem wird in den kommenden Jahren ungleich drängender sein. Unter anderem wird es eine erfolgreiche Bildungsreform noch dringlicher machen: Die Asylanten werden schleunigst Deutschkurse und oft auch Berufsschulen absolvieren müssen. Nur dann sind sie ein wirtschaftlicher Mehrwert anstelle einer Belastung – nur dann wird unsere Neandertaler-Natur ihre Anwesenheit verkraften.

Natürlich – hier decken sich Neandertaler-Emotionen und Vernunft – ist das Problem nur nachhaltig zu lösen, wenn in Afrika irgendwann erträgliche Verhältnisse einziehen. Ich schätze die Chancen dafür leider so gering ein wie Daron Acemoğlu und James A. Robinson in ihrem Bestseller „Warum Nationen scheitern“: Die Hälfte der afrikanischen Länder ist zunehmend unregierbar. Ihre schwachen Regierungen sind zwar gewalttätig, aber die legale Staatsgewalt ist durchwegs unzureichend und außerstande, den Vormarsch von immer mehr Terrormilizen aufzuhalten. Wichtigste Einkunftsquelle dieser Regierungen ist nicht die Besteuerung einer wachsenden Wirtschaft, sondern die Korruption im Wege des Ausverkaufs von Bodenschätzen. Entwicklungshilfe, so fürchte ich, ist für sie nur zusätzliches Taschengeld.

Jedenfalls bleiben in meinen Augen nur wenige Staaten, denen ich in absehbarer Zeit eine positive Entwicklung zutraue: Libanon, Tansania, Marokko, Tunesien, Jordanien. Auf sie sollten sich Entwicklungs- und Flüchtlingshilfe der EU konzentrieren. Ansonsten hilft sie Afrika derzeit leider wahrscheinlich am meisten, indem sie Waffen für den Kampf gegen den IS finanziert.