Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens Nichts vom Kalten Krieg gelernt

Nichts vom Kalten Krieg gelernt

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Jetzt erlebe ich es zum dritten Mal: Die USA & Co ermuntern eine Bevölkerung, die im eisigen Schatten des Kreml friert, zur Freiheit, zur Sonne im „Westen“ zu streben – und lassen sie dann im Regen stehen.
So war es 1956, als die Ungarn zum Aufstand ermuntert wurden und der Westen zusah, wie die russischen Panzer ihn niederwalzten. So war es 1966, als man den Tschechischen Frühling begrüßte und zusah, wie der Einmarsch des Warschauer Paktes ihn erstickte. Und so ist es 2014 mit der Ukraine.

In den beiden ersten Fällen hat sich der „Westen“ zwar unverantwortlich benommen, aber man kann ihn immerhin verstehen: die Sowjetunion war ein Gegner, den man militärisch für ebenbürtig halten konnte.
Doch das Russland von heute ist den USA militärisch weit unterlegen. Das Verhalten des Westens ist unverantwortlich und unverständlich zugleich.
Als man die Ukraine in die NATO und jetzt in die EU einlud, musste man wissen, dass das Putin irritieren würde. Hätte irgendein US-Präsident vorbeugend erklärt, eine militärische Intervention Russlands in der Ukraine sei für die NATO so unerträglich, wie es dort eine militärische Intervention der USA für Russland sei, so hätte Wladimir Putin nicht entfernt riskiert, die Krim durch russische Soldaten ohne Hoheitszeichen einzunehmen.
Aber Barack Obama – da bin ich ausnahmsweise mit den Republikanern einer Meinung – ist nicht der Mann, der durch das Aussprechen einer glaubwürdigen Warnung mit militärischem Eingreifen jedes tatsächliche Eingreifen überflüssig macht. Und man kann es dem US-Präsidenten nach dem Irak- und dem Afghanistan-Krieg auch nicht ganz verdenken, dass er meint, dass wenigstens Europa selbst für seine Sicherheit sorgen soll. Doch eine EU-Verteidigungsgemeinschaft existiert nur auf dem Papier, und die NATO, auf die sie diese Aufgabe überwälzt hat, ist ohne die USA ein Papiertiger.

Dabei muss man sich – ich zitiere Christian Rainer – darüber im Klaren sein, dass Europa mit 69 Jahren Frieden wirklich nur „beschenkt“ wurde. Ich möchte den von ihm angeführten Horrorszenarien eines faschistischen Revivals das für mich am nächsten liegende anfügen: Putin entwickelt seine Demokratur endgültig zur Diktatur fort; es gelingt ihm, nicht nur eine Eurasische Wirtschaftsunion zu errichten, sondern sie auch zu einem Militärpakt zu vergattern; gleichzeitig nutzt er den Ölreichtum der Region, diesen Pakt auch wieder hochzurüsten. Dann haben wir unter neuem Namen genau, was wir vor 69 Jahren hatten.

Zuzutrauen ist das Putin durchaus: Er war, als er in die Politik ging, ja kein Mann Gorbatschows, der von „Glasnost“ oder „Perestroika“ träumte, sondern er lernte beim KGB, wie man Dissidenten bekämpft, und hatte das Glück, dass der Alkoholiker Boris Jelzin ihn als Nachfolger wünschte, als das Land ins Chaos abzugleiten drohte.

Dass er dieses Chaos in den Griff bekam, lag durchaus daran, dass er beim KGB Erlerntes nie vergaß. Auch nicht, als Russland eigentlich die Möglichkeit gehabt hätte, zu ­einem demokratischen Rechtsstaat zu werden.
Zwar konnte er einen Gegenspieler wie Michail Chodorkowski nicht mehr wie Stalin in einem Schauprozess dem Tod im Gulag überantworten – aber ein unfairer Korruptionsprozess und elf Jahre Gefängnis leisten fast das Gleiche. Putins Gegner müssen wieder physische Existenzangst haben. Und auch die Desinformation durch gesteuerte Medien hat fast schon wieder das alte Ausmaß erreicht: Für Russlands TV-Konsumenten regieren in Kiew die Hakenkreuzler. Putins Humanismus kann man aus seinem Vorgehen in Sotschi und seinen Waffenlieferungen an Baschar al-Assad ablesen.

Dass mein Horrorszenario dennoch ein Hirngespinst sei, wird vor allem mit der Abhängigkeit der russischen Wirtschaft von der Wirtschaft des Westens begründet: Nach dem Einmarsch in die Krim ließen verschreckte Investoren bekanntlich sogleich die Kurse an der Moskauer Börse einbrechen. Nur dass dieser russischen Abhängigkeit vom „Westen“ die Abhängigkeit der EU vom Erdgas Russlands gegenübersteht und dass Deutschland seine Luxuslimousinen dorthin verkaufen will.

Natürlich hoffe ich dennoch, dass die zahlreichen Russland-Experten recht haben, die überzeugt sind, dass Russland im Konflikt mit der Ukraine keine noch härtere Gangart einschlagen wird. Wladimir Putin hat sie darin in seinem jüngsten Interview bekanntlich bestätigt: Es gebe derzeit keine Notwendigkeit für ein militärisches Einschreiten und auch keine Pläne für eine Annexion der Krim.

Aber eben „derzeit“. Wenn das Referendum auf der Krim endgültig dazu führen wird, dass sie sich Russland anschließt, bedeute das „Krieg“, hat der Übergangspremier der Ukraine Arseni Jazenjuk erklärt. Gebe Gott, dass er rechtzeitig erkennt, dass er ihn gegen ein drückend überlegenes Russland unmöglich führen kann, weil ihm kein Mensch zur Hilfe kommt. Und dass man über die Berechtigung seiner Aussage lange streiten kann: Russland hatte zwar kein Recht, die Krim einzunehmen – aber deren Bevölkerung hat das Selbstbestimmungsrecht, sich Russland anzuschließen.

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