Peter Michael-Lingens: Schwellen-Angst

Peter Michael-Lingens: Schwellen-Angst

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Es ist doch noch etwas „Dramatisches“ passiert: Innerhalb weniger Tage sind die Börsen weltweit zweistellig eingebrochen. Das dürfte die FED veranlassen, die geplante Erhöhung des US-Leitzinses, von der ich vorige Woche ausging, noch einmal zu verschieben. Denn Geld in kritischen Phasen zu verteuern, ist meist verfehlt. Wie so oft in der Wirtschaftsgeschichte sind die negativen Entwicklungen, die den Kurssturz bewirkten, schon länger im Gange, haben aber (wie 2009 die Probleme des Euro) erst mit gehöriger Verspätung das Bewusstsein der Marktteilnehmer erreicht und die übliche Überreaktion ausgelöst.

Denn vorerst betreffen die negativen Entwicklungen weder die USA noch Japan oder die EU – sondern ausschließlich „Schwellenländer“, voran China, Russland und Brasilien. In sie alle sind in den vergangenen 20 Jahren unglaubliche Mengen hungrigen Sparkapitals geflossen, weil Investoren dort optimale Verzinsung erhofften.

Diese Hoffnung entpuppt sich jetzt als übertrieben: Chi­nas Wirtschaft wächst nicht mehr im bisherigen Sieben- Prozent-Tempo. Brasiliens und Russlands Wirtschaft schrumpft. Auch die vielen kleineren Schwellenländer halten nicht, was sich die Anleger von ihnen versprochen haben. Da gleichzeitig die größte Wirtschaftsgemeinschaft der Welt, die EU, fast nicht wächst, hat diese weltweite Wachstumsschwäche allerdings zwangsläufig zwei gewichtige Rückwirkungen:

- Finanziers ziehen ihre Gelder aus den Schwellenländern zurück, was deren Probleme verschärft.

- Fast alle großen Unternehmen sowohl der EU wie Japans und selbst der besser funktionierenden USA müssen damit rechnen, dass ihre Exporte nicht wie bisher wachsen.

Daher die Kurseinbrüche. Und daher das vermutliche Zögern der FED aus gleich mehreren Gründen:

- Sie will US-Unternehmen (deren Aktienkurse) in dieser Situation vermutlich lieber nicht belasten.

Ein höherer Leitzins stärkte den Dollar und beförderte daher den Rückfluss des Geldes aus Schwellenländern in die USA noch zusätzlich.

- Und Finanziers, die sich in den USA billiges Geld geliehen haben, um es in Schwelleländern zu investieren, kommen in Probleme, wenn sie es teuer zurückzahlen müssen.

All das macht auch den kleinsten Zinsschritt heikel. Ich hoffe, dass die FED ihn dennoch höchstens bis Dezember verschiebt. Woher kommen die Probleme der Schwellenländer? Ich habe hier schon einmal geschrieben, dass ich das Buch „Warum Nationen scheitern“ von Daron Acemoğlu und James A. Robinson für das wichtigste der Gegenwart halte. Es gibt dafür eine überzeugende Erklärung: Um nachhaltig zu funktionieren, so erläutert es an zahlreichen Beispielen, brauchen Volkswirtschaften positive „politische“ Voraussetzungen:

- Die Bevölkerung muss dem politischen System vertrauen. Es muss einerseits Ordnung, andrerseits Freiheit (z. B. des Wettbewerbs) garantieren. Zu diesem Zweck müssen wichtige Institutionen – Parlamente, Gerichte, Medien, ­Finanz- und Kartellbehörden – funktionieren.

- Korruption muss sich in Grenzen halten.

- Möglichst viele müssen am Wohlstand teilhaben.

- Die Kluft zwischen Armen und Reichen darf nicht zu groß sein.

Diese Bedingungen sind in keinem der Schwellenländer erfüllt: China ist eine Diktatur; Russland eine Demokratur; Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff schlägt tiefstes Misstrauen entgegen. Korruption ist überall die Regel. Die Institutionen sind überall schwach. Die Kluft zwischen Armen und Reichen ist überall dramatisch.

Das heißt nicht, dass diese Länder nicht großen wirtschaftlichen Aufschwung erfahren können. Aber sie erfahren ihn auf einer schmalen, unsicheren Basis: Russland wie Brasilien profitierten fast nur von ihren Rohstoffressourcen – mit deren Preisverfall tritt ihre unveränderte wirtschaftliche Schwäche zutage. China profitierte von seinen Menschenressourcen – auch sie verdecken, dass es noch lange keine starke Volkswirtschaft ist: Die riesige Bevölkerung ist überaltert, ohne dass es eine Altersversorgung gäbe. Die staatsnahen Großunternehmen arbeiten unrentabel und sind überschuldet. Die Korruption ist allgegenwärtig. Die Umweltbelastung explodiert, wie soeben in der Provinz Shandong. Die „Institutionen“ sind keine. Und die Kluft zwischen Armen und Reichen ist atem­beraubend.

Der Fortschritt der vergangenen Jahrzehnte ist zwar höchst eindruckvoll – aber es ist mehr als problematisch, sich so sehr darauf zu verlassen. In Wirklichkeit können in China schon morgen Unruhen ausbrechen und den Koloss wie einst die UdSSR zusammenbrechen lassen.

Was heißt das für Europa: Wir sollten uns, wie die USA, auf uns selbst konzentrieren. Voran „Exportweltmeister“ Deutschland hat die Waren, die es in der EU oder den USA zu wenig absetzen kann, zu einem Gutteil in China absetzen können. Das dürfte nicht mehr im bisherigen Ausmaß möglich sein – wie die Kurseinbrüche bei Autoaktien einprägsam signalisieren.

Vielleicht wird das Wolfgang Schäuble und Angela ­Merkel endlich begreifen lassen, dass es gilt, den eigenen, ­europäischen Absatzmarkt zu stärken, statt durch einen Sparpakt zu schwächen.