Peter Michael Lingens

Peter Michael Lingens: Sozialdemokratie im Koma

Die Unfähigkeit von SPÖ und SPD, sich des Proletariats anzunehmen.

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Dass die FPÖ endgültig zur Partei der Arbeiter beziehungsweise des „Proletariats“ geworden ist, ist für die SPÖ existenzbedrohend. (Während es für die ÖVP nur traurig ist, dass Heinz-Christian Strache auch gehobene Angestellte anzusprechen vermag.) Deutschlands Sozialdemokraten geht es nicht besser: Dort sehen sich Proletariat und Arbeiter durch CSU und CDU besser als durch die SPD vertreten. Die AfD ist nur hinzugekommen.

Die Sozialdemokratie ist in Auflösung begriffen.

In Deutschland und Österreich, deren sozialistische Parteien stark vom Marxismus geprägt waren, ist das historisch ein zweiter Schritt nach einem notwendigen ersten: Schon ab 1950 sukzessive – und endgültig mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion – haben sie sich (zu Recht) vom Marxismus als einer unbrauchbaren Wirtschaftstheorie getrennt, was sie des Vorteils einer „Weltanschauung“ beraubt hat. (Denn die meisten Menschen schätzen es, wenn sie nicht selbstständig, sondern im Rahmen einer vorgefertigten Ideologie denken können.)

Zentrale Ursache dieser Entwicklung ist die Schwächung der Gewerkschaften

Dennoch sind die sozialistischen Parteien ursprünglich zur emotionalen Basis dieser Ideologie gestanden: dass es ihr wichtigstes Anliegen sein muss, die Interessen der „Schwachen“, die sich finanziell „unten“ befinden, zu vertreten. Dass sie dabei, wenn es nötig ist, auch Konflikte mit „Starken“, die sich eher „oben“ befinden, nicht scheuen dürfen. Gegen diese beiden Gebote haben SPD wie SPÖ seit gut 20 Jahren massiv verstoßen. Das beste Maß dafür ist die Entwicklung der Reallöhne, die seit damals gesunken sind, und ist die Entwicklung der relativen Armut, die seit damals ­gestiegen ist. Beides, obwohl der Reichtum Deutschlands wie Österreichs in diesem Zeitraum stärker denn je zugenommen hat.

Zentrale Ursache dieser Entwicklung ist die Schwächung der Gewerkschaften. Einerseits durch den (unvermeidlichen) Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft: Dienstleister lassen sich ungleich schwerer als Belegschaften großer Industriebetriebe organisieren. Andererseits durch die Globalisierung der Wirtschaft: Es streikt sich schwer für höhere Löhne, wenn Unternehmen die Möglichkeit haben, ihre Produktion in Billiglohnländer zu übersiedeln.

Allerdings ist diese Übersiedlung gerade bei Dienstleistungen nicht so leicht und hätte auch in der Industrie nicht ganz so leicht sein müssen, wenn sich nicht schon seit den 1980er-Jahren eine „industrielle Reservearmee“ gebildet hätte: Mittlerweile sind Streiks außerhalb von Piloten- oder Lokführer-Vereinigungen nahezu aussichtslos – es gibt zu viele prekär oder in Teilzeit Beschäftigte beziehungsweise Arbeitslose, die allenfalls bestreikte Jobs nur zu gerne hätten.

Deutsche Produkte vergrößerten ihre Marktanteile massiv zu Lasten Frankreichs und dramatisch zu Lasten des „Südens“

Mein verstorbener Kollege Franz Hanke hat damals – mit mir im Schlepptau – dringend für eine Arbeitszeitverkürzung plädiert, um diese industrielle Reservearmee zu vermeiden. Aber die Gewerkschaften haben nur an die Job-Inhaber, kaum an die Arbeitslosen gedacht. Allenthalben ließ man sich von Behauptungen wie denen des Soziologen Bernd Marin beeindrucken, der erklärt, dass „einfach dumm“ sei, wer glaube, dass Arbeitszeitverkürzung mehr Jobs bringen könne. (Unter denen, die so dumm waren, war unter anderen der bedeutendste Wirtschaftswissenschafter des Jahrhunderts, John M. Keynes). Ohne dass es je nachgeprüft wurde, übernahm man (und übernahmen die „Wirtschaftsmedien“) die These, dass Frankreich wegen seiner Arbeitszeitverkürzung so viel wirtschaftliches Terrain verloren habe – obwohl es einen seriösen wirtschaftswissenschaftlichen Beleg dieser These weit und breit nicht gibt.

Nur dass Frankreich nicht gut dasteht, ist gesichert.

In Wirklichkeit ist es eine ganz andere Entwicklung, die seinen Rückstand bewirkt und verfestigt hat: das von mir in der Vorwoche beschriebene deutsche Lohn-Dumping seit Gerhard Schröder. Frankreich, das seine Löhne weiterhin gemäß der alten Gewerkschaftsregel um Produktivitätszuwachs plus Inflationsrate erhöhte, musste gegenüber Deutschland, das seine Löhne unverändert beließ, massiv an Konkurrenzfähigkeit einbüßen. Der „Süden“, der die Löhne sogar über die Produktivität hinaus erhöhte, musste ins Trudeln geraten.

Dieses Ungleichgewicht hat sich verfestigt: Deutsche Produkte vergrößerten ihre Marktanteile massiv zu Lasten Frankreichs und dramatisch zu Lasten des „Südens“.

Export via Lohndumping seitens Einzelner kann nur so lange erfolgreich sein, als alle anderen sich zunehmend verschulden

Österreich wählte einen Mittelweg. Seine durch die Konkurrenz mit dem deutschen Nachbarn fast unvermeidliche Lohnzurückhaltung ließ die Löhne nicht ganz so weit hinter den Produktivitätszuwachs zurückfallen, sein Leistungsbilanz-(Export-)Überschuss fiel nicht ganz so hoch wie der deutsche aus.

Deutschland ist also einmal mehr Export-Weltmeister, jubelt die „Wirtschaftspresse“. Unter Vernachlässigung ­eines mathematischen Gesetzes, das in den Wirtschaftswissenschaften „Saldenmechanik“ heißt: Export via Lohndumping seitens Einzelner kann nur so lange erfolgreich sein, als alle anderen sich zunehmend verschulden. Wenn das nicht mehr geht, kommt es zu wirtschaftlichen Krisen und sozialen ­Revolutionen. Die EU ist auf dem besten Weg dorthin.