Peter Michael Lingens
Peter Michael Lingens: Terror als psychosoziales Problem

Peter Michael Lingens: Terror als psychosoziales Problem

Peter Michael Lingens: Terror als psychosoziales Problem

Drucken

Schriftgröße

Nach dem Anschlag von Lahore muss man wohl auch die rund 2,5 Millionen pakistanischen Christen zu jenen potenziellen Flüchtlinge zählen, die aufzunehmen die EU sich schwer weigern kann. Ähnlich viele Menschen drängen aus der Ost-Ukraine, in der längst kein Waffenstillstand mehr herrscht, in Richtung Polen. Und schließlich warten in Libyen Hunderttausende nur darauf, dass das Wetter wieder eine etwas gefahrlosere Überfahrt nach Italien zulässt. Auch der Schlepper-Preis für die Flucht von Syrien nach Italien steht schon: 5000 Euro.

Es wird also in Italien demnächst zu griechischen Zuständen kommen – nur dass dahinter keine Türkei liegt, in die man die Flüchtlinge per Vertrag abschieben kann. (Auch die Grenze Italiens zu Österreich wird auf diese Weise sehr wohl zur Problemzone werden, auch wenn uns die jüngsten Rechtsgutachten erlauben, Fliehende zurückzuweisen.) Die Lage in Italien muss dramatisch werden, und niemand soll sagen, das sei nicht vorherzusehen gewesen.

Die EU wird also auch nach der Schließung der Balkanroute und trotz Türkei-Vertrages einem nicht geringeren Flüchtlingsproblem als 2015 gegenüberstehen. Und sie wird sich dabei in einem wirtschaftlich unverändert prekären Zustand befinden, weil die ihr von Deutschland verordnete Sparpolitik zwingend mit wirtschaftlicher Stagnation und steigender Arbeitslosigkeit einhergeht.

Mehr Kameras und Polizeikontrollen können Anschläge erschweren – verhindern können sie sie nicht.

Zu diesen Megaproblemen gesellt sich das Spezialproblem des IS-Terrors in Europas Hauptstädten. Auch wenn sie besser zusammenarbeiten, werden Nachrichtendienste und Polizei Terror in Berlin, Rom oder Wien so wenig wie in Paris oder Brüssel verhindern können: Es ist nicht möglich, sich gegen Selbstmordbereite erfolgreich zu wappnen. Mehr Kameras und Polizeikontrollen können Anschläge erschweren – verhindern können sie sie nicht. Sich bei der Telefonüberwachung mehr am „Datenschutz“ als am Schutz von Menschen zu orientieren, wird sich zwar allenthalben aufhören – aber letztlich können sich Europas Attentäter persönlich verabreden, denn sie sind ja durchwegs hier wohnhaft und meist auch hier geboren.

Attentate in der näheren Zukunft zu vermindern, wird daher nicht funktionieren. Man wird schon sehr froh sein müssen, das Nachwachsen weiterer Generationen von Attentätern zu verhindern. Dazu muss man wissen, was sie zu potenziellen Attentätern macht.

Dass der Islam nichts damit zu tun hätte, ist absurd: Sie sprengen sich mit Allahu-Akbar-Rufen in die Luft, sie engagieren sich für den „Islamischen Staat“ und sie werden in Moscheen radikalisiert. Aber der Islam hat sie nicht zu Mördern gemacht – sie haben nur dessen Versprechungen in kritischen Situationen ihres Lebens als (Er-)Lösung angesehen.

So ist die Jugend fast aller uns bisher bekannter Attentäter durch Abrutschen in Kleinkriminalität, oft verbunden mit Drogenmissbrauch, durch häufige Arbeitslosigkeit und natürlich durch soziale Diskriminierung gekennzeichnet. Diesem Leben als Mensch zweiter Klasse in Frankreich oder Belgien stellt der „Islamische Staat“ das Versprechen von Reichtum und Ansehen gegenüber. Dass sich unter den Dschihadisten in Syrien auch ein Absolvent des MIT befindet und dass manche von ihnen durchaus berufliche Chancen besaßen, ist die Ausnahme, die die Regel bestätigt. Wobei der gut ausgebildete Zuwanderer die soziale Diskriminierung vermutlich als noch verletzender empfindet: Ich bin Akademiker, tüchtig, hier geboren, französischer (belgischer, deutscher) Staatsbürger – warum sieht man mich trotzdem nicht als gleichwertig an?

Wir müssen die Zuwanderer für uns gewinnen wollen – und sie müssen das dringende Bedürfnis haben, zu uns zu gehören.

Wir werden nicht umhinkönnen, zu einer Integrationskultur zu gelangen, wie sie die einstigen USA ausgezeichnet hat: Wir müssen die Zuwanderer für uns gewinnen wollen – und sie müssen das dringende Bedürfnis haben, zu uns zu gehören. Gegenwärtig sind wir davon weit entfernt.

Wie sehr die psychische Disposition das Kippen in den Extremismus begünstigt, belegen die vielen Brüderpaare unter den aktuellen Attentätern: Sie haben die gleiche psychische Sozialisation erfahren und sind so zum selben Entschluss gelangt.

Man wird aber auch darüber nachdenken müssen, wieso es unter den Dschihadisten 25 Prozent Konvertiten gibt – Leute, die also sicher nicht durch den Islam sozialisiert worden sind, sondern sich magisch vom „IS“ angezogen fühlen. Hier bringt Psychoanalyse mehr als soziale und politische Analyse: Es gibt eine nicht so kleine Gruppe junger Menschen, für die Selbstmord und Mord nicht abschreckend, sondern faszinierend ist. (Im Gegensatz zu einer weitverbreiteten Meinung ist Selbstmord sehr häufig mit massiver Aggression verbunden: Man ist bereit, den Menschen umzubringen, der einem am nächsten stehen sollte – sich selber. Wie leicht dann erst einen anderen. Schon gar, wenn einem dafür eine Zukunft im Paradies versprochen wird.)

Wir werden uns also auch mit der psychischen Gesundheit unserer Jugend auseinandersetzen müssen. Auch ein unendlich mühsames Langzeitprogramm.