Adolf Hitler: Eine neue Biografie zeigt die Skrupellosigkeit des Diktators

In einer neuen, großen Biografie wird Adolf Hitler als das beschrieben, was er tatsächlich war: ein skrupelloser Politiker und Diktator.

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März 1943. NS-Propagandachef Joseph Goebbels drängt auf den „Totalen Krieg“ an der „Heimatfront“. Er fordert Einschnitte auch im Lebensstil der Bessergestellten: Stopp des Autorennsports und Dienstpflicht auch für Frauen mit Kindermädchen. Doch Adolf Hitler mit seinem ausgeprägten populistischen Instinkt wehrt ab. Man könne jetzt „nicht kleinlich vorgehen“ und müsse „vor allem dafür sorgen, dass man die Frauen nicht zum Gegner bekommt“, ordnet er an. Die Schönheitspflege solle man ihnen lassen, schließlich sei es „ja nicht verächtlich, dass die Frauen sich für die Männer schön machen, und weder Schminken noch Haarefärben ist im nationalsozialistischen Programm verboten“. Hitlers „Totaler Krieg“ ist ein anderer. Ihn macht in diesen Märztagen 1943 „glücklich“, dass „die Juden zum größten Teil aus Berlin evakuiert sind“.

Dieser Blick in das politische Agieren des Diktators ist ein Nachweis für die These der neuen Hitler-Biografie, die der angesehene Historiker Peter Longerich kommende Woche in der Daueraustellung „Topographie des Terrors“ in Berlin vorstellen wird. Auf 1300 Seiten führt Longerich den Nachweis, dass Hitler in den zwölf Jahren an der Macht herrschte, beherrschte, selbst kleinste Bereiche bestimmte und alles seinem Ziel, dem „Rassenkrieg“, unterordnete. Auf die bis heute kontrovers diskutierte Frage „Wer war Adolf Hitler?“ gibt die neue Biografie eine Antwort: „Hitler war ein primär skrupelloser und aktiver Politiker.“

Hitler ist zu einem Requisit verkommen, dessen Bedeutung niemand mehr kennt. (Historiker Thomas Weber)

70 Jahre nach dem Ende der mörderischen Diktatur, die mehr als 50 Millionen Menschenleben gefordert hat, scheint es wieder geboten, Hitler zur Kenntlichkeit zu entstellen. Wie ein Nebendarsteller tauche er überall auf, einmal als Monster, dann als Witzfigur; in Deutschland blühe eine „enervierende, obskurantische Hitler-Folklore“ prangerte der junge Historiker Thomas Weber in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ zornig an: „Hitler ist zu einem Requisit verkommen, dessen Bedeutung niemand mehr kennt.“ Derzeit streift Hitler in „Er ist wieder da“ als Wiederbelebter im heutigen Berlin über die Leinwand, Pegida-Marschierer brüllen im Film wie auf der Straße „Wir sind das Volk!“. Seit dem Start im Oktober hat der „dümmste und perfideste Film seit Langem“ („FAZ“) ein Millionenpublikum gefunden. Ab Jänner wird dann Hitlers autobiografische Hetzschrift „Mein Kampf“, die ideologische Grundlage des Nazi-Regimes, seit 1945 erstmals frei zu kaufen sein, das Urheberrecht ist abgelaufen.

Longerich, Historiker an der University of London, Biograf von SS-Chef Heinrich Himmler (2008) und NS-Propagandachef Joseph Goebbels (2010), hat sich intensiv mit Hitler beschäftigt. Als Gutachter im Prozess gegen den britischen Holocaust-Leugner David Irving widerlegte er die Legende, der Mord an den Juden sei einfach an Adolf Hitler vorbei passiert. Unter anderem zitierte er darin die verräterische Aussage Himmlers zur „Judenfrage“, „wie schwer mir die Erfüllung dieses mir gegebenen soldatischen Befehls war“.

Es gilt, sich endgültig vom Bild eines Mannes zu verabschieden, der im Schatten seines eigenen Charismas gestanden (...) hätte. (Peter Longerich)

Nun führt der Historiker aus, inmitten Millionen überzeugter Nazis, williger Helfer, Vollstrecker, zu allem bereiter Soldaten und Militärs, habe das „Dritte Reich“ einer politischen Figur bedurft, die all das „zur Verwirklichung ihrer eigenen Ziele“ nützte. Longerich: „Es gilt, sich endgültig vom Bild eines Mannes zu verabschieden, der im Schatten seines eigenen Charismas gestanden, sich immer mehr von der Realität entfernt, ,die Dinge laufen‘ gelassen und sich aus dem eigentlichen politischen Prozess weitgehend zurückgezogen hätte.“ Die dominierende Entscheidungsgewalt habe Hitler bis zuletzt innegehabt: „Das ,Dritte Reich‘ konnte erst untergehen, als der Diktator, der es zusammengehalten hatte, sich das Leben nahm.“

Dieser Ansatz steht gegen das jahrzehntelang vorherrschende Bild, in dem das Phänomen Hitler als sich radikalisierender Prozess zwischen dem Diktator und der Gesellschaft erklärt wurde. Der in der Vorwoche verstorbene herausragende deutsche Historiker Hans Mommsen war der prominenteste Vertreter der Schule der sogenannten Funktionalisten; er sah Hitler in mancherlei Hinsicht sogar als „schwachen Diktator“. Der britische Hitler-Biograf Ian Kershaw führte diese Sicht in seinem Standardwerk („Hitler“, zwei Bände, erschienen 1998 und 2000) aus: Hitler habe die Impulse gegeben, Volksgenossen bis zum SS-Obersten hätten vorauseilend getrachtet, „dem Führer entgegenzuarbeiten“.

Das neue Werk wird also für Diskussionen sorgen. Wichtige Lektüre ist es schon als eine Art aktueller Bibliothek zu Hitler, selbst jüngste Publikationen, wie jene zu Hitlers angeblicher Kokainabhängigkeit, finden sich bewertet. Fesselnd zu lesen ist bereits der Beginn, die von Hitler zum Erweckungserlebnis stilisierte Szene, wie der 30-jährige „Niemand“ (Longerich) zu Ende des Ersten Weltkrieges hilflos in seinen Polster weint, „es mir um die Augen wieder schwarz ward“ (in: „Mein Kampf“). Hitlers pathetische Behauptung, ihm sei da die Sehkraft geschwunden, ist unüberprüfbar. Peter Longerich: „Sie lässt sich jedoch als Metapher für seine innere Weigerung lesen, den Tatsachen in die Augen zu schauen.“