Kampf ohne Regeln. Großeinsatz in Salzburg. "So etwas hab ich noch nicht erlebt", sagt der Oberst.

Integration: Was Bandenkrieg zwischen Tschetschenen und Afghanen lehrt

Integration: Was Bandenkrieg zwischen Tschetschenen und Afghanen lehrt

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Im Sommer 2014 ereignet sich im Wiener Donaupark eine Völkerverständigung der anderen Art. Im Schatten der größten Moschee Österreichs geben sich ein junger Afghane und ein junger Tschetschene die Hand. Umringt von jeweils sieben Stellvertretern beenden die zwei Rädelsführer einen Revierkampf um den Wiener Prater. Nach mehreren Messerattacken hätte der Konflikt dort zu einem Showdown mit Hunderten Kämpfern führen können. Nun tauschen die Kombattanten Handynummern aus, umarmen einander und ziehen friedlich davon. Die Aktion läuft unter dem strengen Auge älterer Landsleute, die das Treffen eingefädelt haben, und eines Beamten der Kriminalpolizei in Zivil. Seither lodert der Wiener Bandenkrieg zwischen Afghanen und Tschetschenen auf Sparflamme.

Im Winter intervenierte die Eingreiftruppe rund um den tschetschenischen Ex-Politiker Huseyn Ishanov, den tschetschenischen Kampfsporttrainer Adam Bisaev und den afghanischen Islam-Lehrer Nasim Mohamad erfolgreich in Graz, einem besonders heißen Pflaster.

Wer junge Tschetschenen oder Afghanen im Park nach der jeweils anderen Nationalität befragt, landet im verbalen Kriegsgebiet.

„Das sind Hunde.“ – „Die sind Dreck.“ – „Es gibt nur eine Lösung: zerstören.“ Wer junge Tschetschenen oder Afghanen im Park nach der jeweils anderen Nationalität befragt, landet im verbalen Kriegsgebiet. Seit zwei Jahren krachen die beiden Gruppen massiv aneinander, in Wien, Graz, Salzburg, Wels, Linz, St. Pölten. Es geht um Stolz, verletzte Ehre, Frauen, Drogen und Reviergrenzen. Und manchmal reicht ein Gerücht, ein falscher Blick, damit über WhatsApp der Kampfruf an „alle“ ergeht. Lesen Ishanov, Bisaev oder Mohamad das rechtzeitig, rücken sie aus.

Bis Jahresende werden mehr afghanische Flüchtlinge in Österreich leben als Tschetschenen. Dazu stoßen Tausende Syrer und Iraker. Es wird eng werden in den Parks. Und man muss kein Schwarzmaler sein, um zu prognostizieren: Ethnische Konflikte werden sich verschärfen. Österreicher merken davon meist nur die Glasscherben am nächsten Tag oder die Schlagzeile im Chronik-Teil der Zeitungen.

Die Politik wiederum begnügt sich damit, bei Empfängen Integration durch Leistung zu beschwören, oder verlässt sich auf Streetworker. Diese leisten in der Tat hervorragende Arbeit. Aber das scheint nicht zu reichen, damit jene Flüchtlinge nicht in der Sackgasse landen, die kaum Deutsch sprechen, wenig gebildet sind und ihre leicht zu kränkende Ehre schnell mit Fäusten verteidigen. Nicht zuletzt sind sie anfällig für radikal-islamistische Ideologien. Die Tschetschenen stellen mehr als die Hälfte der 250 Austro-Dschihadisten, und selbst Afghanen zogen bereits nach Syrien in den Krieg. Die Rekrutierer lauern.

Rund 50 Prozent der Tschetschenen und Afghanen in Österreich haben keine Väter. Deswegen muss wohl Vater Staat ihnen klarmachen, dass Asyl oder Mindestsicherung mit einer aktiven Beteiligung am Bandenkrieg schwer vereinbar ist. Noch wichtiger wären jedoch mehr Ersatzväter wie Ishanov und Mohamad. Es braucht diese Respektspersonen, die Jugendliche gegen falsche Helden und IS-Anwerber immunisieren.

"Wer hier kriminell wird oder gar nach Syrien geht, beschmutzt unseren Namen." Huseyn Ishanov

„Man hat in der Politik nicht darüber geredet und kontroversielle Themen ausgespart, um den Rassismus nicht zu nähren – mit dem Resultat, dass fast nichts passiert ist“, sagt der Politologe Thomas Schmidinger, der mit seinem Verein zur Deradikalisierung ausrückt, wenn Jugendliche unter IS-Verdacht geraten. „Es wird viel zu wenig mit Leuten aus den Communitys gesprochen, deswegen wissen wir auch viel zu wenig.“

Schauplatz Salzburg: Stadtpolizeikommandant Andreas Huber grübelt. Könnte die Tatsache, dass Tschetschenen in den 1980er-Jahren auf Seite der Sowjets gegen die Afghanen kämpften, Grund für den Hass sein? Die Tschetschenen galten damals als die besten Kämpfer in den russischen Reihen.

Was sich Anfang Februar in der Mozart-Stadt abspielt, hat Huber noch nicht erlebt. Am helllichten Tag prallen Tschetschenen und Afghanen mit einer Wucht aufeinander, die sämtliche Polizisten der umliegenden Wachzimmer auf die Straße befördert. In einer Kettenreaktion gehen bis zu 50 Personen im Lehener Park, am Bahnhof und an Straßenkreuzungen mit Eisenstangen, Messern, Holzlatten und Totschlägern aufeinander los, darunter sogar 14-Jährige und Flüchtlinge, die ganz frisch im Land sind.

In den Tagen darauf erstickt die Polizei mithilfe der Cobra weitere Scharmützel im Keim. „Die Burschen verstehen nur eine klare Sprache. Du musst Nase an Nase sagen, was du willst. Erst dann wirst du akzeptiert“, sagt Huber. In den Tagen darauf arbeitet die Polizei mit älteren Afghanen und Tschetschenen zusammen, die auf die Heißsporne einwirken. Imame nehmen die Unruhestifter ins Gebet. Die Lage beruhigt sich. Vor zehn Jahren erreichte die Flüchtlingswelle ihren Höhepunkt. Mit 30.000 Tschetschenen wurde Österreich damals eine der größten Exilgemeinden des 1,5-Millionen-Volkes. Doch die Afghanen werden die Tschetschenen bereits heuer zahlenmäßig überholen. Im November stellten 6000 Afghanen einen Asylantrag und lagen damit deutlich vor den syrischen Asylwerbern. Sie werden zumindest auf Zeit in Österreich bleiben dürfen. Denn in das zerrissene Land am Hindukusch wird derzeit niemand abgeschoben. Damit klettert die Zahl der Afghanen in Österreich von 16.000 Anfang 2015 auf rund 40.000 bis Jahresende.

Tschetschenen und Afghanen – beide kämpften Jahrzehnte gegen die Russen, beide sind überwiegend Sunniten, kommen aus patriarchalischen Ehrkulturen. Und beide landen im Unterschied zu früheren bosnischen Flüchtlingen oder türkischen Zuwanderern in Österreich, ohne auf bestehende Netzwerke zurückgreifen zu können. Die beiden Volksgruppen sind einander ähnlicher, als ihr Kleinkrieg vermuten ließe. Vielleicht erzeugt gerade das die Reibung im unteren Drittel der sozialen Skala; ein Außenfeind stärkt das Wir-Gefühl. „Es ist eine Konkurrenz um denselben öffentlichen Raum. Etablierte Gruppen wie Tschetschenen wollen sich von Afghanen nicht verdrängen lassen“, sagt Schmidinger. Im Wiener Prater erklärten die Afghanen eine Ecke zum „Afghanischen Park“. „Ich habe sie gefragt: ,Warum gehört er euch? Habt ihr ihn gekauft?‘“, erzählt Mohamad über seine Intervention. Die Afghanen haben dort nicht nur Sitzflächen verteidigt. Es ging auch um ungestörte Drogendeals. Schauplatz Wels: Am 5. November 2015 gehen im Stadtteil Pernau 20 Tschetschenen und Afghanen zur Abenddämmerung mit Schaufelstielen, Eisenstangen und Messern aufeinander los. Es fallen Schüsse. „Hier ist Ghetto. Die Afghanen dealen mit Gras, die Tschetschenen mit Heroin. Deswegen hat es gekracht. Hier sind zu viele Menschen auf zu engem Raum“, erzählt ein Welser, der sich auskennt, weil er selbst mit Drogenprobleme hatte.

"Wir dürfen die Jungen nicht loslassen, sonst landen sie bei den Dealern." Nasim Mohamad

„Ich habe in der Moschee immer gepredigt, dass Drogen von der Religion her strengstens verboten sind“, sagt der afghanische Streitschlichter Mohamad. Er ist 1994 geflüchtet und leitete sechs Jahre die Moschee im islamisch-afghanischen Kulturverein. Er schätzt, dass bis zu 60 Prozent der Flüchtlinge Geld in die Heimat überweisen müssen, um zu begleichen, was Familie oder Clan für die Schlepper zusammengekratzt haben. Auch deswegen sei die Versuchung groß, mit Drogen schnelles Geld zu machen.

75 Prozent der männlichen Afghanen, die kommen, sind Analphabeten. Mohamad ist trotzdem optimistisch: „Die Analphabeten hören besser zu, sie können wir leicht in den Griff bekommen. Aber wir dürfen sie nicht loslassen, sonst landen sie bei den Dealern.“

Bei den Wiener Tschetschenen lebt zehn Jahre nach der stärksten Auswanderung noch die Hälfte der 13.000 Personen von der Mindestsicherung. Von den 30.000 Tschetschenen in ganz Österreich sind nur rund 5000 als Arbeitnehmer bei der Gebietskrankenkasse gemeldet, rund 500 Personen als Selbstständige. So gebildet die erste Flüchtlingsgeneration der heute 40- bis 50-Jährigen noch war, so wenig ist es die Generation der 20- bis 30-Jährigen. Sie landet am Bau, im Lager und wieder auf der Straße.

Grosny wurde im Krieg zu 95 Prozent zerstört, und in den ersten Flüchtlingslagern der Nachbarländer gab es keinen Unterricht. Da fehlen Jahre an Bildung“, sagt Ishanov. Und wer nicht gut lesen könne, habe offenere Ohren für die religiöse Propaganda über das Smartphone. Dazu kommen schwere Kriegstraumata von einer Kindheit im Bombenkeller und Kugelhagel, mit Bildern von Toten im Kopf. Dagegen würden Sozialarbeit und Betreuung helfen – allein, es fehlt an Geld. Beim Verein für Folter- und Kriegsüberlebende „Hemayat“ stehen 300 Personen zur Trauma-Behandlung auf der Warteliste, beklagt Schmidinger die Unterfinanzierung.

Vor vielen Jahren bemühte sich Ishanov bei der Politik um eine Förderung für einen Vereinsraum. „Ich habe damals einen Brief an das Innenministerium geschrieben und erklärt, dass eine Radikalisierung droht, wenn so viele Jugendliche ohne Väter draußen sind. Wir hätten ein großes Kulturzentrum gründen müssen.“ Fehlanzeige. Aus eigener Tasche konnte er die Kosten nicht stemmen. Seine Streifschussnarbe im Gesicht zeugt von zwei Tschetschenien-Kriegen. In den zwei Jahren der Unabhängigkeit war er Abgeordneter in der Republik Ichkeria. Deren Flagge mit dem Wolfssymbol lehnt in seinem Wohnzimmer hinter der Couch. Im Kulturzentrum würde er jungen Tschetschenen die Geschichte erzählen, die hinter dieser Flagge steht, damit sie die schwarze IS-Flagge erst gar nicht beachten. „Sie sollen stolz sein auf unsere Heimat und begreifen, dass sie unseren Namen beschmutzen, wenn sie in Österreich kriminell sind oder gar nach Syrien gehen.“ Einmal pro Monat besucht Ishkanov tschetschenische Häftlinge in der Jugendstrafanstalt Gerasdorf und erinnert sie daran.

Schauplatz Klagenfurt: In einer Halle verfolgen Tschetschenen mehrere Afghanen, dann stürmen die Afghanen auf das Revier der Tschetschenen los. Der FC Tschetschenien spielt gegen eine afghanische Mannschaft. Gegründet wurde der Fußballklub von Siegfried Stupnig, einem Tschetschenien-Pionier in der Sozialarbeit. Heute kümmert er sich um 40 Familien. Gefördert wird das Projekt erst seit diesem Jahr vom Land Kärnten und vom Außenministerium. Als Stupnig begann, investierte FPÖ-Landeshauptmann Jörg Haider weniger in die Integration, als in Inserate, in denen er ein „Tschetschenen-freies Kärnten“ forderte. Sein Nachfolger Heinz-Christian Strache hat das billige Feindbild dankend übernommen. „Bei den Tschetschenen hat man die Augen verschlossen vor künftigen Problemen, die am Anfang der Zuwanderung noch nicht so schlagend waren“, sagt Stupnig. Und man hat verabsäumt, zu erklären, dass Frauen ihre Ehre in Österreich auch selbst verteidigen können.

Schauplatz Wien: Im März 2015 verguckt sich ein Afghane in eine Tschetschenin. Darauf fühlen sich zwei Tschetschenen berufen, deren Ehre zu verteidigen, und verpassen ihm zehn Messerstiche. Er überlebt. Als der Bruder des Opfers einen der Tschetschenen in der Bim erkennt, rächt er wiederum dessen Ehre und sticht zu.

Schauplatz Linz: Am 10. Oktober geraten ein 16-jähriger Afghane und ein 22-jähriger Tschetschene im Streit um ein Mädchen aneinander. Der Ältere greift zum Messer und verletzt den Jüngeren schwer.

„Der Grund für die Konflikte ist derselbe wie früher bei unseren Wirtshausraufereien. Es geht um Mädchen. Nur das Naturell ist ein anderes. Man greift schneller zum Messer“, sagt der Linzer Stadtpolizeikommandant Karl Pogutter.

Schauplatz St. Pölten: Kurz vor Weihnachten 2014 gehen 20 Tschetschenen und Afghanen am Bahnhof aufeinander los, ein junger Tschetschene bekommt ein Messer in den Bauch gerammt. Es geht wieder um Drogen. Die Polizei erklärt den Bahnhof darauf zur Schutzzone.

Solche Messerstecher landen früher oder später bei Kurt Koblizek, dem Leiter der Initiative „Neustart“ in Niederösterreich. „Wir müssen die Communitys aufbrechen, Ghettos verhindern und es als österreichweites Problem sehen, wenn sich Migrantengruppen Revierkämpfe liefern“, sagt er. Zu ihm kommen die Menschen erst, wenn sie etwas angestellt haben. „Man muss den Leuten aber von Anfang an einimpfen, wie es bei uns läuft, welche Werte bei uns gelten und dass der Staat, nicht der Clan das Sagen hat.“ Nur wer Klartext rede, dringe zu den Migranten durch. Richtung Politik meint er: „Man muss die Realität wahrnehmen wollen.“

In Graz konnte sie gar nicht anders: Im Sommer 2014 krachen wieder 40 Tschetschen und Afghanen aufeinander, Messer und Macheten sind im Spiel.

Das Innenministerium fördert in Graz nun eine Mediation zwischen Afghanen und Tschetschenen. Brigitte Bösenkopf leitet das Projekt. Sie attestiert, dass in beiden Kulturen Gewalt eher zur Konfliktlösung dient und zeigt Alternativen auf. „Interkulturelle Lotsen“ hält sie für besonders wichtig.

Als solchen könnte man Adam Bisaev vom Rat der Tschetschenen bezeichnen. Er trainiert im Kampfsportklub „Latar Do“ im 20. Wiener Bezirk junge Tschetschenen. Danach redet er im Besprechungszimmer mit ihnen über muslimische Werte und das Leben in Österreich. Wer die Jungen nach ihrem Lebensziel befragt, bekommt hier nicht „Heiliger Krieg“ zu hören, sondern „Aufsteigen“ und „Gymnasium“.

„Jetzt reden wir wieder nur über Gewalt, das lese ich täglich in der Zeitung, das langweilt mich“, sagt der 20-jährige HTL-Schüler Dschebir, von profil zur Gewalt auf den Straßen befragt. Er gehört zu den Tschetschenen, die unter dem schlechten Ruf ihres Volkes leiden – so wie alle Tschetschenen, die nicht im Terror-Prozess oder Bandenkrieg auffallen. Die Community ist stinksauer auf die schwarzen Schafe. Der 18-jährige Maturant Ramsan sagt: „Wir werden es schwer haben.“ Und tatsächlich erzählen Tschetschenen mit Lehrabschluss, wie das Klima beim Bewerbungsgespräch einfriert, sobald sie auf die Frage „Woher kommen Sie?“ mit „Tschetschenien“ antworten. Sie hoffen nun auf die österreichische Staatsbürgerschaft. Als Stupnig für eine Familie eine Wohnung suchte, sagten ihm Makler: „Ich nehme keine Tschetschenen.“ Mohamad fürchtet, dass Ähnliches den Afghanen droht, sollten die Schlagzeilen nicht aufhören.

Den Tschetschenen eilt nicht nur ein schlechter Ruf voraus, sondern auch ein heldenhafter. Der kann ähnlich weh tun. Zum Beispiel nach einer Bruchlandung beim Turnen. Der feingliedrige 19-jährige HTL-Schüler Abi schildert im Latar Do, wie ihn seine Klassenkameraden zum Salto anfeuern: „Mach doch. Du bist Tschetschene, die trauen sich doch alles.“

Clemens   Neuhold

Clemens Neuhold

Seit 2015 Allrounder in der profil-Innenpolitik. Davor Wiener Zeitung, Migrantenmagazin biber, Kurier-Wirtschaft. Leidenschaftliches Interesse am Einwanderungsland Österreich.