Federica Mogherini, Frans Timmermans, Johannes Hahn, Miro Cerar, Jean-Claude Juncker, Angela Merkel und Donald Tusk in Brüssel.

Wer hat die EU-Flüchtlingspolitik getötet? Wir nicht

Wer hat die EU-Flüchtlingspolitik getötet? Wir nicht

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Wer hat die EU-Flüchtlingspolitik getötet? Die französische Tageszeitung „Le Monde“ prognostiziert bereits, dass die Jahre 2015/2016 von Historikern dereinst als Beginn der Auflösung Europas gesehen würden, sollte nicht auf dem Gipfel im April ein Wunder geschehen. Aber wer trägt die Schuld daran? Wer hat dafür gesorgt, dass die Europäische Union in der Frage der Flüchtlingsströme nicht mehr existent ist, abgelöst von Egoismen der Nationalstaaten oder kleineren Allianzen, die ihre Eigeninteressen bündeln?

profil sucht eine Antwort und leiht sich dafür eine Idee von Bob Dylan. Der Songwriter fragte 1963 in seinem Lied „Who Killed Davey Moore“, wer für den Tod des US-Boxers David S. „Davey“ Moore verantwortlich gewesen sei, der an den Folgen eines Kampfes gestorben war. Sein Gegner, der zu hart zugeschlagen hatte? Sein Manager, der ihn in den Ring geschickt hatte? Das Publikum, das bezahlt hatte, um einen Kampf zu sehen? Im Lied entgegnen alle: „Wir nicht.“ Letztlich kommt heraus, dass es keiner und zugleich jeder war. Weil alle gute Gründe für ihr Handeln hatten und erst die Summe all dieser Handlungen Moore das Leben kostete.

Die Antworten auf die Frage „Wer hat die EU-Flüchtlingspolitik getötet?“ sind dieselben: „Wir nicht.“ Klar steckt dahinter ein Mangel an europäischer Solidarität, aber die meisten Beteiligten handeln aus teils egoistischen, aber nicht zwangsläufig illegitimen Motiven. Hinzu kommt, dass sich Interessenlagen zum Teil erst mit der fortschreitenden Eskalation bildeten, also auch eine Reaktion auf das Scheitern einer gemeinsamen Lösung waren.

Irgendwo in den folgenden Rechtfertigungen versteckt sich die wahre Antwort, wer die Schuldigen sind.

Türkei

Wir nicht, sagen die Türken. „Wir tragen kein Schild mit der Aufschrift ,Idiot‘ auf unserer Stirn“, so der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan. An die drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak hat sein Land in den vergangenen fünf Jahren aufgenommen, ohne dafür nennenswerte Unterstützung der internationalen Gemeinschaft zu bekommen. Lange Zeit haben sich die Einheimischen in höchstem Maße hilfsbereit gegenüber den Kriegsvertriebenen gezeigt. Inzwischen regt sich aber auch unter ihnen Unmut. Und die Situation, in der sich das Land befindet, ist ohnehin kompliziert genug – Stichwort Kurdenkonflikt.

Die EU drängt die Türkei, ihre Grenzen zu Syrien für Flüchtlinge offen zu halten und noch mehr Syrer ins Land zu lassen. Gleichzeitig macht Europa der Regierung in Ankara kein Angebot, ihr einen Teil der Asylwerber abzunehmen. Welches Interesse hätte die Regierung in Ankara also, Flüchtlinge daran zu hindern, in andere Staaten weiterzureisen? „Wir können sie nicht dazu zwingen, bei uns zu bleiben. Wer in der Türkei Zuflucht sucht, ist weiterhin willkommen. Aber denjenigen, die weiterziehen wollen, um in westlichen Ländern eine Zukunft zu suchen, denen werden wir nichts sagen“, so Erdogan.

Wenn das dazu führt, dass der Druck auf die EU steigt und die Verhandlungsposition der Türkei bei anderen Themen gestärkt wird – umso besser. Die drei Milliarden Euro, die Brüssel für Maßnahmen gegen die Flüchtlingskrise versprochen hat, sind nach Angaben der Regierung auch noch nicht eingetroffen. Die Türkei bleibt das Land mit den meisten Flüchtlingen. Ankara ist sich keiner Schuld bewusst.

Griechenland

Wir nicht, sagen die Griechen. „Ich schäme mich“, so Alexis Tsipras. Dem griechischen Premier liegt das Schicksal der Flüchtlinge am Herzen. In einer emotionalen Rede im Oktober des vergangenen Jahres drückte er seine Scham darüber aus, Mitglied einer europäischen Führung zu sein, die unfähig sei, „mit dem menschlichen Drama fertig zu werden“, und in der jeder den Schwarzen Peter an den nächsten weiterreiche.

Hunderttausende Flüchtlinge haben von der Türkei aus die gefährliche Bootsfahrt auf eine der griechischen Inseln unternommen. Hunderte sind dabei ertrunken. Griechenland selbst verzeichnet eine sehr geringe Anzahl an Asylanträgen. Doch seit die österreichische Regierung vergangene Woche gemeinsam mit den Staaten des Westbalkan beschlossen hat, nur noch syrische und irakische Flüchtlinge weiterziehen zu lassen, fürchtet Tsipras, sein Land werde zu einer „Lagerhalle“ für gestrandete Migranten.

Griechenland wird von Österreich und anderen vorgeworfen, seine Grenze nicht zu sichern und die Flüchtlinge nicht zu registrieren. Athen wehrt sich: Wie solle es verhindern, dass kleine Boote an den küstennahen Inseln landen? Vier von fünf der vereinbarten „Hotspots“ zur Registrierung der Flüchtlinge sind nach mehrmonatiger Verzögerung in Betrieb, wenn auch zum Teil unter schaurigen Bedingungen. Athen klagt, es sei überfordert, Massen von Flüchtlingen in Empfang zu nehmen, zu versorgen und zu überprüfen – zumal die EU-Staaten kläglich daran scheitern, die Flüchtlinge gerecht zu verteilen.

Der griechische Staat ist hoffnungslos überfordert, nicht zuletzt deshalb, weil er notorisch pleite ist. Die aktuelle Administration hat, so wie die Vorgängerregierung, kein Geld, um zehntausende Bedürftige unterzubringen. Griechenland ist sich keiner Schuld bewusst.

Italien

Wir nicht, sagen die Italiener. „Mit Blick auf die Flüchtlingsströme hat sich Italien als Vorbild für die Welt erwiesen“, so Italiens Senatspräsident Pietro Grasso. Das Mittelmeerland habe 2015 an die 170.000 Flüchtlinge aufgenommen. Ob diese allerdings tatsächlich in Italien Asylanträge gestellt haben, darüber schweigt die italienische Statistik.

Italien spricht sich jedenfalls für eine europäische Lösung aus, von der das Land nur profitieren kann. Die Schließung von Grenzen, besonders der italienisch-österreichischen durch Österreich, hält Premier Matteo Renzi für „absolut falsch“. Dass nur ganz wenige Flüchtlinge in Italien bleiben wollen und stattdessen nach Norden weiterziehen, ist nicht der Fehler der römischen Regierung. Renzi sagt, ihm sei klar, dass Österreich in einer schwierigen Situation sei. Italien ist sich keiner Schuld bewusst.

Frankreich

Wir nicht, sagen die Franzosen. „Mehr Flüchtlinge können wir nicht aufnehmen“, so Frankreichs Premierminister Manuel Valls Mitte Februar bei der Münchner Sicherheitskonferenz. 30.000 Asylwerber, verteilt über zwei Jahre, das ist Frankreichs Beitrag zu einer gerechten Flüchtlingsverteilung. Allein im Januar dieses Jahres kamen fast doppelt so viele über das Meer nach Griechenland. Ideell unterstützt die französische Regierung eine Willkommenskultur und spricht sich auch für eine gemeinsame europäische Lösung aus. Schließlich handelt es sich um eine sozialistische Alleinregierung. Folglich gehört sie auch dem sogenannten „Klub der Willigen“ an, wenn es um die Bereitschaft geht, Flüchtlinge aufzunehmen. Allerdings kennt diese Bereitschaft Grenzen.

Gleichzeitig fordert Premier Valls, Europa müsse „die Kontrolle über seine Grenzen und seine Migrations- und Asylpolitik wiedererlangen“. Die Vorgangsweise der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, die seit vergangenem Sommer die Grenzen für Flüchtlinge weitgehend offen gehalten hat, kritisiert Valls als „auf Dauer nicht durchzuhalten“.

Woher kommt der forsche Ton gegenüber Berlin? Paris hat mehrere Gründe für seine restriktive Haltung: Die wirtschaftliche Lage ist dauerhaft miserabel, dazu kommen eklatante Probleme bei der Integration bereits im Land lebender Immigranten. Flüchtlinge hausen in elenden Verhältnissen. Zudem haben die islamistischen Terrorattentate vom 13. November 2015 in Paris Angst vor massenhafter Einwanderung geschürt. Und über all diesen Fragen schwebt drohend ein Ereignis: die Präsidentschaftswahl 2017, bei denen Marine Le Pen, die Vorsitzende der rechtspopulistischen Partei Front National, antreten wird. Laut aktuellen Umfragen würden sie und der Kandidat der konservativen Republikaner in die Stichwahl kommen – nicht aber der derzeitige Amtsinhaber, der Sozialist François Hollande.

Soll Hollande durch eine Öffnung der Grenzen Le Pen den Weg in den Präsidentenpalast ebnen? Da Freundlichkeit gegenüber Asylwerbern beim Volk offenbar nicht en vogue ist, setzen er und die Regierung auf law and order: Die Grenzen bleiben wegen der Terrorgefahr dicht, die Flüchtlinge draußen. Frankreich ist sich keiner Schuld bewusst.

Ungarn

Wir nicht, sagen die Ungarn. „Schengen ist ein Gesetz, das gilt!“, so Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán. Er ließ bereits im Oktober des vergangenen Jahres die Schengen-Außengrenzen zu Serbien und Kroatien schließen. Dafür wurde er heftig kritisiert. Gleichzeitig wird nun Griechenland dafür kritisiert, weil es entgegen seinen Verpflichtungen die Schengen-Außengrenze eben nicht „schützt“.

Aus der Perspektive von Premier Orbán hat die Strategie, das Land durch brachiale Abschottung aus der Flüchtlingskrise herauszuhalten, funktioniert. Die Wanderungsrouten verlaufen um Ungarn herum, die Bevölkerung steht hinter dem Regierungschef. Und die Tatsache, dass inzwischen eine Reihe anderer Länder zu einer Politik der geschlossenen Grenzen zurückgekehrt ist – allen voran Österreich, dessen Bundeskanzler Werner Faymann Ungarn noch im vergangenen Sommer mit Nazi-Deutschland verglich – gibt Orbán zusätzlich recht.

Gegen eine verpflichtende Verteilung von Flüchtlingen in Europa setzt sich die mit breiter Mehrheit regierende Fidesz-Partei auch deshalb zur Wehr, weil sie ihrem Konzept von einem ethnisch und konfessionell homogenen Land widerspricht. „Wir können nicht über die Köpfe der Menschen hinweg Entscheidungen treffen, die ihr Leben und jenes künftiger Generationen schwerwiegend ändern. Und die Aufnahmequote würde das Profil Ungarns und Europas verändern – ethnisch, kulturell und religiös“, sagt Orbán, der darin auch eine Gefahr für den gesamten Kontinent sieht. Für ihn gibt es daher keinen Grund, auf eine solidarisch-europäische Linie einzuschwenken.

In ähnlicher Art und Weise gilt das auch für Polen und andere osteuropäische Staaten. Im Übrigen funktioniert das europäische Verteilungssystem ohnehin nicht – und das liegt wahrlich nicht nur an Orbán. Ungarn ist sich keiner Schuld bewusst.

Europäische Union

Wir nicht, sagt die EU-Kommission. „Die Mitgliedsstaaten bewegen sich sehr langsam, obwohl sie eigentlich laufen sollten“, so EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker schon zu Beginn der Flüchtlingskrise. Vergeblich. Alle Rügen an die Adressen der nationalistischen Rechtsausleger wie Viktor Orbán oder Jaroslaw Kazcynski verhallten wirkungslos, alle Vorschläge für eine europäische Gemeinschaftsbewältigung wurden von den Mitgliedsstaaten verschleppt, boykottiert, ignoriert.

Je stärker der „Klub der Willigen“ schrumpfte, umso schwieriger wurde es für die EU, öffentlich große Pläne zu schmieden. Die Gefahr, sich damit lächerlich zu machen, war größer als die Hoffnung auf Realisierung. Falls die Staats- und Regierungschefs irgendwann doch der Meinung sind, die EU sei die geeignete Institution, um ein Flüchtlingskonzept zu erstellen, stünde die Kommission bereit. Die EU ist sich keiner Schuld bewusst.

Balkanländer

Wir nicht, sagen die Balkanländer. „Es geht nicht, dass wir zum Opfer einer nicht abgestimmten Politik der Länder im Norden und der Länder im Süden werden“, so die slowenische Innenministerin Vesna Györkös-Znidar vergangene Woche. Sie brachte damit die Ängste aller Anrainer der Balkan-Route auf den Punkt: Wenn im Norden die Grenzen zugehen, im Süden aber de facto offen bleiben, würden binnen kurzer Zeit Zehn-, wenn nicht gar Hunderttausende Flüchtlinge in Slowenien, Serbien, Kroatien und anderen Staaten stauen – mit unmittelbaren humanitären, logistischen, finanziellen und politischen Folgen.

Bislang haben sich die Balkanländer immer für eine gesamteuropäische Lösung ausgesprochen. Da diese nicht in Sicht ist, folgen sie inzwischen dem Beispiel Österreichs. Was Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) als „Kettenreaktion der Vernunft“ bezeichnet, führt vorerst dazu, dass Serbien sein Militär in Alarmbereitschaft versetzt hat und an der mazedonisch-griechischen Grenze chaotische Zustände herrschen.

Wenn die reichen Aufnahmeländer wie Schweden, Deutschland und Österreich aus Überforderung die Flüchtlingszahlen begrenzen, können die weit ärmeren Balkanländer dies nicht ausgleichen. Sie sind sich keiner Schuld bewusst.

Deutschland

Wir nicht, sagen die Deutschen. „Wir schaffen das“, so Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel im September vergangenen Jahres. Inzwischen steht sie mit dieser Überzeugung allein da. Schweden kann nicht mehr, Österreich verfolgt einen anderen Plan, alle anderen – kleine Staaten wie die Benelux-Länder ausgenommen – haben sich nie als Aufnahmeländer gesehen.

Auch in ihrem eigenen Land ist Merkel zusehends isoliert. Die Schwesterpartei CSU opponiert offen gegen ihren Kurs, rechts erstarkt die Alternative für Deutschland (AfD). Deutschland hat Grenzkontrollen eingeführt und weist Migranten aus Staaten wie etwa Marokko ab.

Die Regierung in Berlin hat sich für eine gemeinsame europäische Politik eingesetzt und die Grenzen so lange offen gehalten wie es ihr Regierung möglich schien. Langsam geht der Balken runter. Deutschland ist sich keiner Schuld bewusst.

Österreich

Wir nicht, sagen die Österreicher. „Die Flüchtlingskrise ist nur menschlich zu bewältigen“, so Bundeskanzler Werner Faymann. Also hielt Österreich seine Grenzen lange Zeit offen, schleuste die Mehrzahl der Flüchtlinge Richtung Deutschland und Schweden weiter und nahm selbst die stattliche Zahl von rund 90.000 Asylanträgen entgegen.

Dann jedoch stoppte Schwedens linke Regierung schweren Herzens die flüchtlingsfreundliche Politik und führte Grenzkontrollen ein. Österreich folgte und setzte eine Obergrenze: 37.500 Asylanträge für das Jahr 2016. Die Zahl übertrifft – gerechnet auf die Einwohnerzahl Österreichs – die Aufnahmebereitschaft fast aller EU-Staaten. Dennoch hagelte es Proteste. Diese wurden noch stärker, als die Regierung in Wien auch noch die Zahl 80 als Obergrenze für Asylwerber pro Tag einführte.

Doch Österreich vereint die Probleme mehrerer Staaten auf kleinem Raum: Es ist Zielland wie Schweden und Deutschland, Transitland wie Griechenland und die Balkanstaaten, und es lebt mit der Gefahr, dass eine rechtspopulistische Partei auf Platz eins vorrückt, wie in Frankreich. Gleichzeitig nützten die flehend vorgetragenen Bitten der Bundesregierung, eine europäische Verteilungslösung zu etablieren, nichts.

Österreich und Deutschland könnten die Flüchtlingskrise nicht allein bewältigen, sagt Faymann. Österreich ist sich keiner Schuld bewusst.

Wer also hat die europäische Flüchtlingspolitik getötet?