Alt-Bundespräsident Kurt Waldheim bei einem Interview im Jahr 2003.

Der Fall Kurt Waldheim: Die unvollständige Biografie

Hubertus Czernin verfasste wenige Wochen vor seinem Tod im Juni 2006 für das Buch "1986. Das Jahr, das Österreich veränderte" eine Analyse des von ihm in profil aufgedeckten Falles Waldheim. Nachstehend ein Auszug. Dieser Artikel erschien erstmals am 18. Juni 2007.

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"Der Fall Waldheim unterschied sich von früheren Auseinandersetzungen um die österreichische Verwicklung in den Nationalsozialismus bzw. die NS-Belastung heimischer Politiker durch eine wesentlich breitere und emotionalere Debatte in der Bevölkerung. Die Waldheim-Affäre schien niemanden kaltzulassen. Sicherlich lag das auch an der Tatsache, dass eine so belastende Diskussion nur schwer in einem Wahlkampf zu führen ist, weil dieser ohne Ansehung des Debatteninhalts bereits die politischen Lager definiert hat. Hier gibt es nur Schwarz und Weiß, alle Versuche, die vielfältigen Schattierungen des Falls zu zeichnen, waren deswegen von vornherein zum Scheitern verurteilt.

Aber die Debatte um Waldheim hatte ab 1986 einen noch wesentlich tiefer gehenden Urgrund: Zum ersten Mal in der Zweiten Republik wurde in den Debatten um Waldheim ein geradezu verstörender Generationenkonflikt sichtbar. Auf der einen Seite erstand eine Jugendbewegung, getragen von den damals noch nicht ganz 40-jährigen 68ern, auf der anderen Seite formierte sich die Generation der ehemaligen Wehrmachtssoldaten, die, getrieben von der politischen Propaganda, sich plötzlich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert sah. Kaum einer wollte begreifen, dass es im Fall Waldheim, sieht man von den bedauerlich zahlreichen Fehlleistungen beider Lager ab, hauptsächlich um dessen Umgang mit der eigenen Biografie ging.

Unter den vielen Erklärungen und Rechtfertigungen zeigte sich ein dünner Boden, aus dem die seinerzeitige Begeisterung, aber auch Kriegslust herausbrach.

Auf einmal wurde die kollektive Erinnerung von Hitlers Soldaten herausgefordert, die in Waldheims halb entschuldigendem, halb erklärendem Begriff von der Pflichterfüllung gipfelte. Die überwältigende Mehrheit der Wehrmachtsgeneration hatte sich in den Nachkriegsjahrzehnten längst selbst freigesprochen, oft sah sie sich in völliger Verkennung der historischen Wirklichkeit als ein Opfer des Nationalsozialismus und nicht als dessen maßgebliche Stütze. Kurt Waldheim war einer von ihnen, aus ihrer Sicht daher ebenso unschuldig wie sie selbst.

Indirekt führte die Auseinandersetzung der Waldheim-Jahre aber zu einem großen gesellschaftspolitischen Erfolg: In bislang unbekannter Intensität nahm sich die Zeitgeschichtsforschung der Rolle der Wehrmacht im Dritten Reich an, aber nicht im Geist der Schlachten-und Kriegshistoriker, die bis weit in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts an der Universität Wien vom Ordinarius für Zeitgeschichte, Ludwig Jedlicka, einem ehemaligen hochrangigen NS-Studentenfunktionär, repräsentiert wurden, der viele seiner Studenten (so auch mich) mit elendslangen, wert- und ideologiefreien Kampf- und Strategieschilderungen ermüdet hatte. Jetzt ging es um die tatsächliche Rolle der Wehrmacht, ihrer Stabsoffiziere und auch der "Frontschweine" in Hitler-Deutschland, ihre Verbrechen wurden offen angesprochen, die nach traditioneller Sicht bis dahin immer den SS-Verbänden oder der Gestapo zugeschoben worden waren.

Mit dem Fall Waldheim brach diese Eiterbeule unvermutet auf. Die Feldpost vieler Soldaten zeichnete - neben individueller Verzweiflung und Abstumpfung - oft ein ganz anderes Bild einer nun gar nicht mehr so anständigen Wehrmacht. Unter den vielen Erklärungen und Rechtfertigungen zeigte sich ein dünner Boden, aus dem die seinerzeitige Begeisterung, aber auch Kriegslust herausbrach."