Islamismus: Die schwierige Umsetzung der "Deradikalisierung"

Islamismus. Die Zauberformel "Deradikalisierung" und ihre schwierige praktische Umsetzung

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Das alte Jahr macht seine letzten Schnaufer. 60 Fälle sind im Aktenordner abgeheftet. Ahmer S.* sitzt am runden Glastisch unter dem Blätterdach einer Birkenfeige und tastet mit seiner beringten rechten Hand nach dem Mobiltelefon, als müsse er sich vergewissern, dass es noch da ist. Seit zwei Stunden schweigt es. Im Zimmer nebenan telefoniert seine Kollegin mit dem Verfassungsschutz.

So beschaulich wie am Dienstag vergangener Woche geht es hinter der Fassade der Deradikalisierungs-Hotline nicht immer zu. Erst gestern hatte ein Ehepaar aus Ex-Jugoslawien in dem kleinen Büro, dessen Adresse geheim bleiben soll, seinen Kummer mit dem 17-jährigen Sohn ausgebreitet: Er war vor Monaten im Streit ausgezogen. Das Wenige, das seine Eltern seither über ihn in Erfahrung brachten, war, dass er neuerdings zu Allah betet und sich einen islamischen Namen zugelegt hat. Abdul will er gerufen werden.

Anfang Dezember nahmen die Mitarbeiter der im Familienministerium angesiedelten Deradikalisierungs-Hotline ihre Arbeit auf. Meist sind es Mütter, die ihre Nummer wählen und hoffen, dass jemand abhebt, der ihnen sagen kann, wie ihre Kinder wieder normal werden. Deradikalisierung klingt verheißungsvoll nach einer Methode, um Bärte, Gesichtsschleier und extreme Gedanken ungeschehen zu machen. In Wahrheit umreißt das Wort ein Experimentierfeld.

Seit den Terroranschlägen in New York 2001, Madrid 2004 und London 2005 sprossen rund um den Globus Deradikalisierungsprojekte, wie sie unterschiedlicher kaum sein könnten: In Indonesien versuchen enthaftete Selbstmord-Attentäter, in Schulen ein abschreckendes Zeugnis von ihren persönlichen Irrwegen abzulegen. In Saudi-Arabien werden Dschihadisten in Bootcamps religiös umerzogen. In der dänischen Hafenstadt Aarhus landen Syrien-Rückkehrer, denen keine Verbrechen nachgewiesen werden können, in polizeilich begleiteten Mentoring-Programmen. In Deutschland, wo die heimische Deradikalisierungs-Hotline Anleihen nahm, werden Angehörige und Lehrerinnen im Umgang mit gefährdeten Jugendlichen beraten und unterstützt.

Bis heute existieren kaum belastbare Befunde, welche Mittel richtig eingesetzt sind. "Wir sind dabei, das Wissen zusammenzutragen, wie Deradikalisierung funktioniert“, sagt Edith Schlaffer. Seit die 64-jährige Sozialwissenschafterin die Gräuel in den Vergewaltigungslagern Bosniens und den couragierten Widerstand von Frauen unter der Knute der afghanischen Taliban erforschte, ließ sie die Idee nicht mehr los, dass die brennenden Sicherheitsprobleme der Zeit ohne Frauen nicht zu lösen sind: "Sie wissen, was sich in der Bevölkerung abspielt. Militärs und Diplomaten sind wichtig, doch sie haben den Kontakt zur Zivilgesellschaft zum Teil verloren.“

Am 26. November 2008 hatte der von ihr gegründete Verein "Women without Borders“ Vertreterinnen aus Kolumbien, Israel, dem Irak und einigen weiteren Ländern in einem kleinen Palais in Wien zur Plattform "Sisters against violent extremism“ versammelt. Am selben Tag explodierten in der indischen Metropole Mumbai mehrere Bomben; kleine, versprengte Terror-Kommandos, die in Pakistan ausgebildet worden waren, feuerten in Menschenansammlungen und nahmen Hotelgäste als Geiseln. Schlaffer reiste unverzüglich an den Ort des Geschehens und hörte seither nicht mehr auf, das weltweite Terrain der Terrorprävention zu erkunden.

Sie traf Bombenleger und aus dem Gefängnis entlassene Dschihadisten, befragte Mütter von Selbstmordattentätern in Pakistan, Nigeria, Nordirland, Palästina und Israel und sammelte Stoff für viele Romane. Schlaffer lernte über die Jahre, dass Radikalisierungen stets von speziellen Umständen und oft grotesken Zufällen abhängen und es keinen Königsweg zurück gibt, sondern viele, ausschließlich steinige Pfade.

Frauen wie Aicha el-Wafi wurden ihre Verbündeten. Sie ist die Mutter von Zacarias Moussaoui, der als Ersatzmann für den Anschlag vom 11. September 2001 von einem US-Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Kurz vor den Anschlägen auf das World Trade Center war er verhaftet worden und sitzt seither im Hochsicherheitstrakt in Colorado. "Mütter von Bombenlegern und Gotteskriegern sind akribische Feldforscherinnen“, sagt Schlaffer. Manche führten über jedes Detail der oft rasenden Radikalisierung ihrer Kinder Tagebuch.

Vicky Ibrahim sieht nicht aus wie eine Frau, bei der das Publikum vor lauter Konzentration zu atmen vergisst. Vor wenigen Wochen kam sie auf Einladung Schlaffers zu einem Workshop nach Wien. Das graue, biedere Äußere der Britin, ihr Kurzhaarschnitt, das kleine Kreuz, das sie um den Hals trägt, passen zu ihrem früheren Leben als Gesundheitsbeamtin, das im April 2008 kollabierte, als sich ihr damals 19-jähriger Sohn in einem Einkaufszentrum in Bristol in die Luft jagen wollte. Er war zum Islam konvertiert und hatte sich über das Internet radikalisiert. Sein Vorhaben war im letzten Moment vereitelt worden. Die Polizei fand eine selbstgebastelte Weste mit Sprengstoff in seinem Zimmer.

Seither ist Ibrahim eine gefragte Kapazität für Deradikalisierung. Immer noch steigen ihr Tränen hoch, wenn sie von den Anfängen erzählt. Sie brachte Bücher ins Gefängnis, hielt ein Gespräch über Alltägliches in Gang, ließ ihren Sohn spüren, dass sie zu ihm hält, und verlor fallweise die Hoffnung, jemals zu ihm durchzudringen. Zwei Jahre lang war es unmöglich, über seinen Hass auf den Westen oder gar den Tag x zu reden. Erst als er in eine andere Haftanstalt verlegt wurde, war er bereit, sich mit einem Imam auszutauschen. Das war die Wende. Er begann Keyboard zu spielen, studierte Deutsch, lernte, über den Tag hinauszudenken. Wenn er eine Chance hat, dem Extremismus abzuschwören, dann nur deshalb, weil vor ihm ein Leben liegt. Davon ist Ibrahim überzeugt: "Attentäter, die lebenslang sitzen, haben nichts mehr zu verlieren.“

Deradikalisierung heißt, den Kontaktfaden nicht abreißen lassen. Das ist auf Konferenzen zu hören, in Berichten nachzulesen, das predigen Jugendarbeiter. Die Mutter eines deutschen Syrien-Kämpfers hat es ebenso erfahren wie die Somalierin aus Schweden, die vergeblich versuchte, ihre 19-jährige Tochter davon abzubringen, einen Radikalen zu heiraten, der sie über Skype bezaubert hatte. Als ihm die Studentin nach Syrien folgte, zog sie ein Dutzend Mädchen und Burschen aus der muslimischen Gemeinde in Stockholm mit sich fort. Einige sind inzwischen tot. Ihre Tochter schickt immer noch Nachrichten, die von Bomben und Krieg handeln. "Das Paradies ist weit“, schrieb sie einmal.

Schlaffer hat viele WhatsApp-Botschaften und SMS aus Syrien und dem Irak gesehen. Oft geht es darin um Essen oder die Kälte, manchmal sind es Hilferufe: "Viele junge Frauen wollen nach sechs Monaten zurück.“ Noch hat sich niemand die Mühe gemacht, alle diese Nachrichten auszuwerten und für die Deradikalisierung zu nützen. Sie könnten helfen, Warnsignale zu entschlüsseln, bevor es zu spät ist, und anderen ersparen, was einer kanadischen Mutter widerfuhr. Ihr Ältester hatte sich als Grenzgänger in der kanadischen Gesellschaft empfunden und zunächst im Christentum Halt gesucht. Schließlich entflammte er für den Islam. Seine Mutter, eine säkular gesinnte Buchhalterin, war fast erleichtert. Endlich hatte ihr Sohn Orientierung gefunden. Erst als er sich in obskuren Verschwörungstheorien rund um den 11. September verstieg, wurde ihr klar, dass der 21-Jährige einen Weg gesucht hatte, mit seinen psychischen Problemen fertig zu werden. Innerhalb weniger Wochen stand er auf dem Schlachtfeld. Er überlebte dort nicht lange.

In Pakistan, Indien, Kaschmir, Nigeria und Tadschikistan gründete Schlaffers Verein Mütterschulen, um das Selbstbewusstsein von Frauen zu heben. Sie sind die ersten Anlaufstellen, wenn der Nachwuchs in den Extremismus kippt, wie Schlaffer in einer länderübergreifenden Studie herausfand. Nun will sie eine europaweite Plattform aufstellen und über die Mütter "auch an die Väter und wichtige Gruppen der Zivilgesellschaft herankommen, um radikalen Vorbetern auch hier etwas entgegenzusetzen“.

Viele Familien zerreißen, wenn sich ein Kind radikalisiert. Ihr Mann sei am Tod des Sohnes zerbrochen, berichtete eine Belgierin beim Workshop in Wien: "Er ist mit ihm in Syrien gefallen.“ Eine Mutter, deren Tochter einem IS-Anwerber in die Hände fiel, sagte: "Jeden Tag, an dem ich ihren Bruder davon abhalten kann, sie in Syrien zu suchen, ist ein erfolgreicher Tag.“ Ähnliche Sätze fallen inzwischen auch am Telefon der heimischen Deradikalisierungshotline. Kürzlich meldete sich eine Mutter, deren Sohn aus Syrien zurückkehrte. Nun wird die Frau fast verrückt vor Angst, er könnte seine bald 18-jährige Schwester ebenfalls radikalisieren.

In diesen und ähnlichen Fällen gibt die Leiterin der mobilen Jugendeinrichtung Backbone, Manuela Synek, einen Rat, der zunächst trivial klingt: "Dranbleiben, die Jugendlichen ernst nehmen, nicht abschreiben.“ Doch diese Übung kann Eltern und Lehrer an ihre Grenzen treiben.

Verena Fabris, Leiterin der Deradikalisierungs-Hotline knüpft im Hintergrund an einem bundesweiten Netzwerk, in das alle eingebunden werden sollen, die zum Thema etwas beitragen können: in Wien die Magistratsabteilungen für Integration, Jugend und Familie, der Stadtschulrat, die Kinder- und Jugendanwaltschaft. Lehrer, Justizwache und Polizisten werden trainiert, Anzeichen für Radikalisierungen zu deuten. Die Verfassungsschützer im Innenministerium nehmen sich der Rückkehrer aus Syrien an.

So viel lässt sich über Deradikalisierung generell inzwischen sagen: Mit Druck, Gewalt und Drohungen scheucht man den Nachwuchs, der vielleicht nur mit popkulturellen Facetten des Dschihad kokettiert, IS-Propagandisten geradezu in die Arme. Die Geschichte von Sabina und Samra, die zur IS durchbrannten, kann dafür als trauriges Lehrbeispiel dienen: Nicht genug, dass die bosnischen Mädchen von der Schule flogen, tauchten in den Medien auch noch gefälschte Interviews auf, in denen sie flehten, nach Hause geholt zu werden. Gleichzeitig bekamen ihre Freunde über WhatsApp Bilder geschickt, die das Gegenteil bezeugten: Schaut, uns geht’s gut, wir sind perfekt geschminkt und sitzen in einer tollen Wohnung! Kein Wunder, dass bei manchen die Botschaft hängen blieb, dass die Welt aus Freunden und Feinden besteht und westliche Medien eben lügen.

Meist ist Religion nur die Ersatzdroge für das, was Burschen und Mädchen wirklich suchen: Halt, Orientierung, Bedeutung oder - ganz praktisch - eine Lehrstelle. Kinder aus katholischen oder muslimischen Familien können ebenso verloren gehen wie der Nachwuchs aus säkularem Milieu. Was sich allerdings durchzieht, sind Väter, die entweder nicht da oder unfähig sind, Gefühle auszudrücken.

"Hinter jeder Radikalisierung steht eine Entfremdungserfahrung“, konstatiert Politikwissenschafter Thomas Schmidinger. Mitunter sei das konkrete Problem nicht gleich auf den ersten Blick zu erkennen. Gemeinsam mit dem Pädagogen Moussa Al-Hassan Diaw gründete Schmidinger den Verein "Sozialer Zusammenhalt“, der sich akutell mit dem ungewöhnlichen Fall einer österreichischen Mittelstands-Patchworkfamilie befasst. Der Bub war nach der Trennung bei der Mutter geblieben, die mit ihm überfordert war. Mit 13 Jahren übersiedelte er in die neue Familie des Vaters, fand sich hier aber nicht zurecht. Er begann mit jungen Tschetschenen abzuhängen und machte sich ihren Wunsch zu eigen, in Syrien zu kämpfen. "Bis jetzt hat er ihn nicht umgesetzt, aber er hat sich radikalisiert“, so Schmidinger.

Am glücklichen Ende einer Deradikalisierung muss nicht in jedem Fall ein grundlegend veränderter Mensch herausspringen. Man kann die Latte auch niedriger legen. Versteht man unter Deradikalisierung, dass jemand der Gewalt abschwört, darf er sich - so Diaw - "von der Welt auch zurückziehen und ein konservativer Muslim sein, solange er niemanden bedroht, der nicht so leben will, wie er selbst“. Diaw hilft mit seiner Expertise aus, wenn es in Radikalisierungs-Verdachtsfällen um weltanschauliche Fragen geht.

Etwas weniger Hysterie kann nicht schaden, findet auch die Leiterin der Deradikalisierungs-Hotline, Fabris: "Eltern sollten mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten. Sätze wie ‚Ich prügle dir den Allah aus dem Kopf‘ sind absolut kontraproduktiv.“ Vergangene Woche war ausnahmsweise der Glücksfall einer Mutter am Telefon. Ihre 15-jährige Tochter hatte ihr soeben eröffnet, dass sie Muslimin geworden sei. Die Frau nahm die Neuigkeit gelassen, wollte sich nun aber näher mit der unbekannten Religion befassen. Mag sein, dass ihre Tochter provoziert. Vielleicht hatte das Mädchen eine religiöse Erweckung. Gesetzt den schlimmsten Fall, sie hat sich in einen IS-Anwerber verliebt, macht es ihr die Reaktion der Mutter leichter, von ihm auch wieder abzulassen. Fabris: "Besser kann man es in dieser Phase nicht machen.“

*) Name von der Redaktion geändert

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges