Das Flüchtlingsquartier in Atzgersdorf

Liesing: Das Porträt einer verlorenen Gegend

Das umstrittene Flüchtlingsquartier in Liesing liegt in einem verlorenen Teil Wiens. Porträt einer trostlosen Gegend.

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Auf der Gasse vor dem Haus regt sich nichts. In ein paar Fenstern des ehemaligen Bürokomplexes brennt Licht. Ein Polizeiauto umkreist das Grundstück. Beim Eingang sitzen Security-Männer in grellen Warnwesten.

Drüben im Gemeindebau ist an diesem düsteren Samstagnachmittag auch nicht viel los. Eine Frau führt ihren Hund spazieren, ein Mann in Jogginghose steht auf einem Balkon und raucht.

Die Ziedlergasse trennt diese beiden Welten der Wiener Vorstadt. Auf der einen Seite sitzen derzeit rund 50 Flüchtlinge, meist Familien, großteils Syrer. Auf der anderen fürchten sich die rund 900 Mieter des Gemeindebaus Radfux-Hof vor den 700 Zuzüglern, die demnächst für ein Jahr einen Schlafplatz in dem verlassenen Bürohaus finden sollen.

"Die Nachbarn sind jetzt schon verzweifelt und voller Angst“, schrieb ein Gemeindebau-Bewohner an den Bundeskanzler. "Pulverfass Liesing“ titelte die "Krone“, "Linke und Regierung an den Galgen!!!!“ hinterließ ein Sprayer an der Außenwand des Flüchtlingsheims.

6000 Unterschriften haben die Initiatoren einer einschlägigen Bürgerinitiative bereits gesammelt. Ihr natürlicher Partner ist die FPÖ. Die Strache-Partei hatte hier schon im vergangenen Oktober bei den Wiener Landtagswahlen eine satte Mehrheit geholt: 46 Prozent der Bewohner des Radfux-Hofes (der Gemeindebau trägt den Namen des ersten Bezirksvorstehers nach 1945) wählten die FPÖ, die Sozialdemokraten rutschten auf 33 Prozent ab - so wie überall in Wien, wo die Stadt besonders hoffnungslos wirkt.

Als die ersten Mieter 1962 diese Gemeindewohnungen bezogen, war dies keineswegs so. Die Ziedlergasse hieß damals Feldgasse, weil sie durch Wiesen und Weingärten führte, die Kinder hatten hinter der Wohnhausanlage viel Auslauf.

In bequemer Gehweite gab es gute Arbeitgeber. Gleich neben dem Gemeindebau stand die Sargfabrik Max Koffmann. Ein Stück Richtung Südbahn erstreckte sich die 1920 gegründete Armaturen- und Maschinenfabrik Hübner VAMAG mit ihrer gewaltigen Gießerei, in der auch die Wiener Hydranten hergestellt wurden. Ebenfalls in Sichtweite des Radfux-Hofes standen die Anlagen des Atzgersdorfer Unilever-Werks, das "Bona“-Öl, "Ceres“-Fett und "Thea“-Margarine produzierte. Der Konzern unterhielt ein eigenes Werksbad für die Familien der Arbeiter. Zu Weihnachten gab es schöne Lebensmitteldeputate.

Im Gemeindebau selbst kümmerte sich der "Konsum“ um die Nahversorgung. Zu lokaler Berühmtheit schaffte es der ebenfalls im Bau untergebrachte "Salon Erich“, dessen Besitzer sich auf den damals hochmodernen "Messerhaarschnitt“ für Herren spezialisiert hatte.

Unweit des Gemeindebaus lag der Sportplatz, der gleich von zwei örtlichen Fußballvereinen bespielt wurde: "Vorwärts Atzgersdorf“ und "Sportvereinigung Atzgersdorf“. Wenn die beiden Mannschaften in der Meisterschaft der Wiener 1. Klasse A aufeinandertrafen, waren Raufereien obligat.

Fabrikshallen statt Kleingärten

Die Wiesen, Weingärten und G’stättn an der Hinterseite des Radfux-Hofes verschwanden allmählich. Auch Kleingartensiedlungen wurden geräumt. An ihrer Stelle zog man in den 1980er- und 1990er-Jahren Fertigteil-Fabrikshallen hoch. Sie unterschieden sich deutlich von den pittoresken Industrie-Ziegelbauten der Sargfabrik Koffmann und der Gießerei VAMAG, aber sie gaben den Leuten Arbeit. Auch das Bürohaus, in dem nun Flüchtlinge untergebracht werden, entstand damals.

Da die neuen Unternehmen eine bessere Verkehrsanbindung benötigten, wurde der Verlauf der Atzgersdorfer Straße geändert. Damit lag nun hinter dem Gemeindebau eine stark befahrene Durchzugsstraße. Noch intensiver war der Verkehr auf der Breitenfurter Straße, welche die andere Seite des Hofes begrenzt. Der starke Bevölkerungszuwachs in den am Stadtrand gelegenen Bezirksteilen Liesings und die schwache Öffi-Infrastruktur (die U6 verläuft weitab der Bezirkszentren) hatten den Autoverkehr immens anschwellen lassen.

Abhilfe wurde geschaffen, indem man Atzgersdorf mit zwei Hauptdurchzugsstraßen durchpflügte: die Breitenfurter Straße und die parallel dazu verlaufende Brunner Straße. Das alte Straßendorf musste den neuen Plänen für einen zügigeren Autoverkehr weichen. Auch eine mittelalterliche Schmiede wurde planiert. In ihr hatte Ingenieur Hanns Hörbiger, der Stammvater des Schauspieler-Clans, seine Werkstatt, und hier hat er das berühmte Hörbiger-Ventil erfunden. Heute kann man hier schrägparken.

Die kleinen Geschäfte wurden abgerissen oder sie schlossen, weil sich eine Verkehrsschlucht wie die Breitenfurter Straße zwar für grelle Puffs, ölige Mechanikerwerkstätten und flächige Baustoffmärkte eignet, aber nicht für Fleischhauer und Gemüsehändler.

So war sie eben, die neue Zeit.

Und schließlich hatte Atzgersdorf, der stadtnächste und seit jeher ärmlichste Bezirksteil von Liesing, der modernen Zeit ja auch einiges zu verdanken. Das hier war immer Kleinhäusler-Land gewesen. Zwei Mal hatten es die Türken verwüstet, zwei Mal wurde es von der Pest entvölkert, Cholera und Typhus schlugen alle zehn Jahre zu. Erst als 1841 die Südbahn auf halbem Weg zwischen Atzgersdorf und der weit nobleren Weinbaugemeinde Mauer ihre Gleise legte, war es bergauf gegangen. Textilbetriebe kamen, sogar eine Klavierfabrik wurde gebaut.

Auf einer Gänseheide am Liesingbach entstand 1920 ein neuer Dorfteil, nachdem sich dort die Automobilfabrik Perl (später Gräf & Stift) angesiedelt hatte. Die Wohnungen hatten Küche und ein Zimmer, Wasser gab es am Gang, das Plumpsklo stand im Hof. Das war immer noch besser als die Keuschen, aus denen die meisten Arbeiter kamen.

Mehrheit für die FPÖ

Nach 1945 wurden die Gassen dieses Atzgersdorfer Metallarbeiterviertels nach ermordeten Widerstandskämpfern benannt. Bei der Wahl im Vorjahr hatte die FPÖ auch hier die Mehrheit.

Als Erster der großen Betriebe machte die VAMAG dicht. Ihre markanten Ziegelbauten rotteten noch viele Jahre vor sich hin, bevor sie ein Steinschredder zu Schutt mahlte. Bis heute deckt eine gewaltige Halde das planierte Gelände. Weht Westwind, bläst er den roten Staub bis zum Radfux-Hof. Unilever schloss sein Atzgersdorfer Werk im Jahr 2005: nicht mehr rentabel. Auch hier erstreckt sich seit Jahren eine Schutthalde. Die Sargfabrik gab 2013 ihren Betrieb auf, durfte aber nicht abgerissen werden; sie steht unter Denkmalschutz. Es gab Pläne für eine kulturelle Nutzung, konkretisiert hat sich das nie. Inzwischen verfällt das Gebäude.

Den "Konsum“ gibt es schon lange nicht mehr. Erich, der Messerhaarschneider, ist wohl im Friseurs-Himmel, sein "Salon“ seit Jahrzehnten mit Rollläden verschlagen. Die Atzgersdorfer Fußballvereine haben ihren Spielbetrieb eingestellt.

Die Tankstelle neben dem Radfux-Hof hat schon vor langer Zeit geschlossen, aber niemand machte sich die Mühe, sie ganz zu beseitigen. Heute sprießt Unkraut zwischen den Betonresten. In einem der nicht mehr genutzten Fabriksgebäude hatte sich vor einigen Jahren ein Laden mit durchaus interessanten Design-Möbelstücken eingemietet. Erwartungsgemäß kam das Geschäft nie in Gang, dieser Tage wird auch dieses Gebäude geschreddert.

Am schlimmsten hat es die schnell hingeworfenen Fertigteilhallen aus den 1980er-Jahren erwischt. Sie sind längst außer Betrieb; Zeit, Wind und Wetter setzen ihnen besonders zu. An einigen der Industrieruinen prangt der hoffnungsvolle Hinweis, sie seien zu vermieten.

Zu gebrauchen war nur ein Gebäude: jenes, in das nun die Flüchtlinge einquartiert werden sollen. Und das sehen viele Bewohner des Gemeindebaus in dieser verlorenen Gegend einfach nicht ein.