UNHCR-Expertin Melita Sunjic: "Natürlich muss sich die Lage vor Ort verbessern."

Die Mythenzertrümmerin: UNHCR-Expertin Sunjic über Lügen auf Flüchtlingsrouten

Die Mythenzertrümmerin: UNHCR-Expertin Sunjic über Lügen auf Flüchtlingsrouten

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Ganz geheuer ist es ihr nicht, dass sich neuerdings sogar das britische Innenministerium von ihr erklären lässt, wie Flüchtlinge in die Fänge von Schleppern geraten. Melita Sunjic, Expertin der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, hat sich diese Rolle nicht wirklich ausgesucht. Sie kam ihr eher in die Quere, als sie Kampagnen entwarf, die Flüchtlingen und Migranten klarmachen sollten, was sie in Europa erwartet. Falsche Vorstellungen, gefährliche Halbwahrheiten und bewusst ausgestreute Lügen säumten ihren Weg. Dagegen wollte Sunjic belastbare Fakten stellen. Nicht Abschreckung sei das Ziel gewesen, sagt sie, sondern eine „realistische Basis zu schaffen, damit Menschen abwägen können, ob sie gehen oder bleiben sollen“.

Die gelernte Journalistin reiste Somalis und Eritreer entgegen, sammelte ihre Geschichten und gewann nebenbei profunde Einsichten in das ruchlose Geschäft der Schlepper. Daraus entstand die Online-Kampagne tellingtherealstory.org. Die Mission schien erfüllt. Sunjic übersiedelte als stellvertretende Leiterin des UNHCR-Büros nach Moskau. Doch als 2015 Zehntausende Syrer, Iraker und Afghanen auf der Balkanroute nach Norden wanderten, war die Kommunikationsexpertin erneut gefragt. Sie betraute ein Team, das die Sprachen der Flüchtlinge beherrschte und das Treiben in den sozialen Medien beobachtete: Praktiken, Routen, Preise und Trends lagen offen da. Die Erkenntnisse flossen in wöchentliche Berichte ein, die bald die Aufmerksamkeit von Schlepperbekämpfern erregten. Anfang des Jahres wanderte das Monitoring zur Europäischen Asylbehörde (EASO) nach Malta.

Interview: Edith Meinhart, Foto: Michael Rausch-Schott

profil: Sie erforschen das Schlepperwesen, ist das nicht eher Polizeiarbeit? Melita Sunjic: Ich bin auf Kampagnen spezialisiert, die Flüchtlinge in den Herkunftsregionen erreichen. Vor drei Jahren klopfte die EU an, weil man einen Weg suchte, Flüchtlinge in Libyen von der gefährlichen Reise nach Europa abzuhalten. Da habe ich begonnen, mich mit Schleppern zu beschäftigen. Ich wollte wissen, mit welchen Bildern sie operieren. profil: Wie haben Sie das herausgefunden? Sunjic: Ich bin hingeflogen, um Somalis und Eritreer zu interviewen. Sie erzählten von Geiselnahmen, Folter, Vergewaltigungen, Lösegeld-Erpressungen und Toten. Mir war schnell klar, dass hinter ihnen die Hölle lag und es für sie kein Zurück gab.

profil: Was wussten sie über Europa? Sunjic: Ihre wichtigste Informationsquelle waren Schlepper, die ihnen das Leben hier in den schönsten Farben ausmalten. profil: Da konnten Sie vermutlich einiges zurechtrücken. Hat man Ihnen geglaubt? Sunjic: Nein, denn die zweite Informationsquelle waren jene, die es nach Europa geschafft hatten und auf Facebook Bilder von großen Autos, schönen Häusern und sauberen Straßen posteten und darunter schrieben: Ich verdiene 700 Euro im Monat. profil: Dass von diesem Betrag nach Abzug von Miete und Strom fast nichts zum Leben bleibt, ließe sich leicht klarstellen. Sunjic: Wenn das ein, zwei Leute versuchen, stehen sie entweder als Lügner oder als Verlierer da. Deshalb haben wir begonnen, die Geschichten von rund 40 Menschen mit der Kamera aufzuzeichnen – Älteren, Jüngeren, Männern und Frauen – und die Videos auf der Website tellingtherealstory.org zu veröffentlichen. Wenn ein Mann seine durch Folter verstümmelten Hände in die Kamera hält, ist das glaubwürdiger als weiße Experten, die vor Schleppern warnen.

Die Alten sind zufrieden, dass sie in Sicherheit sind, die Jungen wollen weiter.

profil: Wer schaut sich die Filme an? Sunjic: Sie sind seit zehn Monaten online und wurden von 3,4 Millionen Menschen angeklickt. Natürlich informieren sich auch Journalisten und NGOs. Aber auf Facebook sehen wir, dass sie jeden Monat von 900.000 Menschen in Somalia, Eritrea, Äthiopien oder Ägypten abgerufen werden. Inzwischen posten Flüchtlinge darunter: „Mir ist das Gleiche passiert!“ Erst diese Debatte in der Community kann den Mythos vom paradiesischen Westen durchbrechen. profil: Millionen Flüchtlinge warten in Lagern im Sudan oder in Äthiopien noch auf ihre Chance. Sunjic: Die Alten sind zufrieden, dass sie in Sicherheit sind, die Jungen wollen weiter. Wir arbeiten in den Camps mit Lehrern, Jugendbetreuern oder Frauenvereinen zusammen. In Äthiopien wetteifern WhatsApp-Gruppen inzwischen, wer die meisten Jugendlichen von tahrib – der Reise nach Europa – abhält.

profil: Hängt letztlich nicht alles davon ab, welche Perspektiven es sonst gibt? Sunjic: Natürlich muss sich die Lage vor Ort verbessern. Interessant ist, dass Jugendliche anfangen, Ausbildungen, Freizeitangebote und Sportmöglichkeiten zu verlangen. Früher hat sie das nicht interessiert, weil sie mit dem Kopf längst in Europa waren. Hier findet ein Paradigmenwechsel statt. profil: Was erzählen Flüchtlinge, die es nach Europa geschafft haben? Sunjic: Somalis und Eritreer sind frustriert, weil der Druck am Arbeitsmarkt enorm ist. Einer hat gesagt: Das ist wie Sklaverei, nur haben wir viel Geld gezahlt, um da hineinzugeraten. Die Jüngeren hofften, ihre Bildung zu verbessern, und sacken in Wirklichkeit von ihrem Level ab, weil sie die Sprache und oft auch die Schrift lernen müssen.

Schlepper genießen hohes Ansehen; ihre Agenten reisen in verlassene Gegenden und klopfen an Türen, wenn Buben in ein bestimmtes Alter kommen.

profil: Würden sie sich rückblickend gegen die Reise entscheiden? Sunjic: In Eritrea gibt es einen Militärdienst, der unbegrenzt ausgedehnt werden kann, was vor allem Leuten trifft, die nachgefragte Fertigkeiten haben. Hier ist der Druck, zu flüchten, sehr hoch. Somalia hingegen ist geordneter als vor einigen Jahren. Hier beginnen Flüchtlinge abzuwägen. profil: Konnten Sie auf diesem Wissen aufbauen, als 2015 Syrer, Iraker und Afghanen über die Balkanroute kamen? Sunjic: Nein, weil sich die Flüchtlinge beträchtlich unterscheiden, was ihre Erwartungen und ihre Mediennutzung betrifft. Ohne Feldforschung kann man das Geld für Kampagnen, Zeitungsinserate und abschreckende Wandposter gleich beim Fenster hinausschmeißen.

profil: Was muss man wissen, um afghanische Flüchtlinge zu erreichen? Sunjic: Schlepper genießen hohes Ansehen; ihre Agenten reisen in verlassene Gegenden und klopfen an Türen, wenn Buben in ein bestimmtes Alter kommen. Die Väter entscheiden, ob sie gehen, um aus der Schusslinie der Taliban zu kommen oder Geld in Europa zu verdienen. Gebucht wird all inclusive. Hier beginnt die Ausbeutungskette: Wenn der Vater die 11.000 Dollar für die Reise nach London nicht hat, nimmt der Schlepper sein Ackerland als Honorar. Oft bieten sie auch noch Zusatzleistungen wie gefälschte Dokumente oder Taliban-Drohbriefe für das Asylverfahren. Die Burschen selbst wissen mitunter gar nicht, warum sie fortgeschickt werden, was im Asylverfahren ein Problem sein kann. Sie bekommen nur eingebläut, dem „Onkel“ zu folgen, bis er sie an den nächsten übergibt. profil: Was passiert, wenn sich der „Onkel“ als Krimineller herausstellt? Sunjic: Ich weiß von Buben, die sich für zwei Euro prostituieren müssen, aber nach Hause melden sie: Alles okay! In Afghanistan gehört es sich nicht, zu jammern.

Das Tragische ist: Flüchtlinge verlieren ihr Asylverfahren oder soziale Unterstützung, weil Halbinformierte einander beraten.

profil: Wie kommen Sie gegen das Wort des Vaters an? Sunjic: Es gibt ein Medium, das auch in armen, ländlichen Gegenden funktioniert, und das ist BBC Radio. Wichtige Informationen etwa zu Landminen oder Gesundheit werden in eine Seifenoper verpackt, die täglich in Paschtun und Dari ausgetrahlt wird. Selbst bei der Arbeit am Feld ist ein batteriebetriebenes Radio dabei. Wir haben ein Abkommen mit dem Sender, dass wir ab März in die Soap-Dramen hineinschreiben, was Schlepper versprechen und wie es wirklich ist. Alle zwei Wochen werden wir Phone-in-Sendungen machen, wo Rechtsexperten erklären, dass nicht jeder in Europa Asyl bekommt und es passieren kann, dass das Kind gebrochen zurückkommt und das Geld für die Reise weg ist. Journalisten oder Regierungsstellen würde man das nicht glauben.

profil: Was funktioniert bei Syrern? Sunjic: Für sie sind Schlepper keine geachteten Persönlichkeiten, sondern Verbrecherfiguren, derer man sich bedienen muss. Das zeigt sich beim Kundenauftritt. Afghanische Schlepper werben mit fantastischen Landschaften und sagenhaften Geschichten. Die syrischen Schlepper beschränken sich auf lieblos gestaltete Listen mit Routen, Preisen, Kontaktnummern; irgendwelche Versprechen würde man ihnen ohnedies nicht abnehmen. Junge Afghanen gehorchen dem Vater, trauen ihren Landsleuten aber nicht über den Weg. Syrer hingegen vertrauen einander fast blind. Aufbauend auf diesem Befund richten wir eine Facebook-Gruppe ein, wo arabische Promis mit Fakten gegen teils irrwitzige Gerüchte antreten: Derzeit gilt der kanadische Premier Trudeau als Held. Er hat gesagt, sein Land werde heuer 300.000 Syrer aufnehmen. Nun glauben viele, die in einem EU-Land gelandet sind, dass er sie evakuieren wird. Das ist natürlich Unsinn. Aber schon werben Schlepper mit Reisen von Deutschland nach Kanada.

profil: Wollen Flüchtlinge auch zurück? Sunjic: Das kommt vor, und sogar dafür gibt es Schlepper. Das Tragische ist: Flüchtlinge verlieren ihr Asylverfahren oder soziale Unterstützung, weil Halbinformierte einander beraten. Syrer zieht es manchmal in die Türkei; Iraker gehen ganz zurück. Sudan wird für Syrer interessant. Es ist das einzige arabischsprachige Land, wo sie kein Visum brauchen. profil: Regierungsstellen wollen Flüchtlinge nicht bloß informieren, sondern abschrecken. Wie passt das zusammen? Sunjic: Gar nicht. Hungernden Menschen, denen Bomben auf die Köpfe fallen, können wir nicht erklären, dass sie bleiben sollen. Unser Ziel ist es, Ausbeutung, Menschenhandel und Missbrauch zu bekämpfen und dafür zu sorgen, dass Menschen ihre Entscheidungen auf der Basis verifizierter Informationen treffen. Wer nicht unbedingt weg muss, überlegt es sich vielleicht. Leider denkt Europa sowohl geografisch als auch zeitlich viel zu kurz. Wenn Flüchtlinge in der Region ein Einkommen und ihre Kinder eine Ausbildung haben, bleiben sie; wenn nicht, gehen sie. Für Flüchtlinge, die keine andere Wahl haben, braucht es legale Wege, um in Europa Schutz zu finden. Sonst treibt man sie den Schleppern in die Arme.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges