Niederösterreich: Scheinwohnsitze verzerren das Wahlergebnis

Scheinwohnsitze. So wird das Ergebnis bei den niederösterreichischen Gemeinderatswahlen verzerrt

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Von Jakob Winter

Der 25. Jänner wird für Bettina Rausch ein anstrengender Tag. Die 35-jährige ÖVP-Landtagsabgeordnete muss von ihrem Hauptwohnsitz St. Pölten in ihre Heimatgemeinde Krummnußbaum tingeln, wo sie einen Nebenwohnsitz bei ihren Eltern hat. Damit ist sie bei den niederösterreichischen Gemeinderatswahlen wahlberechtigt. Vom Nest im Bezirk Melk muss Rausch dann noch nach Obritzberg im Bezirk St. Pölten. Dort hat Rausch bei ihrem Freund Thomas Amon einen Nebenwohnsitz angemeldet - nur drei Tage vor dem Ablauf der Frist zur Eintragung in die Wählerevidenz. Amon wiederum ist dort schwarzer Jugendgemeinderat. Und in St. Pölten (die Statutarstadt wählt wie Krems und Waidhofen an der Ybbs nicht mit den anderen 570 niederösterreichischen Gemeinden) kann Rausch im Jahr 2016 noch eine dritte Stimme abgeben.

Wahltourismus
Möglich macht diesen Wahltourismus ein Landesgesetz aus dem Jahr 1994, beschlossen zwei Jahre nach dem Amtsantritt von Erwin Pröll. Wahlberechtigt sind demnach nicht nur Inhaber eines Hauptwohnsitzes, sondern auch jene eines Nebenwohnsitzes - das gibt es so nur in Niederösterreich und dem Burgenland. Von dem Gesetz wird intensiv Gebrauch gemacht: Bei den Gemeinderatswahlen 2015 dürfen 307.741 Menschen mehr ihre Stimme abgeben als bei den Nationalratswahlen 2013 (alle Berechnungen jeweils ohne St. Pölten, Krems und Waidhofen). In Niederösterreich haben also mehr Menschen einen Nebenwohnsitz, als das Burgenland Einwohner zählt. Anders formuliert: Die Inhaber von Nebenwohnsitzen stellen landesweit über 20 Prozent aller Wahlberechtigten und können damit wahlentscheidend sein. Viele Zweitwohnsitzinhaber haben ihren Hauptwohnsitz in einem anderen Bundesland, größtenteils in Wien. Doch die Mehrheit hat auch ihren Hauptwohnsitz in Niederösterreich und ist daher bei den Gemeinderatswahlen mehrfach wahlberechtigt.

Ins Wählerverzeichnis darf eigentlich nur aufgenommen werden, wer in der jeweiligen Gemeinde einen ordentlichen Wohnsitz unterhält, den Wohnort also zum Mittelpunkt seiner wirtschaftlichen, beruflichen oder gesellschaftlichen Betätigung gestaltet. Wer den Wohnsitz nur zur Erholung oder zu Urlaubszwecken nützt, dürfte nicht wählen. Auch der bloße Besitz von Gebäuden reicht nicht aus. So weit das Gesetz. In der Praxis nehmen es die Bürgermeister nicht immer genau. Die Rechtslage ist nachgerade prädestiniert für Missbrauch: Eine Prüfinstanz, die von sich aus tätig wird, gibt es nicht. Die Kontrolle der Wählerlisten ist in mühseliger Kleinarbeit von wahlwerbenden Parteien vorzunehmen Um Einsprüche gegen das Wählerverzeichnis zu erheben, bleiben vier Wochen. Zweitinstanzliche Reklamationen müssen gar binnen drei Tagen erfolgen.

"Nicht aus Jux und Tollerei"
Der Fall von Bettina Rausch rief die Bürgerliste WIR aus Obritzberg auf den Plan. "Die Beziehung zu einem ortsansässigen Lokalpolitiker bedeutet noch nicht, dass man hier einen Wohnsitz begründet hat“, sagt Bürgerlisten-Sprecher Franz Marchat (50). Seine Beschwerde bei der Gemeindewahlbehörde wurde abgewiesen. Rausch argumentierte: "Da ich immer öfter Zeit bei meinem Partner in Obritzberg verbringe, habe ich mich dort angemeldet. Nicht aus Jux und Tollerei, sondern weil das Meldegesetz genau das von mir verlangt.“ Marchat ließ nicht locker und rief die nächste Instanz an - das Landesverwaltungsgericht. Auch dort blitzte er ab. In zwölf weiteren Fällen wurden von der Bürgerliste ebenfalls Beschwerden eingebracht, in sieben davon strich das Landesverwaltungsgericht die Personen aus dem Wählerverzeichnis.

Über 431 Beschwerden aus 19 Gemeinden
Insgesamt musste das Gericht binnen drei Tagen über 431 Beschwerden aus 19 Gemeinden entscheiden. Bei der Hälfte aller Fälle wurde der Gemeindewahlbehörde widersprochen. Die 52 Landesrichter standen Kopf, wie ein Insider berichtet. Dabei arbeitete das Gericht nur die absolute Spitze des Eisberges ab. Denn aus 551 Gemeinden langten gar keine Beschwerden ein. Das ist allerdings eher auf den beschwerlichen Beschwerdeweg und die Unkenntnis über die rechtlichen Möglichkeiten zurückzuführen, denn auf saubere Wählerlisten.

Karl Schweighofer, 55, aus Ardagger im Bezirk Amstetten kann ein Lied davon singen. Bei den Kommunalwahlen 2005 forderte er den ÖVP-Bürgermeister mit einer "Unabhängigen Bürgerliste“ heraus. Sie kam auf Anhieb in den Gemeinderat. Doch bei der nächsten Wahl 2010 flog Schweighofer wegen einer einzigen Stimme aus dem Vorstand der Gemeinde. Der streitbare Landwirt nahm sich vor, künftig ein wachsames Auge auf die Wählerevidenz zu haben. So landete er im aktuellen Kampfgebiet. Als die Bürgerliste die Wählerlisten für den kommenden Urnengang durchging, stieß sie auf Dutzende Verdachtsfälle, darunter die Schwester des ÖVP-Ortsvorstehers, die laut Schweighofer "seit mindestens 15 Jahren in Oberösterreich lebt und nur gelegentlich im Elternhaus zu Besuch ist“. Ebenfalls im Wählerverzeichnis: Pflegekräfte aus EU-Ländern und sogar Auswanderer, die es schon vor langer Zeit nach Australien oder Amerika verschlagen hatte.

Der Zufall wollte es, dass Schweighofer auch noch ein eigenes Praxisbeispiel zur Hand hatte: Ein rumänischer Bekannter, den er polizeilich bei sich angemeldet hatte, tauchte prompt auch im Wählerverzeichnis auf, "obwohl er Ardagger nicht auf Anhieb auf der Landkarte finden würde und nicht weiß, wer hier Bürgermeister ist“. 99 Fälle beeinspruchte die Bürgerliste. Nach einer dreitägigen Prüfung erkannte die Gemeindewahlbehörde drei Streichkandidaten: Eine Person war verstorben, die anderen waren Pflegerinnen, die ihre Aufgabe erfüllt hatten und abgereist waren. Schweighofers rumänischer Bekannter hingegen blieb im Wählerverzeichnis.

Mit diesem und einem zweiten Fall - die Schwester des Ortsvorstehers hatte es der Gemeinde in einer Stellungnahme sogar schriftlich gegeben, dass sie in Linz wohnt - zog Schweighofer vor das Landesverwaltungsgericht und bekam dort Recht. Beide mussten aus der Wählerliste gestrichen werden. Für weitere Anfechtungen fehlte ihm die Zeit. Doch: "Wenn man den Spruch auf die restlichen Fälle umgelegt, sind an die 100 Personen im Verzeichnis geblieben, die nicht die Kriterien für ein Wahlrecht erfüllen. Aus meiner Sicht hat die Gemeindewahlbehörde erheblich rechtswidrig gehandelt.“ Entschieden anders sieht es Bürgermeister Johannes Pressl (ÖVP): "Man müsste jeden Fall einzeln prüfen. Die Gemeindewahlbehörde hat jedenfalls nach bestem Wissen und Gewissen entschieden.“

Schon bei den Gemeinderatswahlen 2010 tauchten mehrere Missbrauchsvorwürfe auf. Doch die Zahl der Wahlberechtigten ist in Niederösterreich seither munter weiter gewachsen. Während die niederösterreichische Bevölkerung in den vergangenen fünf Jahren um 22.527 Personen zulegte, dürfen heuer gleich 61.055 Personen mehr wählen als noch 2010. Das liegt neben der steigenden Zahl von Nebenwohnsitzen auch an der demografischen Entwicklung.

"Ewige taktische Diskussion"
Die Opposition im blaugelben Landtag drängt auf eine Gesetzesänderung: "Wir haben in Niederösterreich ein Alleinstellungsmerkmal: Die ÖVP kann die Gesetze auslegen, wie sie will“, klagt der grüne Landesgeschäftsführer Hikmet Arslan. Geht es nach ihm, sollte das Stimmrecht an den Hauptwohnsitz gekoppelt sein. Ähnlich sieht das sein rotes Pendant, Robert Laimer: "Wir fordern seit Langem eine Wahlrechtsreform, bei der festgelegt ist, dass nur im Hauptwohnsitzort gewählt werden kann.“ Für Laimer sei es nach den Gemeinderatswahlen "an der Zeit, eine Wahlrechtsreform anzugehen“. Dabei hatte die SPÖ dem Gesetz einst zugestimmt. Ein hochrangiger Roter, der damals bei der Beschlussfassung im Landtag mit dabei war: "Das war innerhalb der SPÖ eine ewige taktische Diskussion. Wir haben damals geglaubt, dass wir dadurch mehr Stimmen bekommen - das ist aber absoluter Blödsinn.“ Die Nebenwohnsitze nutzen meist der Mehrheitspartei, und das ist in 425 von 570 Gemeinden die ÖVP. Sie verfügt im Landtag über eine absolute Mehrheit und verteidigt damit das geltende Wahlrecht als demokratisches Instrument zur Steigerung der Wahlbeteiligung.

Mit Demokratie haben die Nebenwohnsitze freilich nicht immer etwas zu tun, wie ein Blick nach Grafenwörth zeigt: Zwei Lehrer der Musikschule meldeten in eben dieser einen Nebenwohnsitz an. Die oppositionelle SPÖ wollte die Personen aus dem Wählerverzeichnis streichen lassen, doch die Gemeindewahlbehörde setzte zu einer abenteuerlichen Argumentation an: Bei Veranstaltungen der Musikschule werde es "oft spät“. Es sei daher "unverantwortlich, übermüdet den Heimweg anzutreten“. Und weiter: Im Gebäude gebe es "durchaus“ die Möglichkeit zu nächtigen. Das Landesverwaltungsgericht sah das anders und entfernte die beiden Musiklehrer aus der Liste.

Bei ÖVP-Gemeinderat Robert Heiss und seinen Schwiegereltern waren insgesamt 22 Personen gemeldet. Gegen zehn davon legte die SPÖ ebenfalls Beschwerde ein - acht Personen wurden gestrichen. Nicht so Herr Tiedemann. Der Mann mit Hauptwohnsitz in Wien kommt nach eigenen Angaben zum Jagen und Fischen nach Grafenwörth. Außerdem baut er derzeit in der Gemeinde ein Haus. Bis zur Fertigstellung diene die Bleibe des schwarzen Gemeinderats als "Stützpunkt“ seiner Freizeitaktivitäten. Das Landesverwaltungsgericht folgte dieser Argumentation, obwohl der Mann bei einer unangekündigten Erhebung nicht angetroffen wurde. Tiedemann darf am 25. Jänner also wählen. Kurios: Die Lebensgefährtin von Herrn Tiedemann, Frau Michel, war an anderer Adresse in Grafenwörth gemeldet, bei den Schwiegereltern des besagten Gemeinderates - sie wurde vom Gericht aus der Evidenz gestrichen. Die Landesrichter scheinen mit der Auslegung des Gesetzes ihre liebe Not zu haben.

Dem Gerichtsurteil war anstrengende Oppositionsarbeit vorausgegangen: "Wir sind gute zwei Wochen gesessen, haben die Wählerlisten durchgeackert und Beschwerden formuliert“, erinnert sich SPÖ-Gemeinderat Martin Eger. Dennoch haben die Roten etwas übersehen. Im Pflegeheim SeneCura haben sich Geschäftsführer Anton Kellner und Regionaldirektor Werner Bernreiter angemeldet - knapp zwei Wochen vor dem Stichtag. "Das ist uns leider erst im Nachhinein aufgefallen“, sagt Eger. Kellner gibt an, den Wohnsitz in Grafenwörth nur angemeldet zu haben, um bei der nahenden Wirtschaftskammerwahl in Niederösterreich kandidieren zu können.

In der Gemeinde im Bezirk Tulln gibt es eine gewisse Tradition, was skurrile Nebenwohnsitze angeht. Schon im Jahr 2010 hatte die mittlerweile pensionierte Volksschuldirektorin in der Schule einen Wohnsitz angemeldet. Bürgermeister Alfred Riedl (62) hat selbst zwei Nebenwohnsitze: in Krems und in Tulln. "Ich stehe zu meinen Anmeldungen. Denn ich bringe in Krems und Tulln ein beachtliches Engagement ein, schaffe Arbeitsplätze und habe daher ein Interesse daran, was dort passiert“, so Riedl gegenüber profil. Er betreibt in beiden Gemeinden eine Steuerberatungskanzlei.

"Protestaktion"
Der SPÖ soll er in der Sitzung der Gemeindewahlbehörde keck entgegengeworfen haben: "Ihr würdet es auch so machen, wenn ihr die Möglichkeit hättet.“ Das ist besonders pikant, weil Riedl als Präsident des schwarzen Gemeindevertreterverbandes in Niederösterreich eine gewisse Vorbildfunktion innehat. Doch ganz unrecht hat Riedl mit seiner Argumentation nicht. Zwar kritisiert die rote Landespartei gebetsmühlenartig die Scheinanmeldungen, in einigen Gemeinden sind die Genossen nun allerdings selbst dazu übergegangen, die Zahl der Zweitwohnsitze in die Höhe zu treiben. Im Bezirk Horn hat der rote Bezirksvorsitzende Josef Wiesinger, 53, gleich in fünf Gemeinden einen Wohnsitz angemeldet. Offiziell als "Protestaktion gegen das ungerechte Wahlsystem“. Doch der Schuss ging nach hinten los: Die ÖVP deckte die Scheinanmeldungen auf. Wiesinger will trotzdem "in allen fünf Gemeinden persönlich wählen gehen“.

"Rechtlich alles konform"
In Wiener Neustadt zittert die SPÖ um ihre absolute Mehrheit. Gleich mehrere Behausungen wurden zu Wohngemeinschaften umfunktioniert - zumindest am Papier. So meldete der Leiter des städtischen Verkehrsamtes, Wolfgang Rogl, einen Nebenwohnsitz beim Büroleiter des Bürgermeisters Klaus Billwein an. Bei Sozialamtsleiter Rainer Mock fand der Chef der Wiener Neustadt-Holding, Gerald Sinabell, Unterschlupf. Auch bei mehreren SP-Gemeinderäten sind auffällige Anmeldungen bemerkbar. Die ÖVP reklamierte insgesamt 20 Personen, nur eine wurde aus dem Wählerverzeichnis gestrichen. Auch weil in der Statutarstadt Wiener Neustadt die politisch besetzte Stadtwahlbehörde als Zweitinstanz über Anfechtungen entscheidet und nicht das Landesverwaltungsgericht. Für SPÖ-Bürgermeister Bernhard Müller (41) ist "rechtlich alles konform abgelaufen“. Die ÖVP solle vorsichtig sein mit ihren Anschuldigungen: "Im Glashaus sitzen und dann Steine werfen, geht nicht“, sagt Müller. Sein Herausforderer, der Wiener Neustädter ÖVP-Spitzenkandidat Klaus Schneeberger (64), sieht das naturgemäß anders: "Die vielen Vorkommnisse rund um das Wählerverzeichnis zeigen, dass es Änderungen in der Gemeinderatswahlordnung braucht.“

Auch GVV-Präsident Alfred Riedl befindet: "Es wird schon viel Missbrauch betrieben.“ Beide ÖVP-Politiker wollen das Gesetz nachschärfen, das Wahlrecht von Nebenwohnsitzen aber nicht grundsätzlich infrage stellen. Mit Schneeberger hat sich die Geschichte übrigens einen kleinen Scherz erlaubt: Seit 1993 sitzt er ohne Unterbrechung im Landtag. Er hat also die umstrittene Wahlrechtsreform 1994 mitbeschlossen, die er heute kritisiert.

Jakob   Winter

Jakob Winter

ist Digitalchef bei profil und leitet den Faktencheck faktiv.