Rudolf Gelbard über seine Erinnerungen

NS-Sammellager für Juden in Wien: Zeitzeugen erzählen ihre Geschichte

NS-Sammellager für Juden in Wien: Zeitzeugen erzählen ihre Geschichte

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Das goldene Wiener Herz

Herbert Schrott, eben erst 90 Jahre alt geworden, schaut einem fest und traurig in die Augen, wenn er von der Schande der Wiener berichtet: „Als wir auf den Lastwagen die Ungargasse hinaufgefahren sind und verkehrsbedingt halten mussten, haben die Leute heraufgerufen: ,Schaut’s die Juden an! Schleicht’s euch! Haut’s euch über die Häuser!‘ Ja, ja das goldene Wiener Herz. Wir sind aufgereiht am LKW gestanden, mit dem gelben Stern. Es hat jeder gewusst, was los ist, wo wir hinfahren – hinauf zum Aspangbahnhof.“ Schrott wusste lange nicht, dass er Jude war und was es damit auf sich hatte – bis sein Banknachbar in der Volksschule ihm erklärte, dass die Juden den „Heiland umgebracht“ hätten.

Herbert Schrott war zwölf Jahre alt, als in seiner unmittelbaren Nachbarschaft, in der Neudeggergasse im 8. Wiener Gemeindebezirk, der Tempel brannte und sein Vater nicht heimkam, weil er von der SS festgehalten und geschlagen wurde. Die Schrotts hätten 1939 nach Übersee flüchten können, wenn sie das Geld für drei Schiffskarten gehabt hätten, denn ein Visum hatte der Vater in der Tasche. Doch sie wollten zusammenbleiben.

Herbert Schrott: Das goldene Wienerherz

Wie viele seiner Freunde aus der Mittwochsrunde hat Schrott im Alter von 14 Jahren Schwerstarbeit verrichtet, in der Hoffnung, auf diese Art der drohenden Deportation zu entgehen. Ein Irrtum. Seinen 18. Geburtstag verbrachte Schrott beim stundenlangen Appell in Auschwitz.

Für den Jugendlichen waren Transporte „in den Osten“ ein unbestimmtes Grauen gewesen. Niemand wollte den bösen Gerüchten Glauben schenken. Schrott überlebte. Sein Vater starb. Wenn der 90-Jährige darauf zu sprechen kommt, bricht seine Stimme. Sein Vater hatte ihm seine Goiserer überlassen, warme, feste Schuhe. „Die haben mir in den Lagern das Leben gerettet“, sagt Schrott.

Die Wiener will er nicht generell verdammen. Er hat von einem Haus gehört, in dem alle Mieter wussten, dass sich im Keller Juden versteckt hielten, und sie nicht verrieten. Eine Cousine überlebte im Untergrund bei einer nicht-jüdischen Gemüsehändlerin. Wenn deren Sohn auf Fronturlaub heimkam, gab sie einer Klofrau beim Stadtpark ein paar Reichsmark und konnte die Nächte am Häusl zubringen. Doch jene SSler, die angeblich „anständig“ gewesen seien, wie der Arzt Viktor Frankl nach dem Krieg behauptet hatte, der in einem Nebenlager von Schrotts Lager war, sind ihm unbekannt. „Die haben vielleicht ganz am Ende geholfen: als Rückversicherung.“

Eine Fotografie, ein Leben

„Die Welt kennt mich als Blacky“, sagt Herbert Schwarz, 91 Jahre alt, ein Mann mit schütterer Künstlermähne und schalkhaft blitzenden Augen. Die Welt seiner Kindheit war die Erinnerung an den Kaiser gewesen, an einen die Hacken aneinanderschlagenden Vater in Offiziersuniform, eine bildhübsche Mutter, die an den Spieltischen im Casino ihr perlendes Lachen hören ließ und eine Herrschaftswohnung mit Blick auf den noblen Wiener Kohlmarkt. Diese Welt war im Untergang begriffen, die Nationalsozialisten hatten sie über Nacht zerstört. Die Lehrer trugen von einem Tag auf den anderen Hakenkreuzbinde; er selbst wurde von der Schule geworfen.

Die SS stürmte die Beletage, der Vater wurde ins Konzentrationslager verbracht, die Mutter setzte alles, was sie zu Geld machen konnte, auf eine Schiffspassage nach Shanghai, doch der Krieg war schneller, die Tickets verfielen und der Vater kam 1940 aus Buchenwald zurück – in einem Blechbehälter, nicht größer als eine Cola-Dose. Niemand in der Familie hätte gedacht, dass es sie treffen würde, doch „jetzt waren wir am Rennen“, sagt Schwarz.

Die verwöhnte Fabrikantengattin erwies sich als lebenstüchtig und unerschrocken. Sie sorgte dafür, dass der 13-Jährige in Kursen für die Auswanderung nach Palästina das Tischlerhandwerk lernte, sie selbst wurde Krawattennäherin. Doch sie verbot ihrem einzigen Kind, nach Palästina zu gehen, und so zogen Mutter und Sohn von einer „Judenwohnung“ in die nächste, bis sie mit Dutzenden anderen in einem Haus in der Esslinggasse landeten. Eines Morgens wurde das Haus von der SS umstellt, die Einwohner wurden hinausgetrieben, auf einen LKW verladen und nach einer Nacht im Chaos des zentralen Sammellagers in der Kleinen Sperlgasse 2a zum Aspangbahnhof gebracht.

Herbert Schwarz: Eine Fotografie, ein Leben

Nach fünf Tagen und Nächten bitterster Kälte, Hunger und Durst waren sie am Ziel: im Ghetto von Riga. Es hatte 25 Grad unter Null. Sie fanden gefrorene Essensreste auf Tellern vor, die jene zurückgelassen hatten, die kurz zuvor an einer nahen Waldlichtung erschossen worden waren, um für die Neuankömmlinge Platz zu machen. In den drei folgenden Jahren arbeiteten Mutter und Sohn schwer. Sie hungerten und froren. „Wissen Sie, wie lang es braucht, bei diesen Temperaturen eine Jacke zuzuknöpfen?“, sagt Schwarz und sieht plötzlich unglaublich müde aus. Natürlich weiß das niemand, außer seinen Freunden: Schicksalsgenossen, die er einmal in der Woche in einem Wiener Kaffeehaus trifft. Ihnen muss er nichts erklären. Seine Mutter überlebte die Torturen nicht.

Geblieben ist ihm ein Foto von seinem Koffer, auf dem mit weißer Ölfarbe sein Name und die Adresse Esslinggasse 13 Wien geschrieben steht. Dieses Bild hat Schwarz entdeckt, als ihm ein Freund vor etwas mehr als zehn Jahren von einer Gedenkveranstaltung in Riga eine Broschüre zuschickte. Ein russischer Militärfotograf machte das Foto wohl, als Riga befreit wurde. Den Koffer selbst, den die Mutter gepackt hatte, hat er in Wien das letzte Mal gesehen.

Als Schwarz nach Wien zurückkam, war von seiner Familie niemand mehr da. Er besuchte Kurse, um die versäumte Schule nachzuholen. Der junge Jude saß mit anderen Heimkehrern in der Klasse. „Wie kommt man gesellschaftlich wieder auf die Höhe“? – „Was redet man mit Frauen?“ – „Über das Lager?“ Das waren die Fragen, die ihn umtrieben – und das Jude-Sein.

Schwarz wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann. Nicht in Österreich, sondern in den USA. Dort fand er auch eine Wienerin, die den Holocaust in Großbritannien überlebt hatte. Als sie starb, kehrte er nach Wien zurück.

Die verdammte Liebe zu Wien

„Wir waren sehr arm, aber glücklich“, sagt Bernhard Morgenstein. Aber dann brannten die Tempel in der Leopoldstadt, und der damals Zwölfjährige sah es – auch die Mordslust in den Gesichtern der Umstehenden. Er sah die Reibepartien, er musste die Schule verlassen, und dann waren die Eltern weg, die geglaubt hatten, sie könnten sich nach Polen retten, wo die Familie noch ein Haus besaß, und die Kinder nachholen. Das war der Plan. Er hat seine Eltern nie wieder gesehen.

Die jüngste Schwester schaffte es auf einen Kindertransport nach England und kam 1945 als Angehörige der britischen Armee zurück. Sie waren fünf Geschwister. Sie hätten alle fahren können, doch „wir wollten nicht weg, wir hingen so sehr an Wien“, sagt Morgenstein. Das war ihr Verhängnis.

Bernhard Morgenstein: Die verdammte Liebe zu Wien

Bernhard und sein jüngerer Bruder Josef kamen in ein jüdisches Waisenhaus. Als 14-Jähriger verrichtete er Schwerarbeit bei den Wiener Ziegelwerken und schob Nachtschicht in einer Möbelfabrik. Auch die ältere Schwester war zwangsverpflichtet worden. Im Jahr 1942 entkamen sie noch dem Transport, weil sie während einer Razzia im Kinderheim zufällig bei der Schwester waren. Kein einziges der Kinder, die die SS abgeholt hatte, kam zurück, sagt Morgenstein und atmet schwer: „Die Nazis waren eine Mörderbande, und die Welt sah zu.“

Wenig später mussten sie selbst in die Sperlgasse „einrücken“, wie man damals sagte. „Hätten wir gewusst, was uns erwartet, wir wären nicht hingegangen.“ Sie wurden nach Theresienstadt deportiert, die beiden Brüder weiter nach Auschwitz. Der Jüngere, kaum 16 Jahre alt, dünn und blass, ging direkt in die Gaskammer. Bernhards Schwester, die noch in Theresienstadt war, meldete sich freiwillig für den Transport nach Auschwitz. Die Gefangenen hatten Postkarten schreiben müssen: „Uns geht es gut.“

Drei Morgenstein-Kinder haben den Holocaust überlebt. Für Bernhard Morgenstein war die Heimkehr in sein geliebtes Wien eine große Enttäuschung. Er musste mit der Militärpolizei drohen, um eine ihm zugewiesene Wohnung in Besitz nehmen zu können. Zurückgekehrte Juden mochte man hier nicht.

Morgenstein blieb nicht in Österreich. „Ich hatte immer Heimweh nach Wien.“ Jetzt lebt er wieder hier.

„Wir können nicht über alles reden“

Rudolf Gelbard, ist mit seinen 86 Jahren einer der jüngsten und rührigsten Zeitzeugen. Er war Redner bei großen Gedenkveranstaltungen, er ist dauernd auf Achse, um die Jugend aufzuklären, und er wird am Mittwoch bei der Gedenkveranstaltung auf dem ehemaligen Aspangbahnhof sprechen. Doch die Zeugenschaft fällt ihm schwer, wenn es um persönliche Erinnerungen geht, um die Stätten des Grauens. Die Gelbards wohnten in der Leopoldstadt, und das Kind sah, wie fromme Juden, alte Männer, von der Hitlerjugend oder SSlern gezwungen wurden, Liegestütze zu machen, bis sie zusammenbrachen.

Gelbard hat für profil einen der Turnsäle der Volksschule in der Kleinen Sperlgasse in der Leopoldstadt wieder aufgesucht. Gelbard war zwölf Jahre alt, als er hier mit seinen Eltern dicht gedrängt auf dem Boden lag und draußen die SS-Oberscharführer schrien und Angst und Verzweiflung herrschte. Am 2. Oktober 1942 war den Gelbards der Befehl zur „Wohnsitzverlegung nach Theresienstadt“ – wie es beschönigend hieß – überbracht worden.

Es sei allen sei klar gewesen, dass im Osten nichts Gutes passieren werde, sagt Gelbard. Sein Vater hatte nicht-jüdische Freunde, die bei der Wehrmacht waren und die von Judenerschießungen an der Ostfront berichtet hatten. Die Gelbards überlebten; die Eltern waren gebrochen. Zwei Jahrzehnte lang hat der junge Gelbard den 2. Bezirk gemieden. Wie alle Überlebenden scheint er sich damit zu quälen, warum gerade er überlebt hat. „Wir können nicht alles sagen, was hier passierte. Können nicht über alles reden, was war.“

Christa   Zöchling

Christa Zöchling