Wilhelm Heitmeyer

Soziologe Wilhelm Heitmeyer: "Die Gesellschaft ist vergiftet"

Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer über Feindbilder, die Erfolge von Rechtspopulisten und die Feindseligkeit der Alten.

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INTERVIEW: EDITH MEINHART

profil: „Wir müssen die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen.“ Unterschreiben Sie diesen Satz? Wilhelm Heitmeyer: Er wird von niemandem bestritten – es sei denn, es geht nicht um Ängste, sondern um ihre Instrumentalisierung.

profil: Schwingt darin nicht auch „Wir sind das Volk!“ mit? Heitmeyer: Der Satz wurde durch Bewegungen wie Pegida zum Bestandteil der Debatte. Bei Rechtspopulisten geht es um Angst vor Abstieg, kultureller Überfremdung, politischer Entfremdung und Denationalisierung von Politik. All dies wird durch die Flüchtlingsbewegung zusammengebunden und erhält als emotional ausbeutbares Signalereignis eine Wucht.

profil: Auf der anderen Seite steht die Willkommenskultur. Stimmt es, dass Deutsche und Österreicher entweder für oder gegen Flüchtlinge sind? Heitmeyer: Das ist zu schablonenhaft. Ich habe vergangenes Jahr einen Text über die eingebauten „Fallen“ der Willkommenskultur geschrieben. Keine der großen, liberalen Zeitungen wollte ihn drucken. Damals herrschte Euphorie. Dieses Gefühl ist flüchtig und schürt Dankbarkeitserwartungen, die in Hass umschlagen können. Flüchtlinge haben das Recht, vor Idealisierung geschützt zu werden. Ich plädiere für einen enttäuschungsfesten Alltag auf beiden Seiten.

profil: Ist das Unbehagen darüber, dass die Gesellschaft auseinandertreibt, gerechtfertigt? Heitmeyer: Ja, was die soziale Desintegration betrifft. Die Frage ist, ob Menschen Zugang zu Arbeit und Wohnen haben, ob sie in öffentlichen Debatten über Solidarität vorkommen, ob ihre Identität ernst genommen wird und sie aus all dem Anerkennung beziehen. Anerkennungsdefizite führen dazu, dass schwache Gruppen wie Langzeitarbeitslose, Muslime oder Flüchtlinge von vielen Leuten abgewertet werden, die damit das Ziel verfolgen, sich selbst aufzuwerten. Daraus entsteht das, was wir gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit nennen.

profil: Immer mehr Menschen sehnen sich nach einem starken Führer. Drohen finstere Zeiten? Heitmeyer: Zu Beginn des Jahrtausends prognostizierte der Soziologe Ralf Dahrendorf, die Welt stehe vor einem autoritären Jahrhundert. Das Gefährliche an der Sehnsucht nach einem Führer ist, dass sie mit Sehnsucht nach Homogenität in der Gesellschaft einhergeht. Wenn die Grenzen zwischen „uns“ und „den anderen“ hart gemacht werden, haben schwache Gruppen einiges zu befürchten.

Es ist ein wirkungsvoller, zynischer Mechanismus, dass jede Gesellschaft ihre Randgruppen erzeugt, um sich selbst zu stabilisieren.

profil: Kaum verblassen alte Feindbilder, bilden sich neue. Kommen wir nicht ohne aus? Heitmeyer: Es rücken im Laufe der Zeit immer neue Gruppen in den Fokus der Abwertung durch Teile der Bevölkerung und auch der Eliten. In Deutschland kamen vor zehn Jahren Sinti und Roma, Langzeitarbeitslose und Obdachlose wieder auf die Tagesordnung, weil sie den Vorstellungen von Nützlichkeit in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht entsprachen. Zwischen 2005 und 2008 nahm die Fremdenfeindlichkeit ab, mit der Finanz- und Wirtschaftskrise zog sie wieder an. Es ist ein wirkungsvoller, zynischer Mechanismus, dass jede Gesellschaft ihre Randgruppen erzeugt, um sich selbst zu stabilisieren. Die rücksichtslose Botschaft lautet: Strengt euch an, sonst landet ihr auch dort!

profil: Linke und Liberale wähnen sich darüber erhaben. Haben sie keine Feindbilder? Heitmeyer: Auch bei Personen, die parteipolitisch links wählen, oder bei religiösen Menschen finden wir gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Bei den über 60-Jährigen ist sie besonders hoch.

profil: Für Junge gibt es Präventionsprogramme; die Alten lässt man gewähren? Heitmeyer: Genau, sie sind eine bedeutende Wählergruppe, das ist ein Teil der Erklärung. Die These, dass die Nazis aussterben und sich das Problem damit von selbst erledigt, ist jedenfalls unsinnig. Die Muster werden an die Jungen weitergegeben.

profil: Warum sind die Älteren besonders feindselig? Heitmeyer: Die Vielfältigkeit von Gesellschaft, der rasante Wandel und eine Wir-sind-länger-hier!-Einstellung spielen eine Rolle. Dazu kommt, dass man sich an die Nation klammert: Die Arbeit, Familienkreise, Freundesgruppen können einem genommen werden, aber nicht das Deutschsein.

profil: Über Interessen kann man verhandeln, über Zugehörigkeit nicht. Verschärft das die Auseinandersetzungen? Heitmeyer: Enorm. In der Identitätspolitik gibt es keine Kompromisse und auch keine gesellschaftliche Weiterentwicklung, die ja erst durch geregelt ausgetragene Konflikte entsteht. Denken Sie an die Frauenbewegung oder die ökologische Bewegung. Auch die Konflikte der heterogenen Gesellschaft müssten geregelt ausgetragen werden. Dazu müssten Muslime sich lauter gegen den politischen Islam stellen. Wenn sie sich zurückziehen, fördert das eine völlig undifferenzierte Wahrnehmung des Islam.

profil: Nicht nur unter Muslimen gibt es wenig Austausch von unterschiedlichen Meinungen. In sozialen Medien bleibt jeder in seiner Blase. Wie verhandeln wir unsere Zukunft als gemeinsames Anliegen? Heitmeyer: Dazu wird es, glaube ich, nicht kommen. An vielen Stellen ist die Gesellschaft vergiftet. Deshalb gibt es das für mich schon fast verzweifelte Betteln der Eliten um gesellschaftlichen Zusammenhalt. Gleichzeitig reklamieren einflußreiche Eliten ihre Etabliertenvorrechte, und es ist keine Frage, dass sie an manchen Stellen einen Klassenkampf von oben führen, weil sie keine Visionen haben, wie es in unseren Gesellschaften weitergehen soll.

Wir hören Floskeln, die so banal sind, dass mir die Worte fehlen: Ihr müsst euch integrieren, die Sprache lernen!

profil: Was läuft schief bei der Integration? Heitmeyer: Es beginnt damit, dass man nicht definiert, was damit gemeint ist. Auch der Begriff „sozialer Zusammenhalt“ ist mir suspekt. Das klingt nach letztem Versuch, einen gesellschaftlichen Alleskleber zu finden. Wir hören Floskeln, die so banal sind, dass mir die Worte fehlen: Ihr müsst euch integrieren, die Sprache lernen! In Wahrheit haben wir ein dreifaches Problem im Hinblick auf die Gefahren der Desintegration: nicht nur bei Flüchtlingen, sondern auch bei Migranten, die länger hier sind, und bei Deutschen, die sich nicht anerkannt fühlen. Den Begriff Integration darf man also nicht für Einwanderer reservieren.

profil: Werden Ihre Botschaften gehört? Heitmeyer: 2002 konnten wir in unseren Bielefelder Untersuchungen aufzeigen, dass 20 Prozent der deutschen Bevölkerung als rechtspopulistisch einzustufen sind. Zwischen 2009 und 2011, vor dem Aufkommen der Pegida-Bewegung, registrierten wir eine steigende Bereitschaft, an Demonstrationen teilzunehmen, und eine wachsende individuelle Gewaltbereitschaft. Alles das ist frühzeitig publiziert worden. Was wir jetzt erleben, hätte man vorhersehen können. Doch große Teile der Eliten leiden unter politischem Autismus.

profil: Warum gibt es so viel Ratlosigkeit im Umgang mit Rechtspopulisten? Liegt es daran, dass die gesellschaftliche Mitte rabiat wird, wie Sie sagen? Heitmeyer: Ich habe dafür den Begriff der rohen Bürgerlichkeit geprägt, um die glatte Fassade zu beschreiben, hinter der ein Jargon der Verachtung gegenüber schwachen Gruppen lauert. Schwierig sind Antworten aber auch, weil die Themen beliebig wechseln. Entscheidend ist nur die Emotionalisierung. Dagegen kommen rationale Argumente nicht an. Wenn man den Sachsen sagt, „Ihr habt doch ganz wenige Muslime“, sagen sie: „Das glauben wir nicht!“

profil: Sie erforschten schon vor 30 Jahren rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Sind Sie es nicht leid, die Kassandra zu spielen? Heitmeyer: Man hat mir damals erklärt, unsere Jugend habe ihre historische Lektion gelernt. 1997 untersuchte ich islamistische Einstellungen bei türkischen Jugendlichen. Die Ergebnisse waren erschreckend. Wieder bekämpfte man mich. Frustrierend finde ich, dass die gesellschaftliche Selbsttäuschung nicht aufhört. Gewalt braucht Legitimation. Auch wir, die Bevölkerung, liefern sie – mit der Gefahr der Normalisierung.

Das Destruktive ist in der Normalität angekommen.

profil: Das würden die meisten Menschen wohl abstreiten. Heitmeyer: Eben. Das Eskalationsmuster wird ignoriert. Es ist wie eine Zwiebel. Die äußere Schale sind die Einstellungen der breiten Bevölkerung. Die kleinere Schale sind rechtspopulistische Bewegungen, die mit aggressiver Sprache hantieren. Dann kommen die systemablehnenden, radikalisierten Milieus und gewaltbefürwortende Kameradschaften. Im Kern finden sich die terroristischen Zellen. Die Übergänge der Radikalisierung kennen wir nicht. Aber je härter die Sprüche werden, desto stärker wird der Handlungsdruck. Die Gruppen wollen nicht als Maulhelden dastehen.

profil: Warum blühte in Österreich der Rechtspopulismus so viel früher als in Deutschland? Heitmeyer: Offensichtlich ist, dass es in Deutschland nicht an Potenzial fehlte, aber – anders als in Österreich – an Köpfen. Nun sind sie da, etwa Frauke Petry bei der AfD. Und nun fallen viele Medien auf die Mobilisierungsexperten herein, die ständig an der begrifflichen Eskalationsschraube drehen und die Berichterstattung anfachen. Inzwischen bestimmt die AfD die Agenda.

profil: In Österreich greift der Grüne Bundespräsidentschaftskandidat die Sehnsucht nach Heimat auf. Kann das gutgehen? Heitmeyer: Riskant ist das Unternehmen jedenfalls. Es ist ja bekannt, dass an vielen Stellen nicht die Kopie, sondern das Original gewählt wird.

profil: Wir debattieren über Obergrenzen für Flüchtlinge und Ausnahmezustand. Passt das zu Ihrem Langzeitbefund aus 2011, dem „entsicherten Jahrzehnt“? Heitmeyer: Absolut. Der Begriff ist von der „New York Times“ inspiriert, die 2011 über die „explosive Lage als Dauerzustand“ geschrieben hat. Die Nervosität in der politischen Klasse ist riesig.

profil: Könnte das auch der Beginn von etwas Neuem sein? Heitmeyer: Wir perfektionieren die Abwehr. Das ist wahrlich kein neues Denken.

profil: Das war der Versuch, Ihnen ein positives Schlusswort zu entlocken. Stünde uns nicht etwas mehr Gelassenheit an? Heitmeyer: Ja und nein. Wenn 30 Prozent Rechtspopulisten wählen, kann man sich damit beruhigen, dass der Rest demokratische Parteien wählt. Aber die Mechanismen der Eskalation erlauben uns nicht, gelassen zu bleiben. Das Destruktive ist in der Normalität angekommen. Und alles, was als normal gilt, kann man nicht mehr problematisieren.

Zur Person

Der deutsche Soziologe Wilhelm Heitmeyer, Jahrgang 1945, forscht seit den frühen 1980er-Jahren zu Rechtsextremismus, Gewalt und soziale Desintegration. 1996 gründete er in Bielefeld das Institut für Konflikt- und Gewaltforschung. Über die Grenzen hinaus bekannt wurde Heitmeyer wegen der von ihm initiierten Langzeitstudie zur „Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit”, zu der jährlich ein Band im Suhrkamp Verlag erschien („Deutsche Zustände“). Am Montag, 17. Oktober, ist er auf Einladung des Autofahrerclubs ÖAMTC in Wien zu hören. Heitmeyer hält ein Impulsreferat. Das Motto der Veranstaltung liefert ein berühmtes Zitat von Albert Einstein: „Ein Vorurteil ist schwieriger zu zerstören als ein Atom.“

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges