Der Gemeindebau Goethehof.

SPÖ und Gemeindebau: Die ärmeren Schichten driften zur FPÖ ab

Im Gemeindebau ist das Rote Wien an sein Ende gekommen. Die Fürsorgementalität der SPÖ rächt sich, die ärmeren Schichten wandern zur FPÖ ab.

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"Wenn wir einst nicht mehr sind, werden diese Steine für uns sprechen." Diese pathetisch-hoffnungsvollen Worte fand Karl Seitz, der legendäre Wiener Bürgermeister, anlässlich der Einweihung eines Wiener Gemeindebaus. Das war vor dem Zweiten Weltkrieg, und die Steine, die er meinte, sprechen längst nicht mehr für die Sozialdemokratie.

Wer dieser Tage der Frage nachgeht, warum so viele Gemeindebaubewohner und Schrebergartenbesitzer - einst klassische SPÖ-Klientel - bei den Wiener Landtagswahlen Blau wählten, riskiert bisweilen ruppige Reaktionen: "Ich habe den Eindruck, Sie ermitteln in eine nicht objektive Richtung", sagt etwa der Bezirksvorsteher der SPÖ in der Leopoldstadt, Karlheinz Hora. Die Sache tut der SPÖ in der Seele weh, die Funktionäre suchen Ausflüchte. Es erscheint ihnen rätselhaft.

Blick nach Kaisermühlen

Nehmen wir ein Grätzel in Kaisermühlen, jenen Bezirk über der Donau, in dem eine populäre ORF-Fernsehserie in den 1990er-Jahren spielte. Wenige Minuten Fußweg von einer U-Bahn-Station entfernt befinden sich hier der berühmte, derzeit eingerüstete Goethe-Hof aus 1929, die schlichten Hochhäuser des Marshallhofs aus den 1960er-Jahren und die 15 Jahre alten, strahlend weißen Harry-Seidler-Blöcke mit ihren gerundeten Loggien, vom Ufer der Donauinsel aus sichtbar. Alles Häuser in schönster Lage, zwischen Neuer Donau und Kaiserwasser gelegen. Die Wohnanlagen liegen dicht hintereinander. Ihre Bewohner teilen sich Supermärkte, Gasthäuser und öffentliche Verkehrsmittel und leben dennoch in unterschiedlichen Welten.

In den Gemeindebauten Goethehof und Marshallhof wohnen die ärmeren Leute: Müllmänner der Gemeinde Wien, Kellnerinnen, Taxilenker, Versicherungsvertreter, Hilfsarbeiter und Arbeitslose. Hier dominieren FPÖ-Wähler, während im Seidler-Bau, einer Genossenschaftsanlage, eine satte rot-grüne Mehrheit herrscht.

Im Goethehof auf Stiege 31 im ersten Stock öffnet ein verschmitzter weißhaariger Herr die Tür und führt uns in sein kleines Zuhause. Seit 1929 lebt der 88-jährige Georg Kudrna im Goethehof. Seine Beine sind schon etwas müde, aber auch die Genossen machen nicht mehr so mit. Vor acht oder neun Jahren hat er das letzte Mal die rote Fahne mit den drei Pfeilen am 1. Mai aus dem Fenster wehen lassen. Zwei einsame rote Stofffetzchen waren es - in der ganzen Anlage. Er sei sich blöd vorgekommen, sagt Kudrna. Und er hat es seither bleiben lassen.

Kudrna gehört zur aussterbenden Spezies der geborenen Sozialdemokraten. Sie wissen, was sie der Partei verdanken und was die Partei ihnen schuldet. Im Februar 1934 schmuggelte Kudrna als Volksschüler verbotene Flugblätter im Milchkännchen. Die Familie war zeitweise so bitterarm, dass die Kinder betteln gehen mussten. Kudrna würde nie etwas anderes wählen als SPÖ, obwohl ihm bisher niemand zur 70-jährigen Parteimitgliedschaft gratuliert hat.

Kudrna weiß nicht, was Michael Häupl besser machen könnte. Er weiß nur, dass die Jüngeren nicht wissen, was Armut ist, alles selbstverständlich nehmen und glauben, dass es ihnen zusteht. Er grämt sich, wenn jemand wegen eines fehlenden Parkplatzes die Partei verrät. Schuld seien nicht "die" Ausländer, sondern "dass wir Sozialdemokraten immer weniger werden", sagt Kudrna. Dabei ist der Goethehof gerade eingerüstet und wird runderneuert, wärmegedämmt und mit einem Lift versehen.

Auch Marshallhof wurde "blau"

Eine ähnliche Schlappe wie im Goethehof hat die SPÖ im nächstgelegenen Gemeindebau Marshallhof erlitten. Auch hier lag die Wahlbeteiligung bei beschämenden 50 Prozent, und die Mehrheit kreuzte FPÖ an. Der Marshallhof war ursprünglich für die Ärmsten gebaut worden, für die Bewohner einer Barackensiedlung auf dem Gelände der heutigen UNO-City. Zur Zeit seiner Eröffnung im Jahr 1961 gehörten die drei Blöcke zu den modernsten Hochhäusern Wiens. Die Wohneinheiten waren größer als im Goethehof und hatten Bad und Balkon. Der Marshallhof liegt in einem Park mit alten Bäumen, in dem heute auch Autos parken dürfen. Die Bewohner der höheren Stockwerke schauen auf die Donauinsel und die blutroten Sonnenuntergänge über der Leopoldstadt.

Diesen Blick teilen sie sich mit den besser situierten Bewohnern des Wohnparks Neue Donau, eines Genossenschaftsbaus, den der Architekt Harry Seidler entwarf, ein Emigrant von 1938, ein Schüler des Bauhaus-Gründers Walter Gropius. Marshallhof und Seidler-Bau sind vielleicht 50 Meter voneinander entfernt. Es führt keine Straße dazwischen durch. Doch die Seidler-Welt hat bei den Gemeinderatswahlen in absoluter Mehrheit Rot-Grün gewählt. Die Wohnungen hier sind teurer als im Gemeindebau, und der Baukostenzuschuss betrug im Jahr 1999 umgerechnet 35.000 Euro. Für eine Eigentumswohnung zahlt man heute hier 300.000 bis 400.000 Euro.

Durch ihre Lage teilen sich die Bewohner dieser drei Wohnanlagen fast alles - auch die U-Bahn-Station , die sie in fünf Minuten in die City bringt, doch nicht den Kindergarten. Jede Anlage hat ihren eigenen städtischen Kindergarten, und so gibt es auch keinen Kontakt der Erwachsenen untereinander.

"Die SPÖ befindet sich auf dem Weg zu einer Partei der Mittelschicht, und wir wollen es nicht wahrhaben", sagt der Simmeringer SPÖ-Bezirksparteichef und Nationalratsabgeordnete Harald Troch, dessen Bezirk jetzt einen freiheitlichen Bezirksvorsteher bekommen hat.

Was bedeutet das für die Traditionspartei der "Kleinen Leute"?

Schwierige soziale Durchmischung

Dass hier einiges schiefläuft. Die angepeilte soziale Durchmischung ist nicht so erfolgreich, wie sie sein sollte. Alt-und Neuverträge im Gemeindebau erzeugen Unmut. Wer eine Gemeindewohnung von den Eltern geerbt hat, zahlt eine billige Miete, auch wenn er selbst viel verdient. Für sozial Schwache wiederum sind die Mieten gar nicht so günstig: mehr als sieben Euro pro Quadratmeter inklusive Betriebskosten und Mehrwertsteuer. Ausländer beziehungsweise Neuösterreicher haben übrigens selten alte, günstige Mietverträge. Neid ist hier gänzlich unangebracht. Der Gemeindebau wurde erst im Jahr 2006 aufgrund einer EU-Richtlinie für Ausländer geöffnet.

Immer wieder flammt die Debatte auf, warum auch Besserverdienende im Gemeindebau wohnen und in die Mietverträge von Oma und Opa einsteigen können, warum die Stadt Wien auf die alljährliche Überprüfung des Einkommens verzichtet. Nach Ansicht der SPÖ-Abgeordneten Ruth Becher, die selbst im Goethehof groß geworden ist, hätte dies nur den Effekt, dass besser Verdienende sofort auszögen und die soziale Durchmischung noch schwieriger würde. Der Grün-Politiker Peter Pilz, der ebenfalls im Goethehof wohnt, pflichtet ihr aus vollem Herzen bei: "Noch mehr Politiker sollten im Gemeindebau wohnen, damit sie wissen, was los ist."

Einer, der es weiß, ist Günter Rech, Vorsitzender des Vereins der Mieterbeiräte für ganz Wien und selbst Gemeindebaubewohner. "Unsere sogenannten Einheimischen haben Jobs, in denen sie nicht gut verdienen", sagt Rech: "Die Frauen sitzen stundenweise an der Supermarktkassa, und bei den sogenannten Ausländern, meist schon Österreicher mit Migrationshintergrund, sind die Frauen oft überhaupt daheim, haben mehrere Kinder, sitzen etwa in der muslimischen Fastenzeit - dem Ramadam - noch spätabends im Hof und schnattern. Und das gibt Streit."

Laut Rech gibt es im Gemeindebau ein Grundmuster des Konflikts: Die Alteingesessenen rufen nach einer Autorität, die Regeln durchsetzt und Probleme löst - schlechte Bezahlung, Jobverlust, Flüchtlingsströme. Früher war das auch so. Die SPÖ besorgte Wohnung, Arbeit, Kindergarten und Lehrstelle, der Bürger im Austausch ein SPÖ-Parteibuch, und wenn er am Wahltag nicht erschienen war, wurde er vor Urnenschluss noch schnell zu Hause aufgesucht. Das geht heute nicht mehr, doch die Anspruchshaltung ist geblieben. Der Paternalismus rächt sich. Ist das ein Grund für Wählerschwund der SPÖ?

Christa   Zöchling

Christa Zöchling