Asylwerberinnen im Rahmen der Veranstaltung "Wien sagt: Welcome, Oida!".
Starthilferufe: Wie kommt die gesellschaftliche Eingliederung der Flüchtlinge voran?

Starthilferufe: Wie kommt die Eingliederung der Flüchtlinge voran?

Starthilferufe: Wie kommt die gesellschaftliche Eingliederung der Flüchtlinge voran?

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Man kann in die Geschichten der Einzelnen eintauchen. Da ist der 44-jährige IT-Techniker, dessen Frau und Töchter im Irak sind. Er kann vor Angst um sie nicht schlafen. Oder die Familie aus Afghanistan, die seit Monaten eine Wohnung sucht; wenn die Vermieter hören, woher sie sind, ist sie plötzlich schon vergeben. Oder der 21-jährige Syrer, der in Rekordzeit einen Studienplatz ergattert hat - er will Informatik studieren, weil das "Zukunft“ hat.

Genauso gut kann man versuchen, die Geschichte als Ganzes zu begreifen. 113.100 Menschen wanderten 2015 ein (netto), etwa die Hälfte von ihnen Flüchtlinge, 21.900 aus Syrien,18.600 aus Afghanistan, 10.000 aus dem Irak.

Zuerst brauchten sie ein Dach über dem Kopf, Decken, Essen, Verbandszeug, Medikamente, Zuspruch. 88.340 Asylanträge nahmen die Behörden im Vorjahr entgegen, 8380 von unbegleiteten Minderjährigen. 14.413 wurden als Flüchtlinge anerkannt, 2478 bekamen subsidiären Schutz, werden also trotz abgelehnten Asylantrags wegen Gefahr für Leib und Leben nicht abgeschoben. Sie alle bleiben im Land, vielleicht für immer, und brauchen nun Deutschkurse, Arbeit, eine Bleibe - sprich: Integration.

Das Wort ist in aller Munde. Im Wochentakt bringt die Debatte neue Facetten hervor: Werte, Deutschkurse, berufliche Qualifikationen, Ein-Euro-Jobs, Mindestsicherung, gemeinnützige Tätigkeiten, Arbeitsmarkt, Anstieg der Kriminalität, Burkas. Selten geht es um leistbaren Wohnraum und so gut wie nie um einen landesweiten Plan. Es gibt ihn bis heute nicht. Manchmal funktioniert Integration sogar, aber es könnte fast alles besser laufen.

Wohnen

Das größte Problem ist der Mangel an leistbarem Wohnraum. Darunter leiden alle, die nicht zu den Gutverdienern gehören, am allermeisten jedoch die Flüchtlinge, für die ab dem positiven Asylbescheid ein Countdown zu laufen beginnt.

4 Monate bleiben sie danach noch in der Grundversorgung, dann müssen sie aus ihrer Unterkunft ausziehen. "In dieser Zeit sollen sie Deutsch lernen, eine Arbeit finden und eine Wohnung. Das ist ohne Hilfe von außen nicht zu schaffen“, sagt Lydia Krob vom Integrationshaus in Wien.

Elisabeth Jama leitet die Wohnberatung der Diakonie in Wien, wo jede Woche die Verzweifelten Schlange stehen. Nur noch selten melden sich Privatleute, die ein Zimmer oder ein Haus auf dem Land zu vergeben haben. "Auf dem freien Markt aber sind die Leute völlig verloren“, sagt Jama. Oft machen die Vermieter kein Hehl daraus, dass sie Afghanen, Kopftücher, überhaupt Fremde nicht ausstehen können; mindestens so oft scheitert die Wohnungssuche an den zu zahlenden Beträgen für Kaution und Maklergebühren. Private Initiativen wie der Lions Club sammeln Geld, um Flüchtlingen über diese Hürde zu helfen. Manchmal strecken NGOs die Mittel vor. Einigen gelingt es, das Geld im Verwandtenkreis aufzutreiben. Doch dann stehen sie erneut an. Da sich ein Gehalt pfänden lässt, die Mindestsicherung aber nicht, wollen die Vermieter einen Lohnzettel sehen. Einen solchen haben Flüchtlinge oft noch nicht.

Mittlerweile machen sich Mietbetrüger diese Not zunutze. Sie treten als Makler auf, kassieren 2000 Euro Provision für ein Objekt, das gar nicht existiert, oder preisen um

400 Euro einen Platz in einer Wohngemeinschaft an, der sich als schmutziges Bett in einem Abbruchhaus entpuppt. 30 derartige Fälle haben die Wohnberaterinnen dokumentiert. Der Gemeindebau bleibt für Flüchtlinge verschlossen. Die Stadt Wien verlangt fünf Jahre Aufenthalt, davon zwei Jahre durchgängig an einer Adresse. Auch Oberösterreich machte einen fünfjährigen Aufenthalt zur Bedingung für den gemeinnützigen, geförderten Wohnbau. Genossenschaftsbauten scheiden oft wegen der erforderlichen Eigenmittel aus.

Der Integrationsminister fühlt sich für das Thema nicht zuständig und zeigt auf die Bundesländer. 5000 Startwohnungen in Wien, Oberösterreich und der Steiermark, einfach ausgestattet und mit Klo auf dem Gang, gab der Österreichische Integrationsfonds (ÖIF) vor Jahren an die Bundesimmobiliengesellschaft zurück, die einen Teil des Bestands veräußerte. Der fehlende Wohnraum wurde durch keinerlei Starthilfen wie zinslose Darlehen kompensiert. Das ist der blinde Fleck einer Integrationspolitik, die auf Deutschkenntnisse fokussiert - als wäre das Massenquartier oder das Sofa eines Bekannten ein Ort zum Vokabellernen.

Seit dem Sommer des Vorjahres entstanden quer durch Österreich mehr als 50.000 Quartiersplätze. Zwei Drittel der Gemeinden beherbergen inzwischen Flüchtlinge. Ein Drittel davon hofft laut einer Studie des Gemeindebunds, auf Dauer bleiben zu können. Doch das Gros zieht in die Städte, wo die Werkstätten für Kompetenz-Checks, AMS-Maßnahmen und Community-Netzwerke sind. Zwei von dreien landen in Wien, wo 20.600 Asylwerber noch in Grundversorgung sind.

Auch ohne sie wächst die Stadt bereits; in zehn Jahren dürften hier zwei Millionen Menschen leben. Zwar entstehen jährlich zwischen 6000 und 8000 neue Wohnungen, doch Fluchtbewegungen haben die Bedarfsplaner seinerzeit nicht eingerechnet. Es werden Rufe laut, den Leerstand zu aktivieren. Laut Schätzungen stehen in Wien zwischen 30.000 und 100.000 Wohnungen leer.

So absurd es klingt: Freie Quartiere gibt es derzeit vor allem in der Grundversorgung. Vor dem großen Zustrom waren österreichweit 18.000 Menschen darin untergebracht. Danach vervierfachte sich die Zahl (aktueller Stand: 83.600).

67.300 davon befinden sich derzeit noch in einem offenen Verfahren.

Allmählich aber reduziert sich die Zahl der Asylanträge. In der ersten Jahreshälfte 2015 wurden rund 37.000 gestellt, heuer sind es 28.765 (Stand: Ende Juli 2016). Laut NGO-Kreisen könnten bald bis zu 10.000 Plätze überflüssig sein. Allein in Oberösterreich stehen jetzt schon 900 Plätze leer. Da anerkannte Flüchtlinge gleichzeitig händeringend auf dem freien Markt eine Bleibe suchen, verlängerte das schwarz-blau regierte Bundesland Anfang Juli die Verschnaufpause in der Grundversorgung auf zehn Monate.

Schnellere Verfahren

Gleichzeitig wurden die Asylbehörden aufgestockt. Nun beginnt die oft eingemahnte Beschleunigung der Verfahren zu greifen. Etwa

70.000 Causen sollen heuer abgearbeitet werden, nächstes Jahr sogar 100.000. Das ist eine gute Nachricht; sie hat jedoch ihre Schattenseite. Erstens profitieren nicht alle Asylwerber davon, wie Integrationshaus-Mitarbeiterin Krob beobachtet: "Wir haben Tschetschenen, für die sich seit vier, fünf Jahren im Verfahren nichts bewegt.“ Zum anderen lassen schnellere Verfahren den Menschen noch weniger Zeit für ihren Neubeginn.

Dass sie in dieser kritischen Phase von einer Beratungsstelle zur nächsten hetzen, um einen Deutschkurs zu bekommen, den Führerschein umschreiben zu lassen, Kinder im Hort unterzubringen und Hunderte von Erkundigungen einzuholen, ist Symptom einer Krankheit: Der Staat ist unfähig, eine auf den Einzelnen abgestimmte Starthilfe zur Verfügung zu stellen. "Bund, Länder, Gemeinden - jeder macht, was er will. Lebenswege hängen oft davon ab, ob man an einen frustrierten Beamten gerät oder an einen, der es gut meint. Es ist, nüchtern betrachtet, zum Verzweifeln“, klagt Reinhard Hundsmüller, Generalsekretär des Arbeitersamariterbunds.

So haben etwa Mitarbeiter der Bezirkshauptmannschaften freie Hand, sogenannte Bemühungspflichten auszulegen. Einmal drohen sie einem Afghanen, der sich mitten in einer Trockenbau-Ausbildung befindet, mit Streichung der Mindestsicherung, sollte er nicht schleunigst "zehn sinnvolle Bewerbungen“ vorlegen. Das nächste Mal halten sie sich an den AMS-Chef Johannes Kopf, der in einem "Kurier“-Interview meinte, es habe keinen Sinn, Asylberechtigte rasch in Hilfsarbeiterjobs zu drängen: "Wir müssen ihnen Ausbildung und Perspektive bieten, sonst sind sie sofort wieder arbeitslos.“

Man müsste eine sinnvolle Starthilfe nicht erfinden, man könnte sie abkupfern. In Kanada etwa bekommen Flüchtlinge einen Integrationslotsen zur Seite gestellt, der in allen Lebenslagen hilft. Der Effekt: Nach einem Jahr erhält sich ein großer Teil der Neuankömmlinge selbst und zahlt brav Steuern. Was ist mit jenen, die nicht voll arbeitsfähig sind? In Oberösterreich fällt demnächst ein halbseitig gelähmter Kriegsversehrter aus der Grundversorgung. Danach muss er mit einer auf 540 Euro im Monat zusammengestrichenen Mindestsicherung überleben. "Es kann mir niemand erklären, wie das gehen soll. In den Missbrauchsdebatten wird auf schwächere Gruppen vergessen“, sagt Christian Schörkhuber, Leiter der Flüchtlingshilfe der Volkshilfe in Oberösterreich.

Arbeit

Ende Juli registrierte das Arbeitsmarktservice (AMS) 15.325 anerkannte Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigte als arbeitslos - eine Steigerung von 26 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Weitere 9843 befanden sich in Schulung. Interessantes Detail: In der Gruppe jener, die 2015 Asyl oder subsidiären Schutz bekamen, hat inzwischen jeder Zehnte einen bezahlten Job. Angesichts der notorischen Schwierigkeiten, die Flüchtlinge zu bewältigen haben, etwa bei der Anerkennung von beruflichen Fähigkeiten, "ist das eigentlich erstaunlich“, sagt Norbert Bichl von der Beratungsstelle für Migranten in Wien.

Die Arbeitsfähigkeit der Neuankömmlinge hängt nicht nur vom Deutsch-Niveau und ihren Qualifikationen ab, sondern auch davon, wie sie mit Verlusten und Enttäuschungen fertigwerden. Nicht wenige sind traumatisiert. Doch während für Polizei und Bundesheer Mittel losgeeist wurden, gibt es für psychosoziale und therapeutische Angebote kaum mehr Geld. Das führe zu Frust bei Sozialarbeitern und Therapeuten und werde sich in höheren Sozialkosten niederschlagen, warnen Integrationsexperten: von häufigeren Krankheiten über höhere Arbeitslosigkeit bis zu mehr Kriminalität.

Zumindest bei den Deutschkursen wurde nachgebessert. In Wien gibt es bis Ende des Jahres auch für Asylwerber mit noch offenen Verfahren 3000 Plätze, im nächsten Jahr soll das Angebot flächendeckend ausgebaut werden. Integration von Anfang an, lautet die Devise. Ähnliche Initiativen setzen auch die Bundesländer, wo ein großer Teil der Asylwerber auf die Unterstützung von Freiwilligen angewiesen ist. Fast in jedem Ort, in dem ein Quartier aufsperrte, bildete sich eine Plattform, die - unbeachtet und unbedankt - genau das leistet, was der Staat verabsäumt: individuelles Integrationscoaching ohne föderale Kleingeistigkeit.

Tülay Tuncel arbeitet bei der Wirtschaftsagentur der Stadt Wien und hilft Flüchtlingen, sich selbstständig zu machen. Sie berät beispielsweise Tierärzte auf dem Weg zur eigenen Praxis oder Seifenfabrikanten, die ihre in Syrien zerbombte Produktion in der Diaspora neu aufbauen. Im Februar standen die ersten geflüchteten Syrer vor ihrer Tür. Manche kamen mit fertigen Businessplänen, andere mit Dutzenden Fragen. Auch in den Bundesländern werden Gründerprogramme aufgesetzt, in Oberösterreich etwa mit Blick auf ländliche Abwanderungsgebiete: "Wenn die Flüchtlinge in kleinen Orten einen Frisörladen oder eine Greißlerei aufmachen können, gibt es eine reelle Chance, dass sie bleiben“, sagt Cornelia Broos, Leiterin der Abteilung Integration der Volkshilfe Oberösterreich.

Die von Integrationsminister Sebastian Kurz vergangene Woche geforderten Ein-Euro-Jobs lösen hingegen Stirnrunzeln aus. Tenor: Zur Überbrückung ja, mittelfristig schaffen sie aber mehr Probleme, als sie lösen. Stichwort: Verdrängung auf dem Arbeitsmarkt, Lohndumping, Stigmatisierung. Integrationsexperten sähen es lieber, wenn Asylwerber nach sechs Monaten normal arbeiten dürften. Auch die auf Regierungsebene diskutierte Wohnsitzpflicht für Flüchtlinge, die ihr Leben mit Mindestsicherung bestreiten, stößt auf Skepsis. Kann man Menschen damit in der Peripherie festnageln? AMS-Chef Kopf möchte anerkannte Flüchtlinge in die westlichen Regionen des Landes und in Berufsfelder steuern, in denen Mangel herrscht. Österreichweit einheitliche Sätze bei der Mindestsicherung wären dabei hilfreich. Tatsächlich verstärkten die Kürzungen bei der Mindestsicherung etwa im schwarz-blau regierten Oberösterreich den Zug nach Wien.

Bildung

11.000 Flüchtlingskinder saßen Ende März in den heimischen Pflichtschulen, rund 2000 in weiterführenden Schulen. Plötzlich mussten sich Volksschullehrerinnen darüber den Kopf zerbrechen, warum Achtjährige ständig Bauchweh haben. Seminare zu Traumata und Flucht, wie sie die Pädagogischen Hochschulen nun vermehrt anbieten, füllten sich, erzählt die Migrationsforscherin Barbara Herzog-Punzenberger. Das Unterrichtsministerium stellte ein mobiles Team von Sozialpädagogen und Psychologinnen zusammen, das in Schulen aushilft. Das Deutschlernen ist noch nicht zufriedenstellend gelöst. An manchen Standorten gehen Flüchtlingskinder jeden Tag für zwei Stunden aus der Klasse, was dem Gemeinschaftsgefühl schadet. An anderen ist der Sprachunterricht auf zwei Tage in der Woche konzentriert. "Viele Kolleginnen sind frustriert, wie langsam das Deutschlernen vor sich geht“, erzählt eine Lehrerin aus Wien. Migration ist zwar nicht neu, in der Ausbildung der Pädagoginnen kam Deutsch als Fremdsprache bisher aber nur als Freifach vor. Das Unterrichtsministerium stellte Materialien online. Vieles schafften die Kollegen privat an, "mehrsprachige Märchenbücher etwa oder Bücher, in denen Fluchten verarbeitet werden“, erzählt die Lehrerin. Sie kann der Entwicklung viel Gutes abgewinnen: "Wenn Pädagogen anstehen, werden sie offener für Neuerungen.“

Kriminalität

Wie aus Polizeikreisen zu hören ist, steigt die Zahl der Anzeigen gegen Asylwerber und Flüchtlinge. In der jüngsten Kriminalstatistik bildet sich der Flüchtlingsstrom des Vorjahres noch nicht ab. Im Vorjahr sanken die Strafanzeigen von 527.692 Fällen im Jahr 2014 auf 517.870 Fälle. Es wurden 92.804 fremdländische Tatverdächtige gezählt, darunter 14.458 Asylwerber. Aktuellere Zahlen werden in einigen Monaten erwartet. Sie wären freilich schwer zu deuten, denn gleichzeitig ist zu hören, dass inzwischen beim geringsten Fehlverhalten von Asylwerbern die Polizei gerufen wird. Ein realistisches Bild wird man sich also erst anhand der Verurteilungsstatistik machen können. Sicher aber hat 2015 den Fokus der Polizeiarbeit verschoben. Vor wenigen Jahren noch beherrschte Cybercrime die Europol-Agenda, inzwischen sind Schlepperkriminalität, Terrorismus und rechtsextreme Straftaten quer durch Europa nach oben gerückt. Auch hierzulande nahmen rechtsextreme und fremdenfeindliche Delikte zu:

von 750 im Jahr 2014 auf 1156 im Vorjahr.

Eigentumsdelikte, Erpressungen und Gewalt häufen sich laut Polizeiexperten mit Verzögerung, wenn Einwanderer sesshaft werden, und abhängig von ihrer Eingliederung.

An dem Merkmalsbündel, das als Risikofaktor für Kriminalität schlechthin gilt, hat sich durch die Einwanderung des Vorjahres jedenfalls nichts geändert. Es lautet: jung, männlich, arbeitslos.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges