IS-Kämpfer in Libyen

Wie werde ich Dschihadist?

Wie werde ich Dschihadist?

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Es gibt wenig Menschen, die sich im Figurenkabinett des Verbrechens so gut auskennen wie Gabriele Wörgötter. Mörder, Vergewaltiger, Brandstifter, notorische Einbrecher und Heiratsschwindler saßen schon in ihrer Praxis in Wien. Die forensische Psychiaterin untersuchte sie nach allen Regeln ihrer Kunst, um herauszufinden, ob die Männer und Frauen bei ihren Taten bei Sinnen waren oder ein innerer pathologischer Drang sie dazu getrieben hat, zuzustechen und Feuer zu legen.

Menschen, die im Namen Allahs Angst und Schrecken verbreiten, fielen bisher nicht in ihr Spezialgebiet. Die Justiz geht davon aus, dass Terror-Verdächtige radikalisiert und ideologisch verblendet sind, aber nicht psychisch gestört. Psychiatrische Gutachten werden in Dschihadisten-Prozessen deshalb in der Regel nicht bestellt. Nur wenn junge Menschen vor Gericht stehen, kommen Sachverständige wie Wörgötter ins Spiel.

Vier Mal war sie in den vergangenen Jahren damit betraut, zu klären, ob Heranwachsende reif genug waren, zu erkennen, worauf sie sich einließen, als sie im Internet mit Maschinengewehren posierten, Ungläubigen mit dem Abschlachten drohten, zum Kämpfen nach Syrien gingen oder planten, eine Bombe zu zünden. Einer der Terrorismus-Verdächtigen kam mit seiner Mutter in ihre Ordination, zwei wurden aus der Haft vorgeführt, einen Burschen musste sie im Spital untersuchen, wo er sich von einem psychischen Zusammenbruch erholte. Einer der Burschen war erst 14.

Gutachterin Gabriele Wörgötter: "Versprechungen, die auf normalem Weg nicht einzulösen sind: Haus, Frauen, Ruhm, ewiges Glück."

Die Öffentlichkeit blieb meist ausgeschlossen, wenn sie ihre Befunde dem Gericht darlegte. Der Schutz der Privatsphäre ging vor. Dabei hütet Wörgötter inzwischen ein Wissen, das in Schulen, Spitälern und Beratungsstellen dringend gebraucht wird. Es dürfte sich herumgesprochen haben, dass viele Wege in die Radikalisierung führen und es keinen verlässlichen Pfad heraus gibt. Für die mörderische Ideologie der Terrormiliz "Islamischer Staat“ (IS) entflammen Muslime ebenso wie Konvertiten, Intelligente wie weniger Begabte, Kinder aus der Mittelschicht und aus sozial benachteiligten Familien. Der Blick der Psychiaterin aber geht tiefer. Über Kindheitserlebnisse, Ängste und Krankheiten, beiläufig gemachte Bemerkungen, deren Bedeutung sich selbst für die erfahrene Seelenforscherin erst nach und nach herausstellte, darf sie im Detail nicht sprechen, sehr wohl aber über Ähnlichkeiten, die sie im Laufe der Zeit entdeckte. "Am Anfang hat es so ausgesehen, als wäre jeder begutachtete Fall völlig anders, doch es gibt Muster.“

Ein Bursche erzählte bereitwillig, wie gut es ihm getan habe, etwas gefunden zu haben, an das er glauben kann, wie leicht es war, über die Türkei nach Syrien zu gelangen, weder Zäune noch Soldaten hätten ihn aufgehalten. Die Sachverständige rekonstruierte zerbrochene Familien aus behördlichen Aufzeichnungen, hob Krankengeschichten aus, bat Eltern zu sich und redete mit Sozialarbeitern, bis sich die Nebel lichteten "und plötzlich völlig klar war, wo die Jugendlichen abgeglitten sind“. Wörgötter geht es nicht darum, Schuldige an den Pranger zu stellen, sondern darum, Lehren für die Zukunft zu ziehen.

Im Nachhinein zeigt sich, dass jede Radikalisierung von Versäumnissen begleitet wird.

Ein Dreh- und Angelpunkt der Dschihadisten-Biografien sind die Väter. Sie waren in allen vier Fällen abhandengekommen und hatten Lücken hinterlassen, "die in einer Kultur, in der Frauen keinerlei Autorität zugestanden wird, von den Müttern schwer zu füllen sind“, sagt die Psychiaterin. Natürlich sind umgekehrt nicht alle, denen ein Vater fehlt, schon auf halbem Weg in den Dschihad. In Wörgötters Ordination saßen Kinder aus noch ärgeren Verhältnissen als die von ihr begutachteten Terrorismus-Angeklagten. Einige wurden kriminell, manche zerbrachen seelisch, andere erfingen sich und führten ein paragrafentreues, unauffälliges Leben.

Doch im Nachhinein zeigt sich, dass jede Radikalisierung von Versäumnissen begleitet wird. Ein 14-Jähriger, der vorgehabt hatte, einen Wiener Bahnhof zu sprengen, war trotz normaler Begabung in die Sonderschule abgeschoben worden. Im Internet sprang den Burschen, der es über die Jahre nicht mehr ertrug, als Depp verspottet zu werden, die IS-Propaganda an: Wir brauchen dich, werde zum Rächer, sei ein Held!

Gesteigertes Selbstwertempfinden, großartige, oft radikale Ideen und Sinnsuche gehören zur Pubertät. Hassprediger haben für Menschen, die in dieser Zeit verloren gehen, mitunter feinere Antennen als Lehrer oder Sozialarbeiter. Ihr sinistres Metier ist es, Demütigung in Verachtung zu verkehren, bis irgendwann sogar das Töten leicht erscheint: Es sind ja keine Menschen, bloß Ungläubige. "Ein Jugendlicher, dem man respektlos gegenübertritt, rächt sich, und diese Gruppe neigt dazu, sich sehr heftig zu rächen“, beobachtet Rechtsanwalt Rudolf Mayer, der den 14-jährigen Bombendroher vorGericht verteidigte. Begierig saugte sein Mandant das Gift derIS-Ideologen auf, wähnte sich auserkoren - so wie auch die anderenbegutachteten Jugendlichen -, auf der Seite der Guten gegen die Bösen in den Kampf zu ziehen, "angespornt von Versprechungen, die auf normalem Weg kaum einzulösen sind, ein Haus, Frauen, Ruhm und ewiges Glück“ (Wörgötter).

Niemand achtete auf den durchschnittlich begabten Buben, der in der Sonderschule litt.

Normalerweise lernen heranwachsende Männer, ihre Faszination für Gewalt und verbotene, destruktive Wünsche zu kanalisieren, etwa, indem sie sich in überschaubare Abenteuer stürzen. Warum kippt ein Teil in Extremismus? In Wörgötters Begutachtungen zeigt sich, "dass in den ersten drei entscheidenden Lebensjahren der Schutz von Bezugspersonen und haltgebende Strukturen fehlte“. Spult man die Biografien an ihre Anfänge zurück, landet man bei Vernachlässigungen, Misshandlungen, dramatischen Erlebnissen auf der Flucht. Danach kann immer noch alles gutgehen. Früh gestörte Kinder können in einem Heim, bei Pflegeeltern oder in einer Flüchtlingsunterkunft die nötige Sicherheit finden, um nachzureifen und zu lernen, sowohl die eigene Not als auch die Schmerzen der anderen wahrzunehmen. Doch viel zu oft geht an den entscheidenden Stellen einiges schief.

Niemand achtete auf den durchschnittlich begabten Buben, der in der Sonderschule litt. In einem anderen Fall übersah das Jugendamt, dass das scheinbar unauffälligste von mehreren Kindern in Wahrheit ziemlich auffällig war. Als der Jugendliche, der mit Religion nie etwas anfangen konnte, über Nacht zum Islam konvertierte, zuckten die Referenten mit den Achseln. Im Fall eines jungen Afghanen, der mit seinen Eltern mit neun Jahren nach Österreich gekommen war und hier nach kurzer Zeit als guter Schüler auffiel, waren nur die neuen Brüder im wahren Glauben da, als ihn die Schrecken der Vergangenheit einholten und er begann, sich von seiner Umwelt zurückzuziehen. Er schloss sich in einer berüchtigten Moschee einer Gruppe von IS-Rekruten an. Oder: Ein Lehrer drückte einer türkischen Mutter einen Folder in die Hand, als sie erzählte, dass ihr Bub mit Steinigung drohe, weil sie kein Kopftuch trage. Dass sich die Frau, die weder schreiben noch lesen kann und kaum ein Wort Deutsch versteht, vielleicht nicht alleine in eine Beratungsstelle traut, hatte er nicht bedacht. In ihrer Not schickte die Türkin den Buben zu einem Onkel, dessen Lektion darin bestand, dass er ihn verprügelte.

Es gibt professionelle Unterstützung, wenn Familien nicht weiter wissen. Doch mitunter sind auch dafür die Hürden zu hoch. Wer springt ein, wenn Mütter und Väter wegbrechen, ohne laut um Hilfe zu rufen? Die Soziologin Edit Schlaffer arbeitet mit Frauen wie Achia el-Wafi, Mutter von Zacarias Moussaoui, der als Ersatzmann für den Anschlag vom 11. September 2001 von einem US-Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. el-Wafi war von ihrem Mann als junge, ungebildete Braut nach Frankreich geholt worden, die Ehe ein gewalttätiges Desaster. Sie verließ ihn, nachdem er versucht hatte, sie aus dem 11. Stock zu stoßen. Ihr Bub war bereits auf der Welt. Auf Podien zu Deradikalisierung ezählt el-Wafi, wie sehr sie sich bemüht habe, aus Zacarias einen guten Staatsbürger zu machen. Als er später nach England ging, um dort zu studieren, fiel er Rekrutierern in die Hände. "Wir lernen gerade, dass es manchmal diesen einen Funken mehr braucht, um genau hinzuschauen. Mit Routine sind die Fälle nicht abzudecken“, sagt Andreas Zembaty vom Verein Neustart. Die Bewährungshilfe hatte den 14-jährigen verhinderten Bombenattentäter mit Auflagen aus der U-Haft geholt. Eine davon war der regelmäßige Schulbesuch. Dass die Sonderschule für ihn der Ort seiner größten Demütigung war, hatte man auch hier nicht registriert.

Man macht es sich auch zu leicht, wenn man sagt, es sind Gesetzesbrecher. Das stimmt zwar. Aber wir kommen nicht darum herum, uns damit zu beschäftigen, welche gesellschaftlichen Bedingungen das ermöglichen.

In Wörgötters Praxis liegen die wunden Punkte oft nach wenigen Sätzen offen da. "Man kann eine Äußerung am Anfang vielleicht nicht deuten, aber nach zwei, drei Stunden denkt man plötzlich: Genau, das war es!“, sagt sie. Vor Gericht zeigen sich die von ihr begutachteten Burschen durch die Bank zerknirscht. Ist das echte Reue oder bloß ein hohles Versprechen, mit dem sich die Behörden zufriedengeben, weil ihnen nichts Besseres einfällt? Die Helden, welche die Burschen zu werden hofften, wurden verpetzt, an einer Grenze geschnappt oder im Dschihad verletzt und finden sich nun - so oder so gescheitert - in der Rolle der verfolgten Anti-Helden wieder. Sie landen im Gefängnis, dem Ort schlechthin, um Ausgrenzung zu erfahren. Demütigungen aller Art gehören zum Alltag. Ein besserer Nährboden für Radikalisierungen lässt sich kaum finden.

Einsperren ist keine Lösung, Nicht-Einsperren das falsche Signal. "Die Frage ist jedoch, was passiert in der Haft und wie geht es danach weiter“, sagt Wörgötter. Vor Gericht wird sie manchmal gefragt, wie ein radikalisierter Mensch am schnellsten wieder umzupolen wäre. Die Psychiaterin muss passen: "Der Gehirnwäsche der Radikalisierer haben wir nichts entgegenzusetzen.“ Es bräuchte intensive Therapien, oft über Jahre, um mit der Kränkung und den immensen Schuldgefühlen, seine Aufgabe nicht erfüllt zu haben, fertigzuwerden. Und wofür lässt sich ein Jugendlicher noch begeistern, der bereit war, zu töten und sein Leben für eine vermeintlich gerechte Sache wegzuwerfen? Ein 17-jähriger Konvertit, der in Syrien verwundet worden war, erzählte im Gerichtssaal, 400 junge IS-Rekruten seien gefragt worden, wer für Selbstmordanschläge zur Verfügung stehe. 70 hätten sich gemeldet. Diese Lebensverachtung macht selbst die erfahrene Gerichtssachverständige fassungslos: "Über ihren Selbstwert sagt das alles: Hier im Leben zähle ich nicht, erst wenn ich mich in die Luft sprenge, bin ich wer.“

Einer der Burschen, der wegen Anschluss an eine terroristische Vereinigung ins Visier der Ermittler geriet, fiel nach seiner Festnahme in eine tiefe Depression und wurde ins Spital eingeliefert. Keine Schule will ihn mehr nehmen. Ein anderer kam bedingt aus dem Gefängnis frei und macht eine gerichtlich angeordnete Therapie. Beim dritten wurde überlegt, ihn zum Vater zurückzubringen, mit dem seine Krise anfing. Man mache es sich zu leicht, wenn man radikalisierte Jugendliche als psychisch Kranke abtue: "Das sind sie nicht“, sagt Wörgötter: "Man macht es sich auch zu leicht, wenn man sagt, es sind Gesetzesbrecher. Das stimmt zwar. Aber wir kommen nicht darum herum, uns damit zu beschäftigen, welche gesellschaftlichen Bedingungen das ermöglichen.“ Sozialarbeiter sagen, Jugendliche brauchen glaubwürdige Figuren, zu denen sie aufschauen können, die sich ernsthaft mit ihnen auseinandersetzen, auch über Menschenrechte und Geschlechterrollen. "Eine grundsätzliche Überzeugung, dass alle Frauen und Männer gleich sind, macht widerstandsfähig gegen Ideologien wie jene des IS“, meint der Kinder- und Jugendanwalt Ercan Nik Nafs. Es braucht einen langen Atem, um Jugendliche zurückzuholen, sagt Manuela Synek, Leiterin der mobilen Jugendeinrichtung Backbone. Ihr Rezept ist mühsam, aber vielleicht das einzige, das wirkt: "Dranbleiben, egal, was passiert, und sich nicht fürchten.“ Hassprediger machen es auch so.

Edith   Meinhart

Edith Meinhart

ist seit 1998 in der profil Innenpolitik. Schreibt über soziale Bewegungen, Migration, Bildung, Menschenrechte und sonst auch noch einiges